Mehr Kohlenstoffeinlagerung in Wiesen und Wäldern des Meeres?
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WOR 8 Klimaretter Ozean? Wie das Meer (noch) mehr Kohlendioxid aufnehmen soll | 2024

Blue Carbon: Ein Lösungsansatz mit doppeltem Nutzen

Blue Carbon: Ein Lösungsansatz mit doppeltem Nutzen Abb. 5.12: Antonio Busiello/Getty Images

Blue Carbon: Ein Lösungsansatz mit doppeltem Nutzen

> Vegetationsreiche Küstenökosysteme wie Salzmarschen, Seegraswiesen, Mangroven- und Tangwälder verantworten mindestens 30 Prozent des im Meeresboden eingelagerten organischen Kohlenstoffs. Weltweit schrumpft jedoch die Fläche dieser Ökosysteme und mit ihnen ihre unterirdischen Kohlenstofflagerstätten. Wo der Mensch das Sterben der Meereswiesen und -wälder aufhält und zerstörte Gebiete wiederherstellt, forciert er nicht nur die Kohlenstoffaufnahme der Pflanzengemeinschaften, sondern stärkt auch Naturräume, deren Funktion und Gesundheit für die Menschheit überlebenswichtig sind.

Mit den Werkzeugen der Natur

Bei der Suche nach Wegen, die Aufnahme von Kohlendioxid durch den Ozean zu verstärken, fällt der Blick logischerweise zuerst auf die Schlüsselakteure im Kohlenstoffkreislauf des Meeres. Dazu gehören im Küstenbereich vor allem die vegetationsreichen Ökosysteme im Gezeiten- und Flachwasserbereich (bis 50 Meter Wassertiefe), gemeint sind Salzmarschen, Seegraswiesen, Mangroven- und Tangwälder, wobei Letztere oft auch als Kelpwälder bezeichnet werden. Das Verbreitungsgebiet dieser vier Ökosysteme macht zusammengenommen weniger als ein Prozent der weltweiten Meeresfläche aus, die Gezeitenzone mit eingeschlossen. Weil die Meereswiesen und -wälder jedoch hochproduktive Ökosysteme sind, wandeln sie viel Kohlendioxid in Biomasse um und verantworten mindestens 30 Prozent des im Meeresboden eingelagerten organischen Kohlenstoffs.
Wie Pflanzen an Land nehmen Pflanzen im Meer oder Gezeitenbereich Kohlendioxid im Zuge der Fotosynthese auf und binden den darin enthaltenen Kohlenstoff. Die Aufnahme erfolgt jedoch nicht nur aus der Luft, sondern auch aus dem Meerwasser – etwa durch Seegräser und Tange. Da die Pflanzengemeinschaften in Mangrovenwäldern, Seegraswiesen und Salzmarschen allesamt Wurzeln bilden und auf sandigem oder schlammigem Untergrund wachsen, sind sie in der Lage, einen Großteil des gebundenen Kohlenstoffs im Untergrund einzulagern – zum einen als lebende Biomasse im eigenen Wurzelwerk; zum anderen in Form eigener abgestorbener Pflanzenteile, die zu Boden sinken und im Küstensediment eingeschlossen werden.
5.1 > Mangroven schützen die Küste vor Wellen, Meeresspiegelanstieg und Sturmfluten. Allen Wetterextremen aber können auch sie nicht trotzen. Als der Wirbelsturm „Maria“ im September 2017 über Costa Rica fegte, starben große Teile dieses Mangrovenwaldes ab.
Abb. 5.1: © Shane Gross/iLCP
Hinzu kommt, dass die Meereswiesen und -wälder die Wasserbewegung bremsen. Auf diese Weise gelingt es ihnen, viele Schwebstoffe aus dem Wasser zu filtern und die Partikel sowie abgestorbenes Tier- und Pflanzenmaterial zwischen ihren Halmen und Wurzeln abzulagern. Durch diesen steten Partikeleintrag wächst das Podest, welches sich die Pflanzengemeinschaften selbst bauen, langsam in die Höhe. Mangroven und Seegraswiesen beispielsweise gewinnen im globalen Durchschnitt pro Jahr zwei bis fünf Millimeter an Höhe hinzu und können so auch die Folgen steigender Meeresspiegel abpuffern, allerdings nur so lange, wie die Ökosysteme schneller Material anhäufen, als die Pegel steigen.
Es wird jedoch nicht nur lokales Pflanzenmaterial eingelagert, sondern auch Pflanzenreste, die von Land eingetragen oder aus anderen Meeresgebieten angeschwemmt werden. Sobald das organische Material im Untergrund eingeschlossen ist, wird es konserviert, denn das Küstensediment ist sauerstoffarm und salzhaltig. Mikroben im Meeresboden fehlt somit der Sauerstoff, um die eingelagerte Biomasse zeitnah zu zersetzen.
Sowohl die Einlagerung von Kohlenstoff im Wurzelwerk als auch das luftdichte Einschließen von Tier- und Pflanzenresten führen dazu, dass die Salzmarschen, Mangrovenwälder und Seegraswiesen mit der Zeit immer mehr organisches Material unter sich anhäufen. In einigen Mangrovenwäldern besteht die obere Schicht des Meeresbodens zu 95 bis 98 Prozent aus kohlenstoffhaltigem Material.

5.2 > Während Mangroven vor allem in den Tropen und Subtropen vorkommen, bevorzugen Salzmarschen und Tangwälder kühlere Regionen. Seegraswiesen hingegen sind sowohl in niedrigen als auch in höheren Breiten zu finden.
Abb. 5.2: nach P. I. Macreadie et al., 2021, Nature Reviews Earth & Environment 2, 826–839. doi:10.1038/s43017-021-00224-1 und T. Wernberg et al., 2019, in C. Sheppard, 2019, World Seas: An Environmental Evaluation (Second Edition), Academic Press
Diese unterirdischen Kohlenstofflagerstätten sind unter Umständen mehr als zehn Meter dick und wachsen, solange die Ökosysteme darüber gedeihen. Im Idealfall bleiben sie über viele Jahrhunderte, mitunter sogar Jahrtausende erhalten. Salzmarschen, Mangrovenwälder und Seegraswiesen sind zudem um ein Vielfaches effizienter in der Aufnahme und unterirdischen Speicherung von Kohlenstoff als Wälder an Land. Im Vergleich zu tropischen Regenwäldern beispielsweise lagern sie pro Fläche und je nach Standort mitunter die fünf- bis 30-fache Menge Kohlenstoff im Untergrund ein.
Tangwälder, also Wälder aus Braunalgen, können hingegen den von ihnen gebundenen Kohlenstoff nicht direkt im Untergrund einlagern, denn Braunalgen besitzen keine Wurzeln und wachsen auf felsigem Untergrund. Stattdessen wird loses oder abgestorbenes Algenmaterial von den Meeresströmungen verfrachtet. Es wird an die Küsten gespült oder aber sinkt in die Tiefe, wo ein Teil dann im Sediment des Meeresbodens eingelagert wird.
5.3 > Mangroven, Salzmarschen und Seegraswiesen nehmen Kohlendioxid aus der Luft auf, binden den enthaltenen Kohlenstoff und lagern ihn in ihrer Biomasse sowie im Untergrund ein. Diese Karte zeigt für alle Küstenstaaten, wie viel Kohlenstoff pro Jahr die drei Ökosysteme im Durchschnitt einlagern könnten, vorausgesetzt, sie sind gesund.
Abb. 5.3: nach NOAA Climate.gov, Data: Bertram et al., 2021

Abb. 5.4: Graham MacKay

 

5.4 > Zweimal täglich werden die Salzmarschen in Northton an der Südwestküste der schottischen Atlantikinsel Lewis and Harris von der Flut über- und umspült. Die artenreichen Wiesen wachsen in geschützten Küstenbereichen, wo die Gezeiten Sandbänke bilden, auf denen die Pflanzen dann siedeln können.

Wie groß und langlebig sind die Kohlenstofflagerstätten?

Derzeit entnehmen die vegetationsreichen Küstenökosysteme der Atmosphäre und dem Meer schätzungsweise 85 bis 250 Millionen Tonnen Kohlenstoff pro Jahr. Die Spannbreite dieser Schätzung ist unter anderem deshalb so groß, weil viele Prozesse und Wechselwirkungen innerhalb der sehr komplexen Pflanzengemeinschaften und ihrer Ökosysteme noch gar nicht richtig verstanden sind. Eine offene Forschungsfrage lautet zum Beispiel, wie viel Kohlendioxid Mangroven- und Tangwälder, Salzmarschen und Seegraswiesen in verschiedenen Regionen der Erde aufnehmen und in Form organischen Kohlenstoffs einlagern und welchen Anteil sie im Verlauf ihres Lebenszyklus wieder freisetzen.
Kohlendioxid emittieren die Meereswiesen und -wälder im Zuge ihrer pflanzlichen Atmung oder wenn Seekühe, Seeigel und die vielen anderen Meeresbewohner das Pflanzenmaterial fressen und im Zuge ihres Stoffwechsels in Energie und Kohlendioxid umwandeln. Zersetzen dagegen Mikroben das im Küstensediment ein-gelagerte organische Material, entstehen Kohlendioxid sowie unter bestimmten Voraussetzungen auch Methan und Lachgas. Welche Mengen dieser beiden klimaschädlichen Gase unter welchen Bedingungen aus Küstenökosystemen freigesetzt werden, ist noch nicht gut verstanden. Fest steht jedoch Folgendes: Wo Kohlendioxid, Methan und Lachgas aus dem Küstensediment entweichen, schrumpfen die unterirdischen Kohlenstofflagerstätten der Küstenökosysteme und der Klimawandel wird vorangetrieben.
Aus diesem Grund ist es essenziell zu verstehen, für wie lange die vegetationsreichen Küstenökosysteme den von ihnen aufgenommenen Kohlenstoff wegschließen. Forschende wissen, dass die Dauer der Kohlenstoffspeicherung vom Speicherort abhängt. Kohlenstoff, den die Pflanzen als Teil ihrer oberirdischen Biomasse in Blätter, Halme, Zweige oder Äste einlagern, ist der Atmosphäre für Wochen bis Jahrzehnte entzogen. Im Gegensatz dazu können die unterirdischen, oftmals luftdicht abgeschlossenen Kohlenstofflager viele Jahrhunderte oder gar Jahrtausende überstehen, wenn die sie schützende Vegetation erhalten bleibt. In der spanischen Portlligat-Bucht beispielsweise wachsen Seegraswiesen, deren Kohlenstoffspeicher über 6000 Jahre alt sind.
5.5 > Um die Verteilung von Seegraswiesen vor der Küste der Bahamas genau zu erfassen, statteten Wissenschaftler Tigerhaie mit winzigen Sensoren und Kameras aus. Die Haie jagen in und über den Wiesen. Die von ihnen erhobenen Daten halfen herauszufinden, dass vor den Bahamas die größten Seegraswiesen der Welt wachsen – mit einer Gesamtfläche von 66 900 Quadratkilometern und damit rund 75-mal so groß wie Berlin.
Abb. 5.5: Diego Camejo/Beneath the Waves

Kohlenstoffsenke, Küstenschutz, Kinderstube: Die vielen Leistungen der Küstenökosysteme

Fachleute bezeichnen den durch Seegraswiesen, Salzmarschen, Mangroven- und Tangwälder gebundenen Kohlenstoff auch als „blauen Kohlenstoff“ (Blue Carbon). Von gesunden vegetationsreichen Küstenökosystemen aber profitiert der Mensch nicht nur allein deswegen, weil sie der Atmosphäre und dem Meer Kohlendioxid entnehmen. Als sogenannte Ökosystem-Ingenieure bilden sie einen dreidimensional strukturierten Lebensraum, in dem zahlreiche andere Tier- und Pflanzenarten des Meeres und Küstenraumes ausreichend Schutz und Nahrung finden. Berichten zufolge bieten zum Beispiel 4000 Quadratmeter Seegraswiese Rückzugsorte und Nahrung für etwa 40 000 Fische und rund 50 Millionen wirbellose Tiere wie Hummer, Muscheln und Garnelen. In ihrem Halmendickicht wächst zudem der Nachwuchs beliebter Speisefische heran, darunter Arten wie der Pazifische Hering und der Atlantische Kabeljau.
Doch damit nicht genug: Salzmarschen, Seegraswiesen, Mangroven- und Tangwälder produzieren Sauerstoff. Sie filtern Krankheitserreger, Schweb-, Schmutz- und Schadstoffe aus dem Wasser, bremsen Meeresströmungen, Wellen und Sturmfluten aus und schützen die Küsten so vor Erosion und durch die Anhäufung von Sediment vor steigenden Meeresspiegeln. Gleichzeitig liefern sie verlässlich Nahrung (Fisch, Muscheln, Krebse), tragen zur Erholung und Gesundheit der Menschen bei und ziehen vielerorts Touristen an, wodurch zusätzliche Arbeitsplätze und Einnahmequellen für die Küstenbevölkerung entstehen. Zudem haben sie in vielen Regionen der Erde eine spirituelle oder mythologische Bedeutung.
Durch diese Vielzahl an Leistungen helfen gesunde vegetationsreiche Küstenökosysteme den Küstenbewohnern, sich bestmöglich an den Klimawandel anzupassen. Fachleute bezeichnen Maßnahmen zum Schutz existierender Meereswiesen und -wälder sowie zur Wiederherstellung zerstörter Küstenökosysteme deshalb auch als Lösung mit doppeltem Gewinn (win-win solution). Sie ­helfen sowohl den Klimawandel zu mindern, als auch die Klimafolgen zu minimieren.
5.6 > Wie viel Kohlenstoff Küstenökosysteme langfristig im Untergrund einlagern, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Dazu zählen der Materialeintrag von Land oder aus anderen Meeresregionen sowie die Menge an Biomasse, die von Tieren gefressen oder von Mikroorganismen zersetzt wird.
Abb. 5.6: nach NOAA Climate.gov, graphic adapted from original by Sarah Battle, NOAA Pacific Marine Environmental Laboratory

Das Sterben der Küstenökosysteme

Trotz ihrer wichtigen Ökosystemleistungen schrumpft die Fläche vegetationsreicher Küstenökosysteme weltweit. Verantwortlich ist abermals der Mensch. Infolge von Klimawandel, Küstenentwicklung und -verbau, Land- und Aquakulturwirtschaft, Meeresverschmutung, Überfischung und anderweitiger intensiver Nutzung sind in den zurückliegenden 100 Jahren bis zu 50 Prozent aller Salzmarschen, etwa ein Drittel aller Seegraswiesen sowie etwa 35 bis 50 Prozent der Mangrovenwälder verloren gegangen. Von den weltweiten Tangwäldern verzeichnen rund 40 bis 60 Prozent sehr klare Flächenverluste.
5.7 > Seegraswiesen sind Hotspots der Artenvielfalt und bieten Schutz, Nahrung und Lebensraum für unzählige Meeresbewohner, darunter Große Fetzenfische aus der Familie der Seenadeln, Seesterne und Räuber wie das amerikanische Spitzkrokodil.
Abb. 5.7 v.l.n.r.: Jayne Jenkins/Ocean Image Bank, Jayne Jenkins/Ocean Image Bank, Amanda Cotton/Ocean Image Bank, Dimitris Poursanidis/Ocean Image Bank
Als Forschende vor Kurzem Satellitenaufnahmen vegetationsreicher Küstenökosysteme aus den Jahren 1999 bis 2019 auswerteten, erkannten sie, dass in den zwei Jahrzehnten Salzmarschen, Wattflächen und Mangrovenwälder auf einer Gesamtfläche von 13 700 Quadratkilometern verloren gegangen sind. Im gleichen Zeitraum entstanden jedoch auf einer Fläche von 9700 Quadratkilometern auch neue Küstenökosysteme – entweder, weil sie sich auf natürliche Weise angesiedelt hatten, oder aber, weil Menschen Neuanpflanzungen vornahmen. Die Verluste aber konnten dadurch nicht ausgeglichen werden. Am Ende schrumpfte die globale Ausdehnung der untersuchten Küstenökosysteme um 4000 Quadratkilometer – eine Fläche so groß wie die spanische Mittelmeerinsel Mallorca.
Wo die Ökosysteme verschwinden, zerfallen auch ihre Kohlenstofflagerstätten weitestgehend. Ein Beispiel: Durch das Abholzen von Mangrovenwäldern gingen im Zeitraum von 2000 bis 2015 weltweit 30 bis 120 Millionen Tonnen eingelagerter Kohlenstoff verloren – das heißt, im nicht mehr durch die Vegetation geschützten und stabilisierten Sediment zersetzten Mikroben das im Untergrund eingelagerte Material und gaben den Kohlenstoff in Form von Treibhausgasen wieder an die Atmosphäre ab. In Kohlendioxid umgerechnet (Kohlenstoffmenge mal 3,664) ergäbe diese Menge Treibhausgasemissionen in Höhe von 110 bis 450 Millionen Tonnen Kohlendioxid. Zum Vergleich: Die Bundesrepublik Deutschland emittierte im Jahr 2022 Treibhausgase mit dem Erwärmungspotenzial von 746 Millionen Tonnen Kohlendioxid.
5.8 > Der Mensch profitiert auf vielfache Weise von den Ökosystemleistungen vegetationsreicher Küstenökosysteme. Diese Übersicht fasst zusammen, welchen monetären Mehrwert Mangroven, Salzmarschen, Seegraswiesen und Tangwälder im Südosten Australiens für eine Küstengemeinde und deren Besucher generieren.
Abb. 5.8: nach P. I. Macreadie et al., 2021, doi:10.1038/s43017-021-00224-1

Zusatzinfo Noch stärker unter Druck: Wie der Klimawandel die Risiken für Küstenökosysteme multipliziert Zusatzinfo öffnen

Strategien zur Steigerung der Kohlendioxid-Entnahme durch die Wälder und Wiesen des Meeres

Es gibt allerdings auch gute Nachrichten: Geschädigte oder verloren gegangene Mangrovenwälder und Salzmarschen lassen sich wiederherstellen, wie vorbildhafte Restaurationsprojekte belegen. Seegraswiesen neu anzulegen, ist hingegen noch sehr aufwendig und weitaus seltener von Erfolg gekrönt. Hier besteht noch viel Forschungs- und Entwicklungsbedarf, ebenso wie zur Wiederherstellung von Tangwäldern. Nichtsdestotrotz hoffen Forschende, die Kohlendioxidaufnahme und Kohlenstoffeinlagerung der Salzmarschen, Seegraswiesen, Mangroven- und Tangwälder langfristig durch drei Maßnahmenpakete zu erhöhen. Diese eint, dass sie alle drei das Wachstum der Pflanzengemeinschaften fördern und somit deren Fähigkeit, Fotosynthese zu betreiben, Kohlenstoff zu binden und diesen langfristig im Meeresboden einzulagern.
Zu diesen Maßnahmen zählen:
  • der Schutz und verbesserte Umgang mit bestehenden vegetationsreichen Küstenökosystemen: Wo Flüsse uneingeschränkt Richtung Meer fließen können, ihr Wasser nicht mehr durch Dünger und andere Nähr- oder Schadstoffe verschmutzt wird und Dämme sie nicht daran hindern, Sand und andere Sedimente in die Küstengewässer einzutragen, finden Mangroven und Seegräser deutlich bessere Lebensbedingungen vor als in Küstenregionen, in denen diese Voraussetzungen nicht gegeben sind. Benötigt werden außerdem intakte Nahrungsnetze, sodass zum Beispiel genügend Räuber vorhanden sind, welche die Zahl der potenziellen Schädlinge gering halten;
  • die Wiederherstellung von Meereswiesen und -wäldern, die durch menschliche Eingriffe verloren gegangen sind: Dazu gehören zum Beispiel das Wiederanpflanzen von Mangrovenwäldern und Seegraswiesen sowie das Abtragen von Deichen, sodass auf den neu entstehenden Gezeitenflächen wieder Salzmarschen angelegt werden können;
  • die Erweiterung bestehender Ökosysteme: Dazu müssten Mangrovenwälder, Seegraswiesen, Tangwälder und Salzmarschen auch in Gebieten neu angelegt werden, in denen sie bislang auf natürliche Weise nicht vorkommen und auch in der Vergangenheit möglicherweise nie vorgekommen sind. Außerdem müssten Pflanzenarten ausgewählt und zusammengestellt werden, die als Artengemeinschaft die gewünschten Ökosystemleistungen am effizientesten erfüllen würden.
5.9 > Am südlichen Zipfel der Meeresbucht von San Francisco arbeiten Forschende und Umweltschützer Hand in Hand, um auf einer Fläche von mehr als 60 Quadratkilometern Salzwiesen wiederherzustellen, die im Zuge des Goldrausches und der industriellen Entwicklung zerstört worden sind. Erste Erfolge können sich sehen lassen, wie dieser Vergleich von Satellitenaufnahmen aus den Jahren 2002 und 2015 zeigt.
Abb. 5.9: NASA Earth Observatory images by Joshua Stevens, using Landsat data from the U.S. Geological Survey
Abb. 5.9: NASA Earth Observatory images by Joshua Stevens, using Landsat data from the U.S. Geological Survey
Fachleute bezeichnen den Ansatz, Ökosysteme zu erweitern oder neu anzulegen, auch als Ökosystemdesign. Mit ihm, so die Annahme, ließen sich drei Ziele gleichzeitig erreichen:
  • Die Kohlendioxidaufnahme vegetationsreicher Küstenökosysteme könnte gesteigert und ein Teil der vom Menschen verursachten Kohlendioxid-Restemissionen so ausgeglichen werden.
  • Die Artenvielfalt in den Küstengewässern könnte bei richtiger Herangehensweise gesteigert werden.
  • Mensch und Natur hätten aufgrund der vielen zusätzlichen Ökosystemleistungen der Küstenökosysteme (Nahrung, Wasserqualität, Küstenschutz etc.) deutlich bessere Möglichkeiten, sich an den Klimawandel anzupassen und seinen Gefahren zu trotzen.
Allerdings würde eine Ausweitung vegetationsreicher Küstenökosysteme stets zulasten anderer benachbarter lokaler Ökosysteme gehen, so zum Beispiel zulasten von Sandstränden und Wattflächen, wenn diese mit Mangroven bepflanzt oder aber in Salzmarschen umgewandelt werden.
Eine Erweiterung brächte zudem Einschnitte für das Leben der Küstenbevölkerung mit sich, gerade weil der Mensch rund um den Erdball Küstengebiete intensiv nutzt und in vielen besiedelten Regionen nur wenig freie Flächen zur Verfügung stehen.
Denkbar wäre an deutschen Küsten zum Beispiel, dass Deiche zurückgebaut und die dahinterliegenden Weideflächen aufgegeben werden müssten, um mehr Platz für Salzmarschen zu schaffen. Meeresbuchten, in denen Seegraswiesen neu angepflanzt werden, müssten sowohl für die Grundnetzfischerei als auch vielleicht für den Bootsverkehr gesperrt werden – zumindest zeitweise. Um neue Tangwälder entlang der Nordseeküste anzusiedeln, müssten viele Tonnen Felsgestein in das Meer verbracht werden, denn Braunalgen wachsen nur auf steinigem Untergrund.
Bisherige Erfahrungen mit Restaurationsprojekten belegen: Maßnahmen zum Natur- und Klimaschutz lassen sich nur gemeinsam erfolgreich umsetzen, wenn die Interessen der lokalen Bevölkerung von Anfang an mit berücksichtigt werden, diese in alle Entscheidungsprozesse eingebunden ist, mit eigenem Wissen und Expertise beitragen kann und im besonderen Maße von den Schutzmaßnahmen profitiert.

Nützliches Werkzeug zur Minderung des Klimawandels?

Investitionen in den Schutz, die Wiederherstellung und die Erweiterung der Meereswiesen und -wälder zahlen sich klimapolitisch nur dann aus, wenn sie tatsächlich zu einer zusätzlichen Kohlenstoffaufnahme und langfristigen -einlagerung im Meeresboden führen. Dieser Effekt muss messbar sein und konkreten Maßnahmen zugeschrieben werden können. Andernfalls wird es schwierig, die Verantwortlichen für ihre Maßnahmen zu entlohnen – etwa, indem sie Zertifikate auf die zusätzlich aufgenommene Menge Kohlendioxid ausstellen und mit diesen handeln dürfen.
Außerdem muss sichergestellt werden, dass der zusätzlich eingelagerte Kohlenstoff dauerhaft im Meeresboden verbleibt und nicht nach wenigen Jahren von Mikroorganismen zersetzt und abgebaut wird. Als „dauerhaft eingelagert“ bezeichnen Klimafachleute Kohlenstoff, welcher der Atmosphäre für mindestens 25 Jahre, bestenfalls mehrere Hundert Jahre lang sicher entzogen wird. Ob vegetationsreiche Küstenökosysteme dazu in der Lage sind, wird der Mensch mit ausgeklügelten Beobachtungssystemen überwachen müssen – und zwar über ebenso lange Zeiträume.
Bereits heute weiß man, dass nach der Wiederherstellung oder Neuanpflanzung einer Seegraswiese oder eines Mangrovenwaldes mindestens zehn bis 20 Jahre vergehen, bis das neue Ökosystem genauso viel Kohlenstoff aufnimmt und einlagert wie gesunde, angestammte Meereswiesen und -wälder. Das bedeutet für jedes neu angelegte vegetationsreiche Küstenökosystem, dass die Verantwortlichen erst nach ein bis zwei Jahrzehnten überprüfen können, ob die Entnahmeleistung dieses neuen oder erweiterten Ökosystems tatsächlich so hoch ist wie beim Projektstart erhofft.
Abgesehen von diesen Herausforderungen listen Fachleute sieben weitere schwerwiegende Argumente auf, die eine realistische Einordnung und solide Bewertung von Kohlendioxid-Entnahmeverfahren, basierend auf der Wiederherstellung, Neuanlage oder Erweiterung vegetationsreicher Küstenökosysteme, bislang erschweren. Zu diesen zählen:
  1. enorme regionale Unterschiede in der Kohlenstoffaufnahme und -einlagerung einzelner Ökosysteme,
  2. fehlende Standards bei der Messung der Kohlenstoffeinlagerung,
  3. offene Fragen zur Herkunft des eingelagerten organischen Materials,
  4. fehlendes Wissen zur Produktion und Freisetzung von Methan und Lachgas,
  5. Unsicherheiten darüber, wie viel Kohlendioxid freigesetzt oder aber gebunden wird, wenn die kalkbildenden Bewohner der Küstenökosysteme ihre Kalkschalen und Skelette aufbauen oder diese sich wieder auflösen,
  6. fehlendes Detailwissen über die künftigen Auswirkungen des Klimawandels und anderer vom Menschen verursachter Stressfaktoren auf die Meereswiesen und -wälder sowie
  7. offene Fragen zu den Kosten und der Skalierbarkeit potenzieller Wiederherstellungs- und Erweiterungsmaßnahmen.

Große regionale Unterschiede in der Kohlenstoffeinlagerung

Die Kohlenstoffaufnahme und -einlagerung der Meereswiesen und -wälder wird von verschiedenen biologischen, chemischen und physikalischen Umweltfaktoren beeinflusst. Diese wirken nicht nur auf die Fotosynthese-Leistung der Pflanzengemeinschaften vor Ort, sondern bestimmen auch, in welchen Mengen organisches Material jeweils gefiltert, abgelagert, zersetzt oder aber dauerhaft im Küstensediment eingeschlossen wird.
Aus dieser Abhängigkeit von den lokalen Umweltbedingungen resultieren große Unterschiede in der Kohlenstoffmenge, welche die einzelnen Meereswiesen und -wälder tatsächlich aufnehmen und einlagern. Fachleute sprechen an dieser Stelle von einer hohen Variabilität der Kohlenstoffspeicherung. So gibt es zum Beispiel sehr produktive Salzwiesen, die bis zu 600-mal mehr Kohlenstoff einlagern als wenig produktive Salzwiesen. Bei Seegräsern betragen die Unterschiede mitunter das 76-Fache, bei Mangroven das 19-Fache.
Auf Basis dieses Wissens schlussfolgern Fachleute, dass eine Wiederherstellung oder Erweiterung vegetationsreicher Küstenökosysteme zum Zwecke einer verstärkten Kohlendioxid-Entnahme aus der Atmosphäre nur an jenen Standorten sinnvoll und zielführend sein wird, an denen die Voraussetzungen für hohe Einlagerungsraten gegeben sind oder aber durch gezielte Eingriffe des Menschen hergestellt werden können. Dazu aber braucht es detaillierte Datensätze über die Kohlenstoff-Einlagerungsraten aller Meereswiesen und -wälder. Entsprechende Messungen haben bisher allerdings nur an wenigen ausgewählten Standorten stattgefunden.

Fehlende Standards bei der Messung der Kohlenstoffeinlagerung

Die Aufnahme und Einlagerung von Kohlenstoff direkt zu messen, ist sowohl an Land als auch in Küstenregionen schwierig, langwierig und technisch aufwendig. Aus diesem Grund wurden die meisten Angaben zur Kohlenstoffeinlagerung vegetationsreicher Küstenökosysteme bislang durch indirekte Messungen erhoben. Das heißt, Forschende nahmen Proben aus dem Küstensediment – meist bis in eine Tiefe von einem Meter –, untersuchten deren Kohlenstoffgehalt und berechneten dann mithilfe verschiedener Parameter wie Strömungsgeschwindigkeit und Sedimentationsrate die durchschnittliche Kohlenstoffeinlagerung.
Die Fehlerquote dieser indirekten Methoden kann aus verschiedenen Gründen jedoch sehr hoch sein. Ein Beispiel: Wird in einem Fluss mit großen Mangrovenwäldern in seinem Delta eines Tages ein Staudamm errichtet, reduzieren sich die Fließgeschwindigkeit und die Sedimentlast des Wassers. Für die Mangroven im Flussdelta bedeutet diese Veränderung, dass ihnen fortan deutlich weniger Material für den Einschluss von Tier- und Pflanzenresten im Meeresboden zur Verfügung steht. Die Wälder wachsen demzufolge langsamer in die Höhe. Gleichzeitig sagt die Gesamtgröße ihrer Kohlenstofflagerstätte mit der Zeit immer weniger über ihre aktuelle Kohlenstoff-Einlagerungsrate aus – es sei denn, die entsprechenden Messungen werden mit Methoden durchgeführt, die noch nicht weltweit als Standard etabliert sind.
Dieselbe Aussage gilt für Küstenfeuchtgebiete, in denen der Mensch beginnt, Ackerbau zu betreiben, oder aber wenn sich infolge von Klimawandel oder menschlicher Nutzung die Wassermenge oder -qualität in Flussdeltas und Küstengewässern verändert. Eine ebenfalls zu berücksichtigende Größe ist die sogenannte Bioturbation, also das Maß, in dem auf oder im Boden lebende Organismen den Untergrund und damit die Kohlenstofflagerstätten durchwühlen. Je größer die Bioturbation ist, um so eher kann das eingeschlossene organische Material zersetzt und abgebaut werden. Zudem fällt es Fachleuten bei großer Bioturbation schwerer, die Sedimentablagerungsrate zu bestimmen. Lassen Forschende die Bioturbation bei ihren Berechnungen außen vor, kann die Kohlenstoff-Einlagerungsrate zu 50 bis 100 Prozent überschätzt werden. Eine Unterschätzung ist ebenfalls möglich. Kohlenstoff-Einlagerungsdaten aus Bodenproben sollten deshalb immer mit besonderer Zurückhaltung interpretiert werden, sagen Fachleute.

Die Frage nach der Herkunft des eingelagerten organischen Materials

Um eines Tages bestimmen zu können, welche Menge Kohlenstoff infolge einer einzelnen Blue-Carbon-Maßnahme zusätzlich entnommen und im Untergrund eingelagert wurde, muss man wissen, woher das organische Material stammt, welches im Küstensediment eingeschlossen wurde. Wurde es von der Seegraswiese oder Salzmarsch vor Ort produziert oder durch Wind und Meeresströmungen aus der Ferne herantransportiert? Verschiedene Untersuchungen zeigen, dass der Anteil des aus der Ferne eingetragenen Materials hoch sein kann.
In Mangrovenwäldern Vietnams beispielsweise betrug er 24 bis 55 Prozent des im Untergrund eingelagerten Kohlenstoffs. Im Falle australischer Seegraswiesen waren es sogar 70 bis 90 Prozent. Wenn so viel Material von außen eingetragen wird, so argumentieren einige Fachleute, bestehe die Gefahr, dass das Kohlendioxid-Entnahmepotenzial der lokalen Küstenökosysteme überschätzt werde. Schließlich wurde der Kohlenstoff anderswo der Atmosphäre entnommen und in Form organischen Materials gebunden. Zugegebenermaßen ist dieses Zuschreibungsdetail eher ein statistisches Problem, welches keine Rolle spielt, wenn es darum geht, wie viel organisches Material eingelagert wird. Relevant wird es erst, wenn eines Tages diskutiert wird, wer sich die Kohlenstoff-Entnahme gutschreiben lassen kann.
5.10 > Seegraswiesen wiederherzustellen ist aufwendig und oftmals teuer, weil die Gräser von Hand verpflanzt werden müssen. Bei einem Restaurationsprojekt an der Atlantikküste des US-Bundesstaates Virginia nutzen die Organisatoren Wäschekörbe, um die Seegrassetzlinge vom Zuchtbecken an ihren künftigen Standort zu transportieren.
Abb. 5.10: Shane Gross

Die Produktion und Freisetzung von Methan und Lachgas

Werden Tier- und Pflanzenreste luftdicht im Küstensediment eingeschlossen, entstehen bei einer mikrobiellen Zersetzung dieses organischen Materials die klimaschädlichen Treibhausgase Methan (CH4) und Lachgas (Distickstoffmonoxid, N2O). Schätzungen zufolge emittieren die vegetationsreichen Küstenökosysteme der Welt zusammen mehr als fünf Millionen Tonnen Methan pro Jahr. Entspräche diese Menge der Wahrheit, würde sie ausreichen, um den positiven Klimaeffekt der Meereswiesen und -wälder infolge der Kohlenstoffaufnahme und -einlagerung aufzuheben.
Ob die Küstenökosysteme aber tatsächlich so viel Methan emittieren, kann bislang noch niemand sagen, weil wichtiges Grundlagenwissen zu den Abbau- und Freisetzungsprozessen im Küstensediment der Meereswiesen und -wälder fehlt. Entsprechende Studien werden derzeit in verschiedenen Forschungsprojekten durchgeführt. Für Entscheidungen über einen möglichen Einsatz dieser meeresbasierten CDR-Verfahren ist es nämlich unabdingbar zu verstehen, ob und – wenn ja – wie sich durch die Wiederherstellung oder Erweiterung vegetationsreicher Küstenökosysteme deren Methan- und Lachgasemissionen verändern. Sollte es eines Tages tatsächlich zu entsprechenden Maßnahmen kommen, müssten zudem engmaschige Beobachtungsnetzwerke aufgebaut werden, um die Emissionsbilanz der neu angelegten oder aber erweiterten Meereswiesen und -wälder flächendeckend zu überwachen.

Emissionsbilanz der Kalkbildung und -auflösung in vegetationsreichen Küstenökosystemen

Wenn kalkbildende Organismen wie Korallen, Kalkalgen, Kammerlinge (Foraminiferen), Muscheln und Flügelschnecken ihre Skelette und Schalen aus Kalziumkarbonat (Kalk, CaCO3) bilden, entsteht bei der entsprechenden chemischen Reaktion Kohlendioxid, welches im Wasser gelöst wird. Diese Freisetzung führt dazu, dass die Kohlendioxidkonzentration im Wasser steigt und das Treibhausgas in die Atmosphäre entweichen kann, wenn das Wasser eines Tages zur Meeresoberfläche aufsteigt. Der umgekehrte Effekt wird erzielt, wenn Kalk sich im Meerwasser löst. Im Zuge der entsprechenden Reaktion werden jene chemischen Lösungsprodukte freigesetzt, die benötigt werden, um im Wasser gelöstes Kohlendioxid chemisch zu binden. Das heißt, die Kohlendioxidkonzentration im Wasser sinkt und der Ozean kann neues Kohlendioxid aus der Atmosphäre aufnehmen.
Vegetationsreiche Küstenökosysteme sind Lebensraum für viele kalkbildende Organismen. Aktuell aber diskutiert die Wissenschaft noch darüber, wie sich deren Kalkbildung (Kohlendioxid-Freisetzung) sowie mögliche Auflösungsprozesse der Kalkschalen und -skelette (Kohlendioxid-Bindung) auf die Kohlenstoff-Gesamtbilanz der Küstenökosysteme auswirken und welche Folgen für das Klima gegebenenfalls daraus resultieren. Messungen vor der Küste des US-Bundesstaates Florida beispielsweise haben ergeben, dass die Meeresorganismen in einer der größten Seegraswiesen der Welt im Untersuchungszeitraum mehr Kalk bildeten, als sich durch chemische Reaktionen wieder auflöste. Als Ergebnis setzte das Küstenökosystem schätzungsweise dreimal mehr Kohlendioxid frei, als es der Atmosphäre allein durch die Einlagerung der Schalen- und Skelettreste im Küstensediment entziehen konnte.

Ungewisse Folgen des Klimawandels für die Meereswiesen und -wälder

Nach Angaben des Weltklimarates haben klimabedingte Veränderungen wie steigende Temperaturen, zunehmende und intensivere Meereshitzewellen, Ozeanversauerung, Stürme und der Anstieg der Meeresspiegel überwiegend schädliche Auswirkungen auf Küstenökosysteme und gefährden deren Fortbestand als Kohlenstofflagerstätte und Lieferant zahlreicher weiterer Ökosystemleistungen. Eine möglicherweise verstärkte Aufnahme von Kohlendioxid aus der Atmosphäre ist wahrscheinlich nur dort zu erwarten, wo sich die Meereswiesen und -wälder landeinwärts verlagern, sofern sie den Platz dafür haben, und dann gegebenenfalls größere Ökosysteme bilden als zuvor. Sollte eine großflächige Verlagerung aus Platzgründen nicht möglich sein und die Ökosysteme schrumpfen oder verschwinden, wären auch ihre Kohlenstofflagerstätten im Küstensediment in Gefahr. Schätzungen zufolge könnten schlimmstenfalls Kohlenstoffspeicher in einem Umfang von 3,4 Milliarden Tonnen Kohlenstoff bis zum Jahr 2100 verloren gehen.
Von den vier genannten vegetationsreichen Küstenökosystemen reagieren Seegraswiesen am empfindlichsten auf steigende Temperaturen, sodass ihnen schon heute, bei einer globalen Erwärmung von 1,15 Grad Celsius, insbesondere Meereshitzewellen großen Schaden zufügen. Infolge solcher wochen- bis monatelang andauern den Temperaturextreme sind in den zurückliegenden Jahren zum Beispiel in der US-amerikanischen Chesapeake Bay, im westlichen Mittelmeer sowie in der westaustralischen Shark Bay 36 bis 80 Prozent der lokalen Seegraswiesen eingegangen. Weil Hitzewellen mit zunehmendem Klimawandel häufiger auftreten, länger anhalten und höhere Temperaturen erreichen, werden die Klimarisiken und das Schadensausmaß in den kommenden Jahren weiter wachsen. Forschende gehen davon aus, dass viele der bislang existierenden Seegraswiesen absterben werden, wenn die globale Oberflächentemperatur um mehr als 2,3 Grad Celsius steigt.
5.11 > Die Klimarisiken für Küstenökosysteme steigen mit zunehmender globaler Erwärmung. Kelpwälder und Seegraswiesen sind temperaturempfindlicher als Salzmarschen sowie Mangroven und daher bereits bei einem Temperaturanstieg von 1,5 bis zwei Grad Celsius moderaten bis hohen Risiken ausgesetzt.
Abb. 5.11: nach IPCC, 2022, Climate Change 2022: Impacts, Adaptation and Vulnerability. doi:10.1017/9781009325844, Chapter 3, Supplementary Material, Figure 1 und Figure TS.4
Die Auswirkungen des Klimawandels für Salzmarschen bewegen sich bei 1,2 Grad Celsius Erwärmung auf mittlerem Niveau; ab einer globalen Erwärmung von 3,1 Grad Celsius aber prognostizieren Fachleute auch für sie schwere Schäden – das heißt unter anderem, dass die Pflanzengemeinschaften dort aussterben, wo sie infolge des Meeresspiegelanstiegs künftig dauerhaft überflutet werden.
Für Mangroven liegen die Schwellenwerte für mittlere und schwere Auswirkungen bei zwei und 3,7 Grad Celsius globaler Erwärmung. Dennoch gibt es zum Beispiel in Australien schon heute Mangrovenwälder, denen die Klimaveränderungen zusetzen, insbesondere dann, wenn Hitzewellen, Dürren und ein kurzfristiger Rückgang des Meeresspiegels, etwa durch Strömungsveränderungen, zeitgleich auftreten. Anderswo breiten sich Mangroven seit Jahrzehnten polwärts aus und mischen sich mit Salzmarschen oder überwachsen diese. Neue Forschungsergebnisse aus den zentralen Tropen weisen zudem darauf hin, dass eine Erwärmung von bis zu zwei Grad Celsius zumindest in dieser Region zu einer verstärkten Kohlenstoffeinlagerung durch Mangroven führen dürfte.
Aktuelle und künftige Klimafolgen müssen bei der Wiederherstellung und Erweiterung von Küstenökosystemen von Anfang an mit berücksichtigt werden, auch wenn es Fachleuten noch sehr schwer fällt, Vorhersagen über die temperaturbedingte Artenwanderung zu machen. Daher empfehlen sie, Projekte zur Wiederherstellung oder Neuansiedlung der Meereswiesen und -wälder vor allem an den kühleren Rändern ihres aktuellen Verbreitungsgebietes durchzuführen.
Abb. 5.12: Antonio Busiello/Getty Images

 

5.12 > Mehr als 1000 Tier- und Pflanzenarten leben in den Tangwäldern rund um die Channel Islands of California, einer Inselgruppe vor der Pazifikküste des US-Bundesstaates Kalifornien. Von den weltweit 27 Tangarten wachsen allein neun in diesem Meeresgebiet, darunter auch die größte aller Braunalgen, der Riesentang (Macrocystis pyrifera).

Anfälligkeit für andere menschengemachte Störungen und Stressfaktoren

Selbst wenn es der Menschheit gelingen sollte, den Klimawandel auf weit unter zwei Grad Celsius zu begrenzen, wäre der Fortbestand vieler Küstenökosysteme sowie der Erfolg von Restaurations- oder Neuanpflanzungsprojekten durch vielerlei andere menschengemachte Störungen oder Stressfaktoren gefährdet. Dazu zählen vor allem Landnutzungsänderungen wie Küstenverbauungen im Zuge der Ausbreitung der Küstenstädte, das Abholzen von Mangrovenwäldern, beispielsweise für den Bau von Teichanlagen für Aquakultur, die Eindeichung und landwirtschaftliche Nutzung von Salzmarschen im Gezeitenbereich sowie die Überdüngung von Küstengewässern durch den Eintrag von Düngemitteln und Abwässern.
Ob Maßnahmen zur Wiederherstellung oder Neuanlage von Salzmarschen, Seegraswiesen, Tang- und Mangrovenwäldern erfolgreich sind, hängt zudem davon ab, ob der Standort und die eingesetzten Pflanzenarten richtig gewählt und die Rechte, Bedürfnisse und das Wissen der lokalen Bevölkerung bei der Planung und Umsetzung berücksichtigt wurden. Schließlich tragen die Menschen vor Ort die Verantwortung dafür, dass die Meereswiesen und -wälder langfristig geschützt und auf nachhaltige Weise genutzt werden. Fachleute fordern zudem ausreichend Geld, um Beobachtungssysteme zu installieren und Schutzmaßnahmen umzusetzen, sodass sichergestellt werden kann, dass die vegetationsreichen Küstenökosysteme ihre wichtige Klimafunktion auch über einen langen Zeitraum erfüllen.

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Wären Erweiterungs- und Wiederherstellungsmaßnahmen wirtschaftlich sinnvoll und flächendeckend einsetzbar?

Ob sich Maßnahmen zur Erweiterung oder Wiederherstellung von Salzmarschen, Seegraswiesen, Tang- und Mangrovenwäldern wirtschaftlich lohnen, hängt davon ab, aus welcher Perspektive Fachleute die Leistungen der Küstenökosysteme bewerten. Konzentrieren sie sich einzig und allein auf die mögliche verstärkte Kohlendioxidaufnahme wiederhergestellter oder erweiterter Meereswiesen und -wälder oder berücksichtigen sie auch die vielen weiteren Leistungen, welche die Ökosysteme für den Menschen erbringen? Bei beiden Ansätzen gibt es nach Aussage von Experten zahlreiche Unsicherheiten. Zu diesen zählen zum einen der schwierige Nachweis einer tatsächlichen zusätzlichen Kohlendioxidaufnahme. Zum anderen variieren die Kosten für Neuanpflanzungen oder Erweiterungen je nach Vegetationstyp und Küstenregion enorm. Das liegt zumeist an den unterschiedlichen verwendeten Methoden; an den Löhnen für die erforderlichen Taucher, Fachleute und Hilfsarbeitenden sowie daran, ob die Kosten einer Langzeitbeobachtung des wiederhergestellten oder aber erweiterten Küstenökosystems mit einkalkuliert wurden oder nicht.
Fraglich ist zudem, welcher Anteil der vom Menschen zerstörten Meereswiesen und -wälder sich tatsächlich wiederherstellen ließe – Experten sprechen an dieser Stelle von der Skalierbarkeit der Restaurationsmaßnahmen. Große Küstenabschnitte, in denen früher Salzmarschen, Seegraswiesen oder Mangrovenwälder wuchsen, sind heutzutage bebaut, eingedeicht oder aber werden landwirtschaftlich genutzt. Das heißt, es fehlt schlichtweg der Platz für Neuanpflanzungen, wenn diese ehemaligen Flächen nicht wieder freigegeben werden können.
Gegen eine solche Freigabe spricht zum Beispiel, dass Küstenländereien mit hohem Restaurationspotenzial vielerorts von Kleinbauern genutzt werden, deren gesamtes Einkommen von genau jenen Flächen abhängt. Müssten die Bauernfamilien ihr Land aufgeben, verlören sie ihre Lebensgrundlage. Aus diesen und anderen Gründen fällt nach Auffassung einiger Experten zum Beispiel in Südostasien die Fläche, auf der sich am Ende tatsächlich Mangrovenwälder wiederherstellen oder aber neu anpflanzen ließen, in der Realität viel kleiner aus als angenommen. Ihr Anteil liegt je nach Region bei lediglich 5,5 bis 34,2 Prozent der theoretisch möglichen Küstengebiete, wenn man alle sozioökonomischen Argumente gegen eine Renaturierung berücksichtigt.
Andere Fachleute beurteilen das Restaurationspotenzial optimistischer. In einer globalen Analyse zum Zustand und zum Wiederherstellungspotenzial der Mangrovenwälder kamen Forschende im Jahr 2018 zu dem Schluss, dass Mangroven nur an jenen einstigen Standorten nicht wieder neu angepflanzt werden können, wo Bauten errichtet wurden (0,2 Prozent der verlorenen Mangrovenfläche im Zeitraum 1996 bis 2016) oder ihr einstiger Lebensraum nun dauerhaft von Wasser überspült ist (16 Prozent der verlorenen Mangrovenfläche im Zeitraum 1996 bis 2016). Demnach beläuft sich die Fläche, auf der Mangrovenwälder einst standen und nun wiederhergestellt werden könnten, auf insgesamt 8120 Quadratkilometer. Auf 81 Prozent dieser Flächen seien die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Neuanpflanzung sogar sehr gut, so die Fachleute.
5.14 > Drei der vier Küstenökosysteme wachsen auf weichem Untergrund, bilden Wurzeln und sind daher in der Lage, Kohlenstoff im Untergrund anzureichern. Tange hingegen siedeln auf Felsen und können den von ihnen gebundenen Kohlenstoff nur in ihrer Algenbiomasse speichern.
Tab. 5.14: nach CDRmare

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Kein Heilsbringer, aber lohnendes Werkzeug am richtigen Ort

Blue-Carbon-Spezialisten streiten noch darüber, welche Schlussfolgerungen aus den genannten Unsicherheiten zur Machbarkeit und langfristigen Wirksamkeit einer großflächigen Wiederherstellung und Erweiterung vegetationsreicher Küstenökosysteme gezogen werden sollten. Skeptiker bezeichnen die existierenden Blue-Carbon-Ansätze als zu unausgegoren, um sie als Grundlage für nationale Entnahmeziele zu nutzen oder aber in den Emissionszertifikate-Handel mit einzubeziehen. Zur Untermauerung ihres Standpunktes verweisen sie auf die vergleichsweise große Spannbreite zum zusätzlichen Kohlendioxid-Entnahmepotenzial der Meereswiesen und Meereswälder. Je größer diese Spannbreite nun ausfällt, desto ungewisser ist auch das tatsächliche Entnahmepotenzial.
Andere Experten hingegen nehmen diese Spannbreite zum Anlass, einmal genauer hinzuschauen. Einigen Studien zufolge könnten geschützte und wiederhergestellte Küstenökosysteme der Atmosphäre pro Jahr zusätzliche 0,06 bis 2,1 Milliarden Tonnen Kohlendioxid entnehmen. Diese Entnahmemenge wiederum entspricht in etwa 0,02 bis 6,6 Prozent der weltweiten Kohlendioxidemissionen aus dem Jahr 2020 und würde keineswegs ausreichen, die prognostizierten Restemissionen von mehreren Milliarden Tonnen Kohlendioxid und anderen Treibhausgasen auszugleichen. Das heißt, mit Blue-Carbon-Ansätzen allein ließe sich das große Ziel der globalen Treibhausgasneutralität selbst dann nicht erreichen, wenn parallel alle bekannten Maßnahmen umgesetzt werden würden, mit denen sich menschengemachte Treibhausgasemissionen verhindern ließen.
Die aktuelle Forschung zur Aufnahme und Speicherung von Kohlendioxid durch Salzmarschen, Seegraswiesen, Mangroven- und Tangwälder belegt allerdings auch, dass es durchaus Küstengebiete gibt, in denen die Meereswiesen und -wälder im hohen Maß Kohlenstoff einlagern und auf diese Weise maßgeblich zur Minderung der Treibhausgaskonzentration in der Erdatmosphäre beitragen. Den Grundstein dafür legen jedoch die lokalen Umweltbedingungen, die von Standort zu Standort stark variieren und die großen Unterschiede im Kohlendioxid-Entnahmepotenzial erklären. Es sei deshalb falsch, Küstenökosystemen die Fähigkeit, zusätzliches Kohlendioxid in bedeutsamen Mengen aufzunehmen, grundsätzlich abzusprechen. Stattdessen stehe die Forschung vor der Aufgabe, für jedes einzelne Küstenökosystem zu untersuchen, in welchem Maß es Kohlenstoff aufnimmt, einlagert und gegebenenfalls wieder freisetzt und inwiefern es auch in einer wärmeren Welt in der Lage wäre, diese Entnahme- und Speicherfunktion zu erfüllen. Erst wenn überhaupt ausreichend Datenmaterial zum Kohlenstoffkreislauf der örtlichen Salzmarschen, Seegraswiesen, Mangroven- oder Tangwälder vorläge, könne entschieden werden, ob in diesen Gebieten Neuanpflanzungen zur Wiederherstellung oder aber Erweiterung der Meereswiesen und -wälder sozialverträglich möglich und aus Emissionssicht auch tatsächlich Erfolg versprechend wären – das heißt, ob sie zu einer zusätzlichen Kohlendioxid-Entnahme führen würden. Optimistischen Schätzungen zufolge wäre dies in so vielen Küstengebieten der Fall, dass sich im Idealfall die aktuelle Fläche der weltweiten Meereswiesen und -wälder bis zum Jahr 2050 um 30 bis 50 Prozent erweitern ließe.
Sollte sich diese Hoffnung nicht erfüllen und die zusätzlich gewonnenen Vegetationsflächen am Ende kleiner ausfallen, würden Mensch und Natur dennoch auf vielfache Weise von gesunden und produktiven Küstenökosystemen profitieren. Ihre vielen Zusatzleistungen machen die Salzmarschen, Seegraswiesen, Mangroven- und Tangwälder nämlich zu einem unbezahlbaren Überlebensgaranten für Abermillionen Menschen und noch mehr Meeresorganismen. Aus diesem Grund erfahren Schutz- und Restaurationsmaßnahmen in der Regel auch eine breite gesellschaftliche Unterstützung.
Die Wissenschaft spricht in Hinblick auf Blue-Carbon-Ansätze von Maßnahmen, die nur wenige Nachteile mit sich bringen und deshalb auch kaum Bedenken auslösen (low-regret measures). Zudem sind zumindest die Restaurationsmethoden für Mangroven und Salzmarschen technisch so weit ausgereift, dass ein Einsatz theoretisch möglich wäre und sich durch die Verwaltungseinheiten und politischen Institutionen vor Ort auch gut steuern ließe.
Investitionen in wirksame und wissenschaftsbasierte Schutz- und Wiederherstellungsprojekte für Salzmarschen, Seegraswiesen, Mangroven- und Tangwälder zahlen sich daher heute schon aus. Solche Maßnahmen werden in einer wärmer werdenden Welt dringender benötigt als je zuvor. Textende