Die Flora und Fauna der Polarregionen
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WOR 6 Arktis und Antarktis – extrem, klimarelevant, gefährdet | 2019

Das Leben im Meer

Das Leben im Meer © Expedition Gombessa 3, © Laurent Ballesta

Das Leben im Meer

> Die Arten­vielfalt und Produktivität der Polar­meere grenzen fast an ein Wunder. Die Lebens­beding­ungen im Nord- und Südpolar­meer sind von außen betrach­tet alles andere als vorteilhaft. Das konstant kalte Wasser bremst das Wachs­tum und nahezu jede Bewegung wechselwarmer Organismen. Nahrung steht nur im kurzen Sommer zur Verfügung, dann jedoch im Überfluss. Die polaren Meeres­be­woh­ner aber kompensieren diese Einschränkungen durch einzigartige Anpas­sungs­mechanismen, von denen es in der Antarktis jedoch deutlich mehr gibt als in der Arktis.

Im Rhythmus von Licht und Eis

Wie die Landflächen der Polarregionen gelten auch die Meere als extreme Lebensräume. Das Südpolarmeer und der Arktische Ozean weisen die kälteste und konstanteste Wassertemperatur der Weltmeere auf. Diese steigt die meiste Zeit des Jahres nicht über die Null-Grad-Grenze und schwankt jahreszeitlich bedingt in der Regel um weniger als fünf Grad Celsius. In sehr weit südlich gelegenen Meeresregionen wie dem McMurdo Sound, einer Bucht des antarktischen Rossmeers, betragen die Temperaturunterschiede zwischen Sommer und Winter sogar weniger als 0,5 Grad Celsius. Die Bewohner dieses Gebiets müssen demzufolge das ganze Jahr hindurch mit sehr kalten Umgebungstemperaturen zurechtkommen. Die meiste Zeit ist das Wasser minus 1,8 Grad Celsius kalt. Die Polarmeere sind aber auch stärker als alle anderen Meere durch den Wechsel der Jahreszeiten geprägt. Im Sommer geht die Sonne nicht unter, im Winter dagegen herrscht monatelang ununterbrochen Dunkelheit.
Mit diesem Wechsel zwischen Polartag und Polarnacht gehen existenzielle Veränderungen im Nord- und Südpolarmeer einher. Meereis bildet sich und bedeckt im Winter einen Großteil der Meeresflächen, bevor es im Sommer wieder auf seine Minimalfläche zusammenschmilzt. Das Kommen und Gehen von Licht und Meereis bestimmt den Rhythmus des Lebens in den Polarregio-nen. Wo im Sommer das Meereis aufbricht, fällt endlich wieder Sonnenlicht in die oberen Wasserschichten und regt das Algenwachstum an. Gleichzeitig entlassen die schmelzenden Schollen Mikroorganismen und andere eisassoziierte Lebewesen sowie Spurenelemente wie Eisen in das Wasser, welche zuvor im Eis eingeschlossen worden sind oder sich den Winter über in Form von Staub (Spurenelementen) auf der Eisdecke abgelagert haben.

Meiofauna
Die Meio- oder auch Mesofauna ist eine Größenkategorie der Bodenfauna. Zu ihr zählen alle Boden­organismen mit einer Größe von ungefähr 0,05 bis einem Millimeter. Tiere, die kleiner sind, werden der Mikrofauna zugeordnet; größere Organismen der Makrofauna, solange diese nicht größer als 20 Millimeter werden.

Sonnenlicht, Eisen und andere im Wasser enthaltene Nährstoffe wie Stickstoff, Phosphor und Siliziumverbindungen initiieren im Frühjahr und Sommer große Algenblüten, die den Grundstein für die Nahrungsnetze der Polarmeere bilden. In der Antarktis erreicht die Algendichte in küstennahen Gewässern in Spitzenzeiten Werte von 30 Milligramm Chlorophyll pro Kubikmeter Wasser. Im Winter dagegen finden sich an gleicher Stelle so wenige Algen, dass der Chlorophyllgehalt des Wassers auf ein Minimum von unter 0,01 Milligramm pro Kubikmeter sinkt. So groß sind die jahreszeitlichen Unterschiede in der Biomasseproduktion in keinem anderen Meer der Welt, denn im Herbst und Winter bremst die Meereis­bildung das Leben im Meer. Wenn sich die Meeresober­fläche abkühlt und zu Eis gefriert, sind wichtige Nährstoffe wie Eisen in der Regel durch das Algenwachstum im Sommer aufgebraucht. Alle restlichen Stoffe sinken unter anderem durch die thermohaline Zirkulation der Wassermassen bis zum Meeresboden. Das heißt, in den oberen Metern der Wassersäule verbleibt so gut wie keine Nahrung mehr. Algen stellen das Wachstum ein, die Primärproduktion versiegt. Das Meereis schirmt die Wassersäule aber auch gegen den Wind ab und verhindert auf diese Weise, dass die oberen Wasserschichten durchmischt werden. Die fehlenden Verwirbelungen wiederum führen ebenfalls dazu, dass Algen, Kot und andere in der Wassersäule schwebende Partikel zum Meeresboden hinabsinken und den Nahrungsgehalt in der Wassersäule daher dramatisch reduzieren.
Für die meisten Bewohner der Polarmeere bedeutet die saisonale Abfolge von Licht und Eis den steten Wechsel von Zeiten des Überflusses und Zeiten des Hungers. Hinzu kommt, dass vor allem die am Grund der Schelfmeere siedelnden Organismen immer mit der Gefahr leben, dass treibende Eisberge oder aber im Flachwasserbereich aufliegendes Meereis ihren Lebensraum zerstören. Wenn in der Antarktis ein Eisberg über den Meeresboden pflügt, sterben mehr als 99,5 Prozent der ansässigen Makroorganismen und mehr als 90 Prozent der kleineren Meiofauna. Ein Eingriff, der in eisbergreichen Gewässern mehr als einmal pro Jahr vorkommen kann, weshalb die Lebensgemeinschaften in solchen Störungszonen meist sehr jung sind und den Meeresboden nur fleckenartig besiedeln.
4.22 > Seeelefanten, Königspinguine und andere Seevögel wie Sturmvögel und Albatrosse säumen das Ufer der Saint Andrews Bay an der Nordküste Südgeorgiens. Die Pinguine bilden hier Brutkolonien mit bis zu 100 000 Tieren.
Abb. 4.22 © Paul Nicklen

Eine Frage des Eisens

Trotz vieler Gemeinsamkeiten sind die Meeresfaunen in der Arktis und Antarktis nicht identisch, was unter anderem an der unterschiedlichen Versorgung mit Nährstoffen und Spurenelementen liegt. Während im hohen Norden Flüsse große Mengen Schwemmmaterial in die Randmeere eintragen und den Arktischen Ozean auf diese Weise mit dem lebenswichtigen Eisen versorgen, fehlen im tiefen Süden derart verlässliche Lieferanten. Die Wassermassen des Südpolarmeers sind zwar nährstoffreich, an Eisen aber mangelt es nahezu überall. Algenblüten entstehen deshalb überwiegend in zwei Regionen: zum einen in küstennahen Gewässern oder Polynien, wo Eisen zum Beispiel durch Schmelzwasser von Gletschern eingetragen wird; zum anderen an den Rändern der Kontinentalplatte, wo eisenhaltiges Wasser aus der Tiefe aufsteigt. Die größte dieser Auftriebszonen erstreckt sich östlich von der Spitze der Antarktischen Halbinsel bis nach Südgeorgien. Sie ist ein Hotspot des Lebens. Hier gibt es nicht nur die größten Krillschwärme der Antarktis. In der Zone versammeln sich auch Krilljäger wie Wale, Pinguine und Robben.
Die oberste Wasserschicht des zentralen Arktischen Ozeans ist im Gegensatz zum Südpolarmeer eher nährstoffarm. Die starke Schichtung der Wassermassen infolge des hohen Süßwassereintrags durch Flüsse und die sommerliche Eisschmelze verhindern, dass nährstoffreiches Tiefenwasser bis an die Oberfläche aufsteigen kann. Kurze, intensive Algenblüten entstehen deshalb im Frühjahr und Sommer vor allem im Eisrandbereich sowie in den Randmeeren. Die Barentssee, die Tschuktschensee und das Beringmeer gehören zu den produktivsten marinen Ökosystemen der Erde. Hier finden Bodenbewohner, Fische, Seevögel, Robben und Wale so viel Nahrung, dass sie unter Umständen in sehr großen Ansammlungen vorkommen können.
4.23 > Ruderfußkrebse machen nicht nur einen Großteil des marinen Zooplanktons aus. Mit rund 13 000 verschiedenen Arten stellen sie auch die artenreichste Gruppe der Krebstiere. Polare Arten sind in der Regel etwas größer und nahrhafter als ihre Verwandten aus den mittleren Breiten.
Abb. 4.23 © Andrei Savitsky/Wikimedia Commons
Ihre Zahl ist dennoch in der Regel um ein Vielfaches kleiner als die Populationen in der Antarktis. Während zum Beispiel im Nordpolargebiet und angrenzenden subpolaren Regionen gerade einmal 13 Vogelarten eine Gesamtzahl von mehr als eine Million aufweisen, sind es im Süden 24 polare und subpolare Arten. Die am häufigsten vorkommende Robbenart lebt ebenfalls in der Antarktis. Von der Krabbenfresserrobbe (Lobodon carcinophaga) gibt es Schätzungen zufolge 50 bis 80 Millionen Tiere, wobei diese Angabe aufgrund der unüberschaubaren ­Größe ihres Lebensraums mit einer großen Unsicherheit versehen ist.
Die große Menge an Vögeln, Robben und Walen in den Polarmeeren führte früher zu der Annahme, dass in den Polarmeeren mehr Biomasse produziert und im Nahrungsnetz weitergereicht werde als in den niedrigeren Breiten. Erklärt wurde diese These mit kurzen Nahrungsketten, die von einigen wenigen Schlüsselorganismen gebildet würden. Für die Antarktis ging man davon aus, dass nahezu alles Leben davon abhinge, dass Kieselalgen Photosynthese betrieben und vom Antarktischen Krill gefressen würden, auf den wiederum alle größeren Tiere wie Fische, Pinguine, Robben und Wale Jagd machten.
Diese vereinfachte Sichtweise ist mittlerweile überholt. Heute weiß man, dass die Vielfalt der Primärproduzenten in den Polarmeeren – hier in erster Linie der Algen – genauso hoch ist wie in den mittleren Breiten. Mikroben, Plankton und andere Kleinstlebewesen inter­agieren auf komplexe Art und Weise. Außerdem sind aus der Antarktis inzwischen auch viele Nahrungsbeziehungen bekannt, in denen der Krill keine Rolle spielt, auch wenn er zweifelsohne nach wie vor zu den Schlüsselarten zählt.
Beim Blick auf das Nahrungsnetz beider Meere fallen heutzutage vor allem zwei Besonderheiten auf. Erstens dienen in den Polarmeeren vergleichsweise wenige Arten als Nahrungsquelle für die großen Räuber. In der Arktis beispielsweise besteht das Zooplankton zu 80 bis 90 Prozent aus fetthaltigen Ruderfußkrebsen (Copepoden), die das wichtigste Bindeglied zwischen den Primärpro­duzenten und größeren Konsumenten wie Fischen und Bartenwalen darstellen. In der Antarktis nehmen Krill, Floh- und Ruderfußkrebse diese Rolle ein. Zweitens stellen die Jäger oder Konsumenten des Südpolarmeers zumeist einer anderen Beute nach als die Jäger des Nordpolarmeeres. Während Robben, Wale und Seevögel im Arktischen Ozean vor allem Fische und am Meeresboden lebende Organismen fressen, ernähren sich die großen Räuber des Südlichen Ozeans in erster Linie von Krill und Fischen wie dem Antarktischen Silberfisch (Pleuragramma antarctica). Haie, Walrosse oder Wale, die ihre Nahrung vor allem am Meeresboden suchen, fehlen in der Antarktis gänzlich.

Die Überlebenstricks wechselwarmer Meeresbewohner

Die Fauna der Polarmeere besteht zu einem großen Teil aus wechselwarmen Tieren und hat im Lauf der zurück­liegenden Jahrmillionen einzigartige Anpassungsmechanismen an die extremen Lebensbedingungen entwickelt. Aufgrund der geografischen Abgeschiedenheit der Antarktis und ihrer längeren Vereisungsgeschichte jedoch sind diese im Südpolarmeer ausgeprägter als im Nord­polarmeer. Zu den Anpassungsmechanismen zählen bei den wechselwarmen Tieren insbesondere:
  • ein verlangsamtes Wachstum, späte Geschlechtsreife,
  • eine verringerte Aktivität,
  • die Produktion von Frostschutzproteinen (vor allem bei Fischen),
  • die Reduktion roter Blutkörperchen (auch vor allem bei Fischen),
  • der Einbau ungesättigter Fettsäuren in Zellmembranen,
  • Gewichtseinsparungen durch den Verzicht auf Kalkeinlagerungen in Schuppen und Skelett,
  • ein Riesenwachstum,
  • verkleinerte Gelege mit großen Eiern, die Nahrungs­reserven für das Wachstum der Larven enthalten, und
  • Lebendgeburten und intensive Brutpflege.
4.24 > Eisalgen und frei im Wasser schwimmendes Phytoplankton bilden das Fundament des Nahrungsnetzes im Arktischen Ozean. Mithilfe von Sonnenlicht, Kohlendioxid und Nährstoffen produzieren sie Biomasse, von der anschließend alle Konsumenten zehren, angefangen beim Zooplankton über Bodenbewohner, Fische, Vögel, Meeressäuger bis hin zum Menschen.
Abb. 4.24 © nach CAFF, Life ­linked to ice

Zusatzinfo Der Methusalem des Nordatlantiks

Temperatur und Futtermangel als Wachstumsbremsen

Kälte beeinträchtigt das Leben wechselwarmer Meeres­bewohner nachhaltig. Sie beeinflusst unter anderem die Atmung und Muskelfunktionen und somit die Bewegungsfähigkeit der Tiere. Gleichzeitig bremst sie deren Wachstum und Entwicklung, weshalb die Lebenszyklen polarer Arten eine große Parallele aufweisen. Das Leben in den kalten Meeren geht sehr langsam vonstatten, und jeder Entwicklungsschritt nimmt mehr Zeit in Anspruch als in den mittleren Breiten. So dauert die embryonale Entwicklung vieler wechselwarmer Meeresbewohner in den Polargebieten fünf- bis zehnmal so lange wie bei wärmeliebenden Arten in den mittleren Breiten. Daran schließen sich oft ein verlangsamtes Wachstum sowie eine verspätete Geschlechtsreife an. Während zum Beispiel Fische aus wärmeren Gebieten in der Regel nach ein bis vier Jahren paarungsbereit sind, brauchen die größeren Fischarten der Antarktis sechs bis zehn Jahre. Der Schwarze Seehecht (Dissostichus eleginoides) wird sogar erst in einem Alter von 13 bis 17 Jahren geschlechtsreif. Eine Ausnahme von dieser Regel bilden einige antarktische Seescheiden, Moostierchen und Schwämme, die ebenfalls zu den wechselwarmen Tieren gehören, in verschiedenen Studien aber verhältnismäßig schnell wuchsen oder sich zügig ausbreiteten. Dennoch entwickelten sich auch diese Tiere langsamer als Artverwandte in den mittleren Breiten.
Die verzögerte Entwicklung polarer Arten ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass Kälte den sogenannten Proteinstoffwechsel der Tiere erschwert. Darunter versteht man die stete Neubildung von Proteinen und ihren Abbau zu Aminosäuren in den Zellen. In wachsenden Organismen muss Protein ständig neu synthetisiert und den Organen und Strukturelementen zugeführt werden. Bei Temperaturen von null Grad Celsius und darunter aber wird es für wechselwarme Lebewesen schwierig, ihren Proteinstoffwechsel aufrechtzuerhalten und viele voll funktionsfähige Proteine zu produzieren. Forscher wissen heute, dass in den Zellen antarktischer Arten bis zu 80 Prozent der synthetisierten Proteine nicht weiterverwendet, sondern stattdessen wieder abgebaut werden. Bei wärmeliebenden Arten liegt dieser Anteil bei gerade einmal 25 bis 30 Prozent. Polare Arten weisen auch eine viel höhere Konzentration des Moleküls Ubiquitin auf. Es ist in den Zellen dafür verantwortlich, dass beschädigte Proteine erkannt und aussortiert werden. Der Abbau dieser schadhaften Proteine erfolgt dann in einem bestimmten Teil des Zellkerns, dem Proteasom. Es wird bei polaren Fischen zwei- bis fünfmal häufiger aktiviert als bei Fischen aus den mittleren Breiten.
Diese und andere zellulären Besonderheiten führen schlussendlich dazu, dass wechselwarme Tiere in den Polarmeeren im Zuge ihres Proteinstoffwechsels vergleichsweise wenig Proteine herstellen, die am Ende auch für das Wachstum verwendet werden können. Zu wachsen ist demzufolge ein besonders energieaufwendiger Prozess für die polaren Arten und läuft deshalb bei vielen von ihnen nur sehr langsam ab. Im Gegenzug erreichen die wechselwarmen Bewohner des Nord- und Südpolar­meers ein ausgesprochen hohes Alter. Größere Fischarten wie der Schwarze Seehecht aus der Antarktis werden zwischen 15 und 30 Jahre alt. Die antarktische Muschel Laternula elliptica schafft sogar ein Alter von bis zu 36 Jahren. Im hohen Norden gilt die Islandmuschel (Arctica islandica) als Rekordhalterin. Im Jahr 2006 entdeckten britische Wissenschaftler vor Island ein Exemplar, das 507 Jahre alt war.
Forscher führen das langsame Wachstum wechselwarmer Meeresbewohner aber auch auf die extremen saisonalen Veränderungen der Polarmeere zurück. Die meis­ten wechselwarmen Tiere wachsen nur, wenn sie Nahrung finden. Futter aber steht vielen polaren Arten nur während der sommerlichen Algenblüten in ausreichenden Mengen zur Verfügung. In der Antarktis beispielsweise stellen mehr als 95 Prozent jener Arten, die sich von freischwebendem Phytoplankton oder aber am Meeresboden wachsenden Algen ernähren, im Winter das Fressen ein. Und jene, die weiterhin Nahrung aufnehmen, konsumieren nur einen kleinen Teil ihrer sonst üblichen Futtermenge. Das wiederum hat für die Tiere zur Folge, dass sich auch ihr Wachstum in erster Linie auf den Sommer beschränkt.

Radiokarbonmethode
Die Radiokarbonmethode, auch C14-Methode genannt, ist eine Methode zur Bestim­mung des Alters organischer Stoffe. Dabei bestimmen Forscher das Mengen­verhält­nis des radio­aktiven Kohlen­stoff­isotops 14C und des nicht radio­aktiven Isotops 12C in der Probe und leiten davon ab, vor wie vielen Jahren das Tier oder die Pflanze gestorben ist.

Immer im Energiesparmodus

Langsam verläuft in den Polarregionen aber nicht nur die Entwicklung der wechselwarmen Lebewesen. Die Tiere verbringen auch ihren Alltag im Energiesparmodus. Das heißt, sie bewegen sich deutlich langsamer und vermeiden unnötige Anstrengungen. Antarktisfische beispielsweise jagen ihrer Beute nicht in der Wassersäule hinterher, sondern legen sich kräfteschonend am Meeresgrund auf die Lauer. Die antarktische Muschel Adamussium colbecki klappt ihre Muschelschalen nur halb so oft zusammen wie Muscheln aus wärmeren Gebieten, und die räuberische Schnecke Trophonella longstaffi benötigt ganze 28 Tage, um durch die Schale ihrer Beute zu bohren und diese aufzufressen. Ihre Artverwandten in zehn bis 15 Grad warmem Wasser benötigen dafür in der Regel nur zehn bis zwölf Tage.
Bis heute sind nur zwei Beispiele bekannt, bei denen antarktische Meerestiere den temperaturbedingten Nachteil bei Bewegungen durch spezielle Anpassungen kompensieren und deshalb in der Lage sind, diese Bewegung in einem ähnlichen Tempo auszuführen wie Arten außerhalb des Polargebiets. Dazu zählt erstens das Schwimmtempo der Antarktisfische. Sie besitzen etwa doppelt so viele Mitochondrien in ihren Muskelzellen wie Artverwandte in wärmeren Meeren. Diese befähigen die polaren Barsche, so viel Energie zu erzeugen, dass sie bei Bedarf genauso schnell schwimmen können wie vergleichbare Arten aus mittleren Breiten. Das zweite Beispiel liefert die antarktische Muschel Laternula elliptica. Sie kann sich dank eines Fußmuskels, der im Vergleich doppelt bis dreimal so groß ist, genauso schnell im Meeresboden ein­graben wie verwandte Muscheln aus mittleren und tropischen Breiten.

Fette, Frostschutz und farbloses Blut

Die weltweit bekanntesten Anpassungsstrategien an den Lebensraum Polarmeer kennt man in erster Linie von den Fischen. Alle Fischarten, die in Gewässern mit einer Temperatur von unter null Grad Celsius leben, schützen sich mithilfe von Frostschutzmitteln vor dem Tod durch Erfrieren. Dazu produzieren sie verschiedene Formen sogenannter Glykoproteine, die sich in sämtlichen Körperflüssigkeiten der Tiere befinden und von Filterorganen wie den Nieren nicht ausgeschieden werden. Glykoproteine sind Zuckerverbindungen und unterbinden das Wachstum von Eiskristallen im Gewebe der Fische. Sowie ein Eis­kristall auch nur im Ansatz entsteht, lagern sich die Glykoproteine an dieses Minikristall an und verhindern, dass weitere Wassermoleküle an das Kristall andocken. Der so entstandene Mini-Eis-Zucker-Komplex wird anschließend über den Stoffwechsel ausgeschieden. Mithilfe dieses Schutzmechanismus senken die Fische den Gefrierpunkt ihrer Körperflüssigkeiten auf unter minus 2,2 Grad Celsius und sind in der Lage, Umgebungstemperaturen von bis zu minus 1,8 Grad Celsius zu überleben. Eine Anpassungsstrategie, die Fische aus der Arktis und Antarktis völlig unabhängig voneinander entwickelt haben und die bis heute weltweit als eines der besten Beispiele für eine sogenannte Parallelevolution gilt. Darunter versteht man die Entwicklung gleicher Merkmale durch nicht näher verwandte Arten.
Eine zweite besondere Anpassungsstrategie kommt nur im Südpolarmeer vor. Dort leben die sogenannten Eis- oder Weißblutfische (Channichthyidae), eine Familie der Antarktisfische. 16 Arten dieser Raubfischfamilie besitzen keine roten Blutkörperchen und auch keine Pigmente des Blutfarbstoffs Hämoglobin. Ihr Blut ist tatsächlich absolut weiß. Hämoglobin ist bei vielen Wirbeltieren und uns Menschen für den Transport des Sauerstoffes im Körper verantwortlich. Die Pigmente verfügen über jeweils vier Andockstellen für Sauerstoffmoleküle und transportieren das Atemgas auf besonders effiziente Weise von der Lunge, dem Ort der Sauerstoffaufnahme, in jene Körperregionen, wo es verbraucht wird. Auf dem Rückweg nehmen sie das im Gewebe produzierte Kohlendioxid huckepack und bringen es zurück zur Lunge, wo es ausgeatmet wird.
4.26 > Die roten Blut­körper­chen des Menschen sind wie winzige, bikon­kave Scheiben geformt und mit dem eisenhaltigen Blut­farbs­toff Hämoglobin gefüllt. Aufgrund ihrer Gestalt trans­por­tieren sie Sauer­stoff auf sehr effiziente Weise. Gleich­zeitig verhindern die Blut­körper­chen, dass das giftige Hämo­globin in die Blut­bahn entweicht.
Abb. 4.26 © Susumu Nishinaga/Science Photo Library
So gut dieser Gastransport auch funktioniert, Hämoglobin bringt nicht nur Vorteile. Frei im Körper kann der Blutfarbstoff zum Beispiel giftig wirken, weshalb er beim Menschen und bei vielen Wirbeltieren in den roten Blutkörperchen eingeschlossen wird. Außerdem sinkt die Effizienz, mit der Hämoglobin Sauerstoff bindet, je kälter es wird. Unter extrem kalten Bedingungen können viele rote Blutkörperchen mit Hämoglobin das Blut sogar dickflüssiger machen und seinen Transport in den Adern erschweren – vor allem, wenn wie bei den Antarktisfischen auch noch Mini-Eiskristalle im Blut mitschwimmen.
Um dieses Viskositätsproblem zu vermeiden, haben viele polare Fischarten im Lauf der Evolution die Zahl ihrer roten Blutzellen reduziert. Den Eisfischen ist es sogar gelungen, ganz auf Hämoglobin zu verzichten. Sie leben mittlerweile nur noch vom Sauerstoff, der in den vergrößerten Kiemen der Fische oder aber über ihre Haut direkt in ihr Blut diffundiert und sich dort auf physikalische Weise löst. Das heißt, die Sauerstoffmoleküle docken nirgendwo an, sondern werden freischwimmend im Blut mittransportiert.
Die derart im Blut gelöste Menge Sauerstoff ist allerdings ziemlich klein. Eisfische wie der Schwarzflossen-Eisfisch (Chaenocephalus aceratus) müssen im Vergleich zu Antarktisfischen mit rotem Blut mit weniger als zehn Prozent der üblichen Sauerstoffmenge im Blut auskommen. Forscher gehen inzwischen davon aus, dass diese hämoglobinfreie Sauerstoffversorgung bei Eisfischen nur deshalb funktioniert, weil nahezu alle Fische des Südpolarmeers aufgrund der kalten Bedingungen einen zehn- bis 25-fach verlangsamten Stoffwechsel haben und damit weniger Sauerstoff verbrauchen als Fische in 30 Grad Celsius warmen Meeresgebieten. Die kalten Wassermassen des Südpolarmeers sind zudem sehr sauerstoffreich. Ihre Sauerstoffkonzentration ist fast doppelt so hoch wie jene tropischer Meere, was allen Bewohnern die Sauerstoffaufnahme erleichtert. Hätten Fische außerhalb der Antarktis irgendwann aufgehört, Hämoglobin zu produzieren, wären diese Tiere sofort gestorben. Unter antarktischen Bedingungen aber haben sie bis heute eine Überlebenschance.

Zusatzinfo Das blaue Blut des Antarktischen Warzenkraken

Dennoch weisen die Fische mit dem weißen Blut einige spezifische Besonderheiten auf, die darauf schließen lassen, dass ihr Kreislaufsystem sehr viel Blut zirkulieren ­lassen muss, um die Sauerstoffversorgung sicherzustellen. Das Herz der Eisfische beispielsweise ist so groß, dass es vier- bis fünfmal so viel Blut pumpt wie das Herz von Fischen mit roten Blutkörperchen. Ihre Adern messen im Durchmesser das Eineinhalbfache und darin fließt im Vergleich zwei- bis viermal so viel Blut.
Je kälter der Lebensraum wechselwarmer Meeres­bewohner wird, desto häufiger bauen diese auch ungesättigte Fettsäuren in ihre Zellmembranen ein. Auf diese ­Weise bleiben die Membranen bei niedrigen Temperaturen flüssig-kristallin und damit voll funktionsfähig. Ohne diese Schutzmaßnahme würden sich die Membranen bei Kälte in eine Art Gel verwandeln und ihre überlebenswichtige Durchlässigkeit einbüßen.
Antarktisfische besitzen auch keine Schwimmblase. Um sich dennoch möglichst energiesparend fortzubewegen, lagern sie Lipide in der Leber und anderen Eingeweiden ein. Die Fette verleihen zusätzlichen Auftrieb. Außerdem reduzieren die Fische ihr Körpergewicht, indem sie vergleichsweise wenig Kalk in Skelett und Schuppen einbauen und es im Bedarfsfall auch durch leichtere Knorpel ersetzen. Das Skelett des Schwarzflossen-Eisfischs sieht deshalb nahezu durchsichtig aus.

Polare Giganten

Obwohl die meisten wechselwarmen Bewohner der Polarmeere langsam wachsen, erreichen vor allem antarktische Arten eine erstaunliche Größe, was Forscher dazu veranlasst hat, von einem „polaren Gigantismus“ zu sprechen. Ein Paradebeispiel sind unter anderem die Asselspinnen (Pycnogonida) der Antarktis. Sie erreichen einen Durchmesser von über 50 Zentimetern, während die größten Asselspinnen der gemäßigten Breiten gerade einmal drei Zentimeter groß werden. Die Flohkrebse des Südlichen Ozeans sind bis zu neunmal so lang wie ihre Verwandten in den Tropen, und die vasenförmigen Glasschwämme erreichen Rekordgrößen von zwei Meter Höhe und 1,5 Meter Durchmesser.
Welche Faktoren zu diesem polaren Riesenwuchs führen, wird in der Wissenschaft seit Jahrzehnten kontrovers diskutiert. Als mögliche Treiber gelten unter anderem:
  • geringe Unterhaltskosten: Da die Temperaturen im Südpolarmeer niedrig sind und der Stoffwechsel der meisten wechselwarmen Arten gedrosselt ist, müssen polare Organismen insgesamt weniger Energie aufbringen, um einen großen Körper zu erhalten, als gleich große Tiere in wärmeren Regionen.
  • hoher Sauerstoffgehalt der polaren Meere: Er erleichtert die Atmung und somit den Stoffwechsel.
  • hohe Siliziumkonzentration im Wasser: Sie ermöglicht Kieselalgen, Glasschwämmen, Strahlentierchen und anderen Lebewesen, ihre siliziumhaltigen Skelette aufzubauen, ohne übermäßig viel Energie aufzuwenden.
  • hohes Futtervorkommen im Sommer: Die gro­ßen Algenblüten bieten eine so reichhaltige Nahrungsgrundlage, dass Tiere mit einem verlangsamten Stoffwechsel ideale Wachstumsbedingungen vorfinden und der Wettbewerb unter den Individuen das Größenwachstum fördert.
  • jahreszeitliche Schwankungen: Der Energie­grundbedarf größerer Organismen ist im Verhältnis zur Körpermasse geringer als jener kleinerer Lebe­wesen, und diese können in der Regel auch größere Energiereserven anlegen. In Phasen mit wenig oder ausbleibender Biomasseproduktion haben sie daher Vorteile.
Die Konkurrenz der Arten hat in der Erdgeschichte immer wieder zu einem extremen Größenwachstum geführt – die Dinosaurier sind hier nur ein Beispiel von vielen. Die Vergangenheit zeigt aber auch, dass es diesen großen Arten meist sehr schwerfiel, sich an Umweltveränderungen anzupassen. Nicht zuletzt aus diesem Grund vermuten Wissenschaftler, dass die globale Erwärmung die Riesen der Polarmeere empfindlicher treffen könnte als kleinere Arten.

Große Eier, wachsame Eltern

Polare Fische laichen eine vergleichsweise kleine Zahl an Eiern. Diese sind aber deutlich größer als der Laich wärmeliebender Arten. Antarktisfische betreiben zudem überraschend häufig aktive Brutpflege. Das heißt, die Fische deponieren ihre Eier auf Steinen am Meeresboden oder aber in den Öffnungen von Glasschwämmen und beschützen ihren Nachwuchs so lange, bis dieser als Fischlarve schlüpft.
Auffallend große Eier produzieren auch die Flohkrebse und der Krill des Südpolarmeers. Deren Eier waren in der Regel zwei- bis fünfmal so groß wie die Eier ihrer Artverwandten in niedrigeren Breiten. Der Trend zu größeren Eiern in den Polarregionen zeigt sich selbst innerhalb einer Art. Asseln der Art Ceratoserolis trilobitoides beispielsweise produzieren im Weddellmeer Eier, die nahezu doppelt so groß sind wie jene, welche die gleiche Art ein Stück weiter nördlich in der Nähe Südgeorgiens erzeugt. Forscher erklären diese Entwicklung unter anderem mit dem unsicheren Nahrungsangebot in den Polargebieten. Während Tierarten in wärmeren Meeresregionen ziemlich sicher davon ausgehen können, dass ihr Nachwuchs ausreichend Futter finden und schnell wachsen wird, ist die Situation in den Polarmeeren eine andere. Hier gestaltet sich die Versorgungslage unter Umständen schwierig, und die niedrigen Temperaturen bedingen eine lange ­Entwicklungszeit. Dem Nachwuchs werden deshalb von Anfang an mehr Reserven im Ei mitgegeben. Außerdem sind die Jungtiere meist schon etwas größer, wenn sie als Larven schlüpfen und haben somit in der kritischsten ­Phase ihres Lebens bessere Überlebenschancen. Mittlerweile ist auch bekannt, dass die wechselwarmen Tiere der kalten, sauerstoffreichen Polarmeere größere Zellen besitzen als ihre Artverwandten in wärmeren, sauerstoff­ärmeren Gewässern. Die Eier sind also auch aus diesem einfachen Grund größer.
Auch nach der Eiablage und -befruchtung unterscheidet sich der Lebenszyklus vieler polarer Arten von dem ihrer wärmeliebenden Verwandten. Während wirbellose Meeresbewohner in wärmeren Gebieten oft ein Larvenstadium durchlaufen, in dem sie selbst aktiv nach Futter suchen müssen (planktotrophe Ernährung), ist im Süd­polarmeer der Anteil jener Arten höher, die ihrem Nachwuchs einen Dottersack mitgeben, der die Larven bis zum nächsten Entwicklungsschritt (Metamorphose) mit aus­reichend Nahrung versorgt (lecithotrophe Ernährung). Der Hauptgrund dafür ist abermals die kältebedingt ver­zögerte Entwicklungszeit in den Polarmeeren. Je weniger Nahrung die Larven finden, desto langsamer vollzieht sich ihre ohnehin schon schleppende Entwicklung, und das wiederum bedeutet, dass der Nachwuchs länger Gefahr läuft, selbst gefressen zu werden. Die Larven des antarktischen Seesterns Odontaster validus beispielsweise müssen selbst auf die Futtersuche gehen und verbringen unter Umständen bis zu 180 Tage in der Wassersäule, bevor sie sich am Meeresboden absetzen und die Metamorphose zum jungen Seestern vollziehen können.
4.28 > In den vielen Poren, Taschen und Solekanälen des arktischen und antarktischen Meereises gedeiht im Frühjahr und Sommer eine artenreiche Gemeinschaft aus kälteadaptierten Eisalgen, Bakterien, Archaeen, Viren, Pilzen und Kleinst­lebewesen. Mittlerweile kennen Forscher mehr als 2000 Arten, die im oder am Meereis leben.
Abb. 4.28 © nach CAFF, Life linked to ice

Leben im, unter und auf dem Meereis

Das Meereis der Arktis und Antarktis stellt einen einzigartigen Lebensraum für die Flora und Fauna der Polar­regionen dar – auch wenn die Eisdecke in vielen Regionen des Nord- und Südpolarmeers nur saisonal vorhanden ist. Forscher kennen mittlerweile mehr als 2000 verschiedene Algen- und Tierarten, die im oder am Meereis leben. Die meisten von ihnen sind allerdings zu klein, um sie mit bloßem Auge zu entdecken. Zu den Algen und Tieren gesellen sich noch zahllose kälteadaptierte Bakterien, Archaeen, Viren und Pilze, sodass Forscher mittlerweile von einer Meereis-Lebensgemeinschaft ausgehen, die mehrere Tausend Arten umfasst und von deren Wachstum und Vermehrung das Überleben der gesamten polaren Meeresfauna abhängt.
Diese wichtige Nahrungskette beginnt mit den Eis­algen, von denen ein Großteil bereits beim Gefrieren des Meerwassers im Eis eingeschlossen wird – zusammen mit Partikeln, Nährstoffen, einer Vielzahl von Bakterien und so manchem Kleinstlebewesen. Im Gegensatz zu Fleisch und Gemüse in der Kühltruhe aber gefrieren diese Organismen nicht selbst, sondern überleben an der Eisunterseite oder aber in den Abertausenden kleinen, mit Lake und Meerwasser gefüllten Kanälen und Taschen, die sich im Meereis bilden. Um in diesem in der Arktis bis zu minus zehn Grad Celsius, in der Antarktis bis zu minus 20 Grad Celsius kalten und extrem salzreichen Umfeld zu existieren, haben die eisadaptierten Mikroorganismen die Zusammensetzung der Lipide in ihrer Zellmembran verändert. Diese schützt vor einer Verhärtung der Membran und garantiert, dass die Organismen weiterhin Nährstoffe aus dem Meerwasser aufnehmen können. An die Kälte angepasst ist auch die zelluläre Protein­produktion, sodass auch bei niedrigen Temperaturen alle überlebenswichtigen Prozesse möglichst reibungslos ablaufen. Eisalgen bilden zudem Frostschutzproteine und legen im Sommer Fettreserven an, um den langen Winter zu überstehen. Trotz solcher Überlebensstrategien gilt dennoch: Je wärmer und weniger salzhaltig das Meereis ist, desto besser ist es für die Meereisflora und -fauna.
Die Gemeinschaft der Eisalgen besteht vor allem aus Kieselalgen, von denen viele Arten in beiden Polarregionen vorkommen. Wie viele Eisalgen in einem Stück Meereis gedeihen, hängt von der Lichtdurchlässigkeit des Eises, von seinem Salzgehalt sowie von den Nährstoffen ab, die im Eis mit eingeschlossen sind beziehungsweise aus dem darunterliegenden Wasser zur Verfügung gestellt werden. In mehrjährigem Meereis leben in der Regel mehr Algenarten als in jungem Eis. Diese älteren Schollen dienen auch als eine Art Samenbank – vor allem im Packeis, welches meist aus neugebildetem Eis, aus einjährigem Eis und aus mehrjährigen Schollen besteht. Algen aus dem mehrjährigen Eis wandern dann im Frühjahr, wenn die Temperaturen steigen und das Eis poröser wird, in das ­jüngere Eis und starten dort eine Algenblüte.
Abb. 4.29 © Expedition Gombessa 3, © Laurent Ballesta

4.29 > Von unten betrachtet stellt das antarktische Packeis eine zerklüftete Landschaft dar, an deren lichtdurchlässigsten Stellen Algen die Eisunterseite grün bis bräunlich färben.
Eisalgen gedeihen in erster Linie in der untersten Schicht des Eises, in unmittelbarer Nähe zum Wasser. Arten wie die arktische Kieselalge Melosira arctica aber siedeln auch an der Eisunterseite und bilden dort im ­Frühjahr unter Umständen Algenmatten, die bis zu zwei Meter tief in die Wassersäule hängen. Bakterien dagegen kommen in nahezu allen Schichten des Meereises vor, häufen sich aber in der untersten Schicht des Eises sowie an der Eisoberfläche.
Den langen, dunklen Winter verbringt die Artengemeinschaft des Meereises relativ träge im Eis. Im Frühjahr aber, wenn die Sonne wieder über den Horizont steigt, wachsen und vermehren sich die Algen in der untersten Eisschicht sprunghaft. Die dafür benötigten Nährstoffe entziehen sie dem Meerwasser. Sowie die Blüte der Eis­algen einsetzt, stürzen sich winzige Algenfresser wie Ruderfußkrebse, Flohkrebse und Krilllarven auf den wachsenden Futterberg. So manche Algenansammlung aber sinkt auch in die Tiefe hinab und wird am Meeresgrund von Seegurken und anderen Bodenbewohnern verspeist.
Wenn in den vielen Nischen des Eises das große Fressen beginnt, lauern direkt unter dem Eis bereits die ersten Zooplanktonjäger. Zu ihnen zählen in der Arktis zum Beispiel räuberische Flohkrebse wie Apherusa glacialis oder Gammarus wilkitzkii. Doch auch sie müssen sich in Acht nehmen, denn neben den Flohkrebsen machen auch Polar- und Eisdorsche unter dem Eis Jagd auf Zooplankton. Die Fische stellen dabei vor allem Floh- und Ruderfußkrebsen nach, fressen aber auch Schwebegarnelen. Der Polardorsch laicht sogar im Labyrinth des Packeises. Seine Millionen Jungtiere verbringen ihr erstes Lebensjahr versteckt in den Höhlen und Spalten des Eises und wandern mit dem Treibeis aus den Laichgebieten nördlich Sibiriens in die zentrale Arktis. Von Tauchgängen unter dem Eis wissen Forscher außerdem, dass gallertartiges Zooplankton wie Rippenquallen in dichten Ansammlungen unter dem Eis vorkommen kann. Diese Tiere scheinen sich vor allem in jenen Regionen anzusammeln, wo das Meereis besonders tief in die Wassersäule ragt und so Verwirbelungen des Wassers hervorruft.
Säugetiere und Vögel haben zwei Strategien, um in die Speisekammer unter dem Meereis zu gelangen. Sie nutzen entweder Löcher oder Risse im Eis, um zu den Nahrungsgründen vorzustoßen – eine Jagdmethode, die vor allem die verschiedenen Robbenarten des Nord- und Südpolarmeers anwenden –, oder aber sie warten auf den eisfreien Sommer. Arktische Säuger wie Belugas und die großen Bartenwale tun dies zum Beispiel. Sie verbringen den Winter außerhalb der Meereiszone und wandern erst Richtung Norden, wenn sich das Eis langsam zurückzieht und sich große Algenblüten in den Eisrandzonen bilden.
Eisbären wiederum gehen auf dem arktischen Meereis auf Robbenjagd. Sie bilden somit einen von mehreren Endpunkten in einem Nahrungsnetz, dessen Existenz unmittelbar an das Meereis geknüpft ist. Die Lebensweise eines jeden Akteurs in diesem Netz ist so genau an die polaren Verhältnisse angepasst, dass diese Arten anderswo kaum eine Überlebenschance hätten. Für sie alle bedeutet der Rückgang des arktischen und antarktischen Meereises den Verlust von wertvollem Lebensraum.

Antarktischer Krill – das Massenphänomen

Ein polare Schlüsselart, deren Überleben unmittelbar vom Meereis abhängt, ist der Antarktische Krill (Euphausia superba). Der Krebs gehört zu den Leuchtgarnelen und damit zum Zooplankton und gilt als Tier der Superlative. Mit einer Körperlänge von bis zu sechs Zentimetern ist der Antarktische Krill nicht nur eine der größten Schwimmgarnelen des Südpolarmeers. Er kann zudem bis zu elf ­Jahre alt werden und bildet die größte tierische Bio­masse auf der Welt. Sein zirkumpolares Vorkommen wird auf 133 Millionen Tonnen geschätzt, Larven ausgeschlossen. Mehr Gesamtgewicht bringt nur noch der Mensch auf die Waage. Der Begriff „Krill“ stammt übrigens vom norwegischen Wort für Walfutter ab. Früher bezog er auch andere Zooplanktonarten wie Flügelschnecken und ­Quallen mit ein. Mittlerweile aber wird das Wort „Krill“ umgangssprachlich nur noch als Bezeichnung für Euphausia superba benutzt.
Antarktischer Krill kommt nur im Südozean vor und zählt somit zu den vielen endemischen Arten der Antarktis. Neben ihm gibt es noch fünf weitere Krebsarten in antarktischen Gewässern, darunter der ebenfalls bekannte Eiskrill (Euphausia crystallorophias). Diese Krebsart lebt vor allem in den sehr kalten Schelfmeerregionen im Süden, Euphausia superba hingegen bevorzugt tiefe, nördlichere Meeresgebiete, in denen die mittlere Wassertemperatur wärmere null bis drei Grad Celsius beträgt. Sein Lebensraum beschränkt sich somit auf etwas mehr als die Hälfte der Fläche des Südozeans, genauer gesagt auf ­Regionen zwischen 51 und 74 Grad Süd. In diesem Bereich konnten Wissenschaftler bislang sechs große Vorkommen identifizieren – eines im Gebiet des nördlichen Weddellmeers und der Scotiasee, eines vor dem Enderbyland, eines im Gebiet des Kerguelenwirbels, zwei kleinere Vorkommen im Norden des Rossmeers sowie eine Popula­tion in der Bellingshausensee westlich der Antarktischen Halbinsel.
4.30 > Die Vorkommen des Antarktischen Krills verteilen sich ungleichmäßig um den südlichen Kontinent, wie Forscher unter anderem mithilfe von Netzfängen herausfanden. Besonders große Schwärme gibt es demnach vor allem im Nordosten der Antarktischen Halbinsel, vor der Küste des Enderbylands, im Gebiet des Kerguelen-wirbels, im Rossmeer und in der Bellingshausensee.
Abb. 4.30 © nach Siegel

Zusatzinfo Was lebte unter den Schelfeisen Larsen A und B?

Dieser lückenhaften Verbreitung ist auch geschuldet, dass der Krill nicht in allen Regionen des Südozeans die Rolle des Bindeglieds zwischen den Primärproduzenten und den höheren Konsumenten einnimmt. Forscher haben im Südlichen Ozean mittlerweile drei Zooplankton-gemeinschaften mit ihren entsprechenden Schlüsselarten identifiziert. Das Zooplankton im nördlichen Teil des ­Südpolarmeers wird von der Salpe Salpa thompsoni und dem Flohkrebs Themisto gaudichaudii dominiert. Im südlichen Teil dagegen besetzen vor allem der Eiskrill und der Antarktische Silberfisch (Pleuragramma antarctica) die Schlüsselpositionen des Nahrungsnetzes. Der Antarktische Krill spielt hier eine wichtige, aber dennoch untergeordnete Rolle. In der Mitte aber sind der Antarktische Krill und sein enger Verwandter, die Schwimmgarnele Thysanoessa macrura, gemeinsam mit einer Vielzahl von Ruderfußkrebsen die Hauptbeute für Jäger wie Fische, Wale, Robben, Pinguine und andere Meeresvögel.
In diesen Gebieten kommen die Leuchtgarnelen in Schwärmen mit bis zu 30 000 Tieren pro Kubikmeter Wasser vor. Im antarktischen Sommer halten sich die Krillschwärme in der Regel in den oberen 50 bis 150 Metern der Wassersäule auf. Mit Beginn des Winters im Monat April aber sinken sie oft auf etwa 200 Meter Tiefe ab. Allerdings wurden sie auch schon in Tiefen von 1000 bis 3500 Metern gesichtet.
Bis auf eine Tiefe von mehr als 2000 Metern sinken die Eier der Krebstiere hinab, welche die Weibchen von Januar bis März legen. In der Tiefsee entwickeln sich aus den Eiern dann wiederum freischwimmende Larven, die gegen Ende des Sommers wieder aufsteigen und im oberen Teil der Wassersäule von den Oberflächenströmungen mitgerissen werden. Auf diese Weise wandern zum Beispiel die in der Bellingshausensee geschlüpften Krilllarven innerhalb von 140 bis 160 Tagen bis in die Gewässer rund um Südgeorgien.
Seine erste Überwinterung übersteht der Krillnachwuchs, indem er sich in den Nischen, Höhlen oder auch Ritzen des antarktischen Meereises versteckt und sich im Herbst von den Eisalgen und im Winter hauptsächlich von Ruderfußkrebsen und anderen Kleinstlebewesen ernährt. Wichtig scheint dabei zu sein, dass sich das Meereis früh im Winter bildet und die Larven somit über einen möglichst langen Zeitraum Schutz und ausreichend Futter finden. Wenn das Eis dann im Frühjahr schmilzt und den Startschuss für die Algenblüten gibt, durchlaufen die Krebstiere ihren letzten Entwicklungsschritt zum jungen Rekruten.
Die Überlebenschancen des geschlechtsreifen Krills dagegen hängen weniger stark vom Meereis ab. Manche Krebse überdauern die dunkle Jahreszeit, indem sie zum Beispiel das Fressen einstellen und ihren Stoffwechsel um bis zu 50 Prozent reduzieren. In solchen Hungerphasen kommt es sogar vor, dass die Tiere schrumpfen. Andere wiederum suchen sich alternative Futterquellen. Das heißt, sie fressen Zooplankton, welches noch in der Wassersäule schwebt, oder aber sinken zum Meeresboden ab, wo sie herabgerieselte Tier- und Pflanzenreste vertilgen. Die Entscheidung, wann sie ihren Stoffwechsel und ihr Futterverhalten auf den Winterrhythmus umstellen müssen, fällen die Krebse anhand der Tageslänge. Diese Aussage basiert unter anderem auf Laborstudien, in denen die Tiere bei winterlichen Lichtverhältnissen auch dann nur wenig fraßen, wenn viel Futter in den Aquarien schwamm. Textende