Der Kampf um den Lebensraum Küste
Die bange Frage, wie schlimm es wird
Die vom Menschen durch intensive Nutzung stark in Mitleidenschaft gezogenen Küstenräume geraten durch den Klimawandel immer mehr unter Stress. Es stellt sich die Frage, ob oder inwieweit diese auch in den kommenden Jahrzehnten bis Jahrhunderten ihre elementare Bedeutung als Lebens- und Wirtschaftsraum behalten können oder ob sie sich vielmehr zu einer Bedrohung des Menschen entwickeln. Offen ist auch, wie stark sich die Küstenökosysteme und Lebensräume wie zum Beispiel Mangroven, Korallenriffe, Seegraswiesen und Salzmarschen verändern werden, die vielerorts Lebens- und Nahrungsgrundlage der Küstenbewohner sind. Mit verschiedenen Studien haben Wissenschaftler in den vergangenen Jahren versucht, das Ausmaß der vom Meeresspiegelanstieg ausgehenden Gefährdung abzuschätzen. Um die gefährdete Fläche entlang der Küsten erfassen zu können, muss man zunächst analysieren, wie hoch die Landflächen weltweit über dem Meeresspiegel liegen. Das ist schwierig, weil es für viele Küstenregionen bisher noch keine verlässlichen topographischen Karten gibt. Grob geschätzt leben weltweit mehr als 200 Millionen Küstenbewohner unterhalb von 5 Metern (über Normalnull). Diese Zahl wird bis zum Ende des 21. Jahrhunderts auf schätzungsweise 400 bis 500 Millionen ansteigen.
- 3.12 > Der Zyklon Aila traf Bangladesch im Jahr 2009 mit voller Wucht. Tausende Menschen verloren ihr Zuhause. Diese Frau rettete sich mit ihrer fünfköpfigen Familie in einen Unterstand, nachdem die aufgepeitschten Wassermassen einen Damm durchbrochen hatten.
- Darüber hinaus werden in diesem Zeitraum die Millionenstädte an den Küsten weiterwachsen. Neue Städte kommen hinzu – insbesondere in Asien. Für Europa schätzt man, dass bei einem Meeresspiegelanstieg von 1 Meter etwa 13 Millionen Menschen bedroht sein würden. Die Folgen wären unter anderem hohe Kosten für Küstenschutzmaßnahmen. In Extremfällen könnten Um-siedlungsmaßnahmen notwendig werden. Unterhalb von 20 Metern leben heute weltweit insgesamt sogar eine Milliarde Menschen auf einer Landfläche von etwa acht Millionen Quadratkilometern. Das entspricht etwa der Fläche Brasiliens. Allein diese Zahlen machen klar, wie schwer ein Verlust der Küstengebiete wiegen würde. Die Untergruppe Küstenmanagement (Coastal Management Subgroup) des IPCC legt weitere Merkmale zugrunde, um die Verletzlichkeit der Küstengebiete zu ermitteln und die Gefährdung einzelner Küstenländer miteinander vergleichen zu können:
- die ökonomische Wertschöpfung (Bruttoinlandsprodukt, BIP) im überflutungsgefährdeten Gebiet;
- die Ausdehnung der urbanen Siedlungsflächen;
- die Ausdehnung der landwirtschaftlichen Nutzflächen;
- die Zahl der vorhandenen Arbeitsplätze;
- die Größe/Ausdehnung der Küstenfeuchtgebiete, die als Überflutungspuffer dienen können.
- 3.13 > Schwere vierfüßige Tetrapoden sollen die Küste von Sylt in der Nähe des Ortes Hörnum vor der Gewalt der Sturmfluten schützen. Derartige Schutzmaßnahmen sind ausgesprochen kostspielig.
Zusatzinfo Wie der Klimawandel die Küsten Norddeutschlands bedroht
- Mittlerweile hat man recht genau ermittelt, welche Nationen besonders betroffen sein würden, weil dort ein extrem hoher Anteil der Bevölkerung in der Küstenregion lebt. Vor allem Bangladesch und Vietnam sind demnach speziell gefährdet. Auf den niedrig gelegenen Inselarchipelen wie etwa den Malediven und den Bahamas ist inzwischen nahezu die gesamte Bevölkerung und damit auch der größte Teil der Volkswirtschaft bedroht. Nach absoluten Werten nimmt China den ersten Rang ein. Zu den stark bedrohten Gebieten in Europa zählen vor allem der Osten Englands sowie der Küstenstreifen, der sich von Belgien über die Niederlande und Deutschland bis nach Dänemark zieht, außerdem die südliche Ostseeküste mit den Mündungen von Oder und Weichsel. Auch am Mittelmeer und am Schwarzen Meer gibt es dicht besiedelte, überflutungsgefährdete Räume zum Beispiel das Po-Delta in Norditalien und die Lagune von Venedig sowie die Deltas von Rhône, Ebro und Donau. Schon heute liegen einige dicht besiedelte Gebiete in den Niederlanden, England, Deutschland und Italien unterhalb des normalen Flutwasserstands. Diese Gebiete wären ohne Küstenschutzmaßnahmen also bereits überflutet. Die Frage, wie schnell der Meeresspiegel steigt, ist für diese Regionen deshalb von besonderem Interesse. Schon heute muss geklärt werden, wie der Küstenschutz intensiviert werden kann, wie sich die Gesellschaft anpassen kann oder ob künftig sogar Siedlungen aufgegeben werden müssen. Aufgrund fehlender Küstenschutzmaßnahmen wird vermutlich bereits ein moderater Meeresspiegelanstieg von nur wenigen Dezimetern zahlreiche Küstenbewohner in vielen Gebieten Asiens, Afrikas und Lateinamerikas aus ihrer Heimat vertreiben und damit zu Meeresflüchtlingen machen. Die volkswirtschaftlichen Schäden dürften be-trächtlich ausfallen. Die Infrastrukturen großer Hafenstädte und vor allem die regionalen Handels- und Transportnetzwerke, die oft über Küstenschifffahrt oder über Flüsse abgewickelt werden, wären ebenfalls davon betroffen. Fachleute haben recht genau bilanziert, welche Konsequenzen der Meeresspiegelanstieg für die deutschen Küstengebiete hat.
- 3.14 > In den Niederlanden bereitet man sich schon heute auf künftige Überflutungen vor: Ingenieure haben erste schwimmende Siedlungen wie hier bei Maasbommel errichtet. Die amphibischen Häuser sind an Pfosten verankert und reagieren flexibel auf Hochwasser.
3.15 > Der Anstieg des Meeresspiegels wirkt sich auf die Küsten und ihre Bewohner unterschiedlich aus. Der Mensch kann sich durchaus mit Gegenmaßnahmen schützen. Die Kosten des Schutzes können aber beträchtlich sein und langfristig den Nutzwert übersteigen. Die Maßnahmen werden unterschieden in: [S] – Schutzmaßnahmen, [A] – Anpassungsmaßnahmen und [R] – Rückzugsmaßnahmen.
Die alte Losung gilt auch morgen: Wer nicht deichen will, muss weichen
Seit Menschen Küsten besiedeln, müssen sie sich mit dem Wandel ihres Lebensraums und der Bedrohung durch Stürme und Überflutungen arrangieren. Im Laufe der Zeit entwickelten die Küstenbewohner Schutzstrategien, mit denen sie sich gegen die Naturgewalten zur Wehr setzten. Heute unterscheidet man vier Strategien, die keineswegs immer langfristig erfolgreich sind:- Anpassung von Gebäuden und Siedlungen (Warften, auf Erdhügeln erbaute Höfe, Pfahlbauten und andere Maßnahmen);
- Schutz/Verteidigung durch den Bau von Deichen, Sperrwerken oder Ufermauern;
- Rückzug durch Aufgabe oder Verlagerung gefährdeter Siedlungen (Migration);
- Abwarten in der Hoffnung, dass die Bedrohung nachlässt oder sich räumlich verlagert.
- 3.16 > Staaten mit der weltweit höchsten Bevölkerungszahl und dem höchsten Bevölkerungsanteil in niedrig gelegenen Küstengebieten. Ausgenommen sind Länder mit weniger als 100 000 Einwohnern. Nicht berücksichtigt wurden ferner 15 kleine Inselstaaten mit einer Gesamtbevölkerung von 423 000 Einwohnern.
- Für die verschiedenen Auswirkungen des Meeresspiegelanstiegs gibt es unterschiedliche Bekämpfungs- und Handlungsstrategien.unterschiedliche Bekämpfungs- und Handlungsstrategien.Ob eine Maßnahme regional oder lokal angewendet wird, hängt vor allem von den Kosten und den geologischen Gegebenheiten vor Ort ab. Im Ganges-Brahmaputra-Delta von Bangladesch etwa würden schwere Seedeiche im weichen Untergrund absacken. Außerdem fehlt es an Geld, um Hunderte Kilometer Deich zu errichten. Die Kosten für ein solches Deichbauprojekt dürften bei mehr als 20 Milliarden Euro liegen – gut hundert Mal mehr als die jährlichen Küstenschutzkosten der Niederlande und Deutschlands zusammen. Die nationale Wirtschaft Bangladeschs würde das nicht verkraften. In anderen Gebieten fehlt es schlicht an Baumaterial, um die Küste zu schützen. Auf Koralleninseln fehlt es vielfach an Sediment für Aufspülungen sowie an Platz und Baumaterial für Deiche und Mauern. Selbst wenn ausreichend Geld zur Verfügung stünde, würden diese Inseln dem Meeresspiegelanstieg weitgehend schutzlos ausgeliefert bleiben. Die Bedrohung durch den Meeresspiegelanstieg wird dort heute auch dadurch verschärft, dass Korallenkalk aus den Riffen entnommen und zum Bau von Hotelkomplexen verwendet wird.Mehr Informationen zu diesem Thema finden Sie auch in:
- Was der steigende Meeresspiegel für die Küsten- und Inselnationen und ihren Küstenschutz im 21. Jahrhundert bedeuten mag, ist erst in Ansätzen absehbar und hängt entscheidend von Umfang und Geschwindigkeit der Entwicklung ab: Wenn der Meeresspiegel bis 2100 um deutlich mehr als einen Meter ansteigt, dann werden die Deiche und Schutzbauwerke vielerorts nicht mehr hoch oder stabil genug sein. In vielen Regionen wird man neue Hochwasserschutzanlagen errichten und die Entwässerung im Binnenland aufwendig ausbauen müssen. Experten erwarten, dass die jährlichen Ausgaben für den Küstenschutz in Deutschland auf etwa eine Milliarde Euro klettern könnten – bei zu schützenden Sachwerten hinter den Deichen in Höhe von 800 bis 1000 Milliarden Euro. Weltweit dürfte der Aufwand tausendfach höher liegen. Während für einige Länder der Kostenaufwand für Verteidigungs- und Anpassungsmaßnahmen lohnend erscheint, weil sich hinter den Deichen große volkswirtschaftliche Werte angehäuft haben, werden vor allem die ärmeren Küstengebiete wohl verloren gehen oder unbewohnbar werden. Die Bewohner werden zu Umweltflüchtlingen.
- Vermutlich können Industrieländer noch einige Zeit mit teurer und aufwendiger Küstenschutztechnologie das Meer zurückhalten. Aber die Verteidigungsstrategie wird selbst dort langfristig der Anpassung oder gar dem Rückzug weichen müssen. Extrem aufwendige Verteidigungsanlagen wie die Sperrwerke von London, Rotterdam und Venedig werden wohl Einzelprojekte bleiben. Für die meisten anderen Gebiete wird es sinnvoller sein, moderne Risikomanagement-Konzepte zu entwickeln, um die Risiken beherrschbarer zu machen.moderne Risikomanagement-Konzepte zu entwickeln, um die Risiken beherrschbarer zu machen.Mehr Informationen zu diesem Thema finden Sie auch in: