Gezielte Eingriffe in die Meereschemie
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WOR 8 Klimaretter Ozean? Wie das Meer (noch) mehr Kohlendioxid aufnehmen soll | 2024

Alkalinitätserhöhung: Verfahren in den Kinderschuhen

Alkalinitätserhöhung: Verfahren in den Kinderschuhen Abb. 7.4: Aaron Takeo Ninokawa of UC Davis

Alkalinitätserhöhung: Verfahren in den Kinderschuhen

> Wie viel Kohlendioxid der Ozean aufnehmen kann, ohne dabei stark zu versauern, hängt von der Alkalinität seines Oberflächenwassers ab. Hinter diesem Begriff verbirgt sich die Menge säurebindender Bestandteile mineralischer Herkunft, die zuvor aus verwittertem Gestein gelöst und in das Meer eingetragen wurden. Die Frage lautet nun: Könnte ein gezielter Eintrag von Mineralien helfen, die Kohlendioxidaufnahme des Ozeans zu steigern, ohne die Chemie und das Leben im Meer aus dem Gleichgewicht zu bringen?

Die Gesetze der Meereschemie

Der Ozean ist ein gigantischer Kohlenstoffspeicher. Seine Wassermassen enthalten heute schon mehr als 50-mal so viel Kohlenstoff wie die Erdatmosphäre und haben in den zurückliegenden Jahrzehnten ein Viertel der vom Menschen verursachten Kohlendioxidemissionen aufgenommen und die Erderwärmung so maßgeblich gebremst.
Die Kohlendioxidaufnahme des Ozeans erfolgt an der Meeresoberfläche und ist deshalb möglich, weil zwischen dem Oberflächenwasser und der Atmosphäre ein ständiger Gasaustausch stattfindet. Durch diesen werden etwaige Druckunterschiede zwischen dem im Meerwasser gelösten Kohlendioxid und dem Kohlendioxid der Atmosphäre ausgeglichen. Steigt die Konzentration von Kohlendioxid in der Atmosphäre, nimmt auch der Ozean mehr Kohlendioxid auf.
Sowie sich Kohlendioxid im Meerwasser löst, durchläuft ein Großteil des Gases eine Abfolge chemischer Reaktionen. Dabei wird das gelöste Gas, welches jederzeit wieder in die Atmosphäre entweichen könnte, in Form von Hydrogenkarbonaten und Karbonaten chemisch im Meerwasser gebunden. Als solche ist ein erneutes Ausgasen in die Atmosphäre ausgeschlossen. Gleichzeitig sinkt durch die chemische Reaktion die Konzentration des im Oberflächenwasser gelösten Kohlendioxids, und der Ozean kann bis zu einem gewissen Maß wieder neues Kohlendioxid aus der Atmosphäre aufnehmen.
7.1 > Hunderte Fischer beteiligten sich im September 2009 an einem Protest gegen die zunehmende Ozeanversauerung vor der Südküste Alaskas. Die kalten Gewässer Alaskas nehmen besonders viel Kohlendioxid aus der Atmosphäre auf und versauern daher in besonderem Maß.
Abb. 7.1: picture alliance/Design Pics/Scott Dickerson
Allerdings entstehen im Zuge dieser Reaktionskette auch sogenannte Protonen (Wasserstoffkationen), die den Ozean versauern lassen, wenn sie freigesetzt werden. In welchem Umfang sie freigesetzt werden, hängt vom Säurebindungsvermögen des Wassers ab – dem sogenannten Alkalinitätsgrad. Die Alkalinität des Meerwassers wird in erster Linie durch die Menge säurebindender Bestandteile mineralischer Herkunft bestimmt (Hydrogenkarbonat, Karbonat und andere), die zuvor im Laufe vieler Jahrmillionen aus verwittertem Gestein an Land gelöst und vom Regenwasser über Bäche und Flüsse in das Meer eingetragen wurden. Gestein verwittert aber auch direkt am oder im Meer: Die langsam erodierenden Kreidefelsen an der Küste der Ostseeinsel Rügen stellen ein anschauliches Beispiel dar. Mit etwas Glück können Besucher hier live mit ansehen, wie Regen, Wind und Wellen Kreidereste (mürber Kalkstein) aus der Felswand waschen und die reaktionsfreudigen Mineralien anschließend im küstennahen Wasser verteilen.
Ist der Anteil solcher säurebindenden Lösungsprodukte der Gesteinsverwitterung im Meerwasser hoch, wird eine Vielzahl der sauer wirkenden Protonen gar nicht erst freigesetzt, sondern im Zuge der Kettenreaktion sofort durch die eingetragenen Minerale gebunden. Das bedeutet, die Versauerung des Wassers wird abgepuffert. Enthält das Wasser jedoch nur wenige Minerale, ist sein Säurebindungsvermögen begrenzt. Die Zahl der freien Protonen steigt, und das Meer versauert zunehmend, was eine Verschlechterung der Lebensbedingungen für viele Meeresbewohner bedeutet (ausführliche Informationen in Kapitel 2).
7.2 > Der Alkalinitätsgrad des Meerwassers wird durch zwei grundlegende Prozesse bestimmt: zum einen durch den Eintrag von im Wasser gelösten, säurebindenden Lösungsprodukten der Gesteinsverwitterung; zum anderen durch die natürliche Aufnahme und Weiterverarbeitung dieser Lösungsprodukte durch Meeresbewohner wie kalkbildende Organismen (Karbonate) oder aber Kieselalgen (Silikate). Bei der Kalkbildung (CaCO3) wird ein Teil des vorher gebunden Kohlendioxids (CO2) wieder freigesetzt.
Abb. 7.2: nach Rita Erven, CDRmare

Kalkstein
Als Kalkstein werden Sedimentgesteine bezeichnet, die hauptsächlich aus den Mineralen Kalzit und Aragonit bestehen und damit aus Kalziumkarbonat (CaCO3). Der überwiegende Teil der Kalksteine ist biogenen Ursprungs, das heißt, er wurde von Lebewesen wie Muscheln oder Korallen gebildet und abgelagert. Kalkstein kann aber auch durch chemische Prozesse aus dem Wasser ausgefällt werden.

 

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Die Idee: Eine Beschleunigung der natürlichen Verwitterung

Die Gesteinsverwitterung und damit einhergehende Lösung der enthaltenen Minerale im Meer sind vergleichsweise langsam ablaufende natürliche Prozesse und beeinflussen das Klima der Erde über Zeiträume von Tausenden Jahren und mehr. Pro Jahr entfernen sie schätzungsweise 1,1 Milliarden Tonnen Kohlendioxid aus der Atmosphäre. Diese Menge entspricht im langzeitlichen Mittel etwa jener Menge Kohlendioxid, die durch vulkanische Aktivität sowie durch Mineralisierungsprozesse im Erdmantel und im Ozean in die Atmosphäre gelangt. Um diese Kohlendioxid-Entnahme zu steigern und so unvermeidbare Kohlendioxid-Restemissionen der Menschheit auszugleichen, müsste die natürliche Verwitterung etwa um den Faktor 5 beschleunigt werden. Ein Rechenbeispiel: Würde der Mensch die Alkalinität in den oberen 50 Metern des Weltozeans um 0,25 Prozent oder fünf Millimol pro Kubikmeter Wasser erhöhen, würde die veränderte Meereschemie zu einer Aufnahme von einer Milliarde Tonnen Kohlenstoff führen. Das entspräche rund 3,7 Milliarden Tonnen Kohlendioxid und damit einem Zehntel der globalen Kohlendioxidemissionen aus fossilen Quellen im Jahr 2022.
Modellstudien zufolge wäre eine gezielte Alkalinitätserhöhung des Ozeans durch eine beschleunigte natürliche Gesteinsverwitterung durchaus möglich. Dazu müssten säurebindende Mineralien zusätzlich in das Meer eingetragen werden. Entsprechende Verfahren werden im Englischen als Ocean Alkalinity Enhancement bezeichnet – übersetzt: marine Alkalinitätserhöhung.
Ein solcher Eingriff in die Meereschemie hätte den Vorteil, dass der Ozean mehr Kohlendioxid aufnehmen könnte, ohne dabei weiter zu versauern. Zugleich ließe sich in Meeresregionen mit einer hohen Ozeanversauerung dieser für viele Meeresorganismen schädliche chemische Prozess umkehren, was die Wiederherstellung von Korallenriffen und Muschelbänken erleichtern könnte. Feldexperimente zur Reduktion der Ozeanver-sauerung wurden bereits im australischen Great Barrier Reef sowie an der Küste Floridas durchgeführt. In den Studien konnten Forscherinnen und Forscher nachweisen, dass sowohl Muscheln als auch Steinkorallen ihre Kalkbildung steigern, wenn der Versauerungsgrad des Umgebungswassers durch eine gezielte Alkalinitätserhöhung reduziert wird.

Abb. 7.4: Aaron Takeo Ninokawa of UC Davis

 

7.4 > Eingefärbtes und mit Kohlendioxid angereichertes Meerwasser verteilt sich über Korallen, die in einem Flachwasserbereich des australischen Great Barrier Reef wachsen. In diesem ersten Feldexperiment zur Ozeanversauerung konnten Forschende belegen, dass die Versauerung das Wachstum der Korallen hemmt.

Der gesamte Ozean als Kohlenstoffspeicher

Als Folge der Alkalinitätserhöhung kann das Oberflächenwasser mehr Kohlendioxid aufnehmen, welches chemisch gebunden und anschließend vor allem in Form von Hydrogenkarbonat gespeichert wird. Die im Oberflächenwasser gelösten Hydrogenkarbonate und weitere Lösungsprodukte der Verwitterung werden von den Meeresströmungen (physikalische Kohlenstoffpumpe) im gesamten Ozean verteilt und dabei selbst bis in sehr große Wassertiefen verfrachtet. Auf diese Weise wird der gesamte Ozean zum Speicher des an der Oberfläche eingetragenen Kohlenstoffs. Bis das kohlenstoffreiche Wasser eines Tages wieder auf natürlichem Wege an die Meeresoberfläche zurückkehrt, vergehen je nach Wassertiefe und Strömungsrichtung Jahrzehnte bis Jahrhunderte.
Bislang steigt in den sogenannten Auftriebsgebieten der Erde kontinuierlich Wasser an die Meeresoberfläche, dessen Alkalinität noch nicht vom Menschen erhöht wurde. Es besäße daher noch das volle Aufnahmepotenzial für eine gezielte Erhöhung der Alkalinität und die daraus resultierende Kohlendioxidaufnahme. Und selbst wenn eines Tages Wassermassen wieder an die Oberfläche steigen werden, die bereits vom Menschen freigesetztes Kohlendioxid in Form von gelöstem Kohlendioxid oder aber Hydrogenkarbonat gespeichert haben, so bleiben die Hydrogenkarbonate im Wasser erhalten, über einen Zeitraum von bis zu 100 000 Jahren. Das heißt, der in ihnen gebundene Kohlenstoff könnte nicht in Form von Kohlendioxid in die Atmosphäre ausgasen. Entweichen würde nur das gelöste Kohlendioxid.
7.5 > Für zwei der vielversprechenden Verfahren zur Alkalinitätserhöhung des Ozeans müssten Kalk- oder Silikatgestein an Land abgebaut und zu Gesteinspulver zermahlen werden. Die dabei entstehenden Kohlendioxidemissionen müssten abgeschieden und gespeichert werden – anderenfalls wären die Methoden kaum klimawirksam.
Abb. 7.5: nach Rita Erven, CDRmare

Die Kalkbildung als Gegenspieler

Wie lange die zusätzlichen Hydrogenkarbonate im Ozean gelöst bleiben, hängt von chemischen und biologischen Prozessen ab: Durch die höhere Alkalinität verringert sich der Säuregehalt des Wassers, was zu einer verringerten Auflösung von Kalksedimenten am Meeresboden führt und es kalkbildenden Arten erleichtert, Kalkschalen zu produzieren. Es werden also weniger Kalksedimente aufgelöst und tendenziell mehr Kalkschalen gebildet.
Kalkbildung wiederum ist der umgekehrte Prozess der Verwitterung. Bei dieser chemischen Reaktion werden im Wasser gelöste Hydrogenkarbonate verbraucht, wodurch sich die Alkalinität des Meerwassers verringert. Gleichzeitig aber wird bei der Kalkbildung Kohlendioxid freigesetzt, was zur Folge hat, dass die Kohlendioxidkonzentration im Umgebungswasser steigt. Beim nächsten Kontakt mit der Meeresoberfläche kann dieses gelöste Kohlendioxid in die Atmosphäre entweichen. Das heißt, durch die Kalkbildung wird einst im Ozean gespeicherter Kohlenstoff wieder in ein Treibhausgas umgewandelt und damit erneut klimarelevant.
Kalk wird im Meer aber nicht allein durch Muscheln, Korallen und Kalkalgen gebildet. Er kann auch infolge einer chemischen Reaktion als sogenanntes Sekundärmineral ausfällen. Werden Wassermassen zu oft alkalinisiert oder zu viele säurebindende Mineralien auf einmal in einen Wasserkörper eingetragen, kann dies zu einer Übersättigung des Meerwassers führen. Infolgedessen fallen abhängig vom Ausgangsmaterial Sekundärminerale wie Karbonate oder Silikate aus. Das heißt, es bilden sich spontan feste Kalk- oder Silikatpartikel. Bei der Ausfällung von Karbonaten wird Kohlendioxid freigesetzt. Fachleute gehen deshalb davon aus, dass die Ausfällung von Sekundärmineralien infolge einer Mineralübersättigung die Wirksamkeit der Alkalinitätserhöhung als Kohlendioxid-Entnahmeverfahren beschränken und unter Umständen sogar völlig aufheben kann.
Sie ziehen deshalb zwei Lehren aus den Gesetzen der Meereschemie: Im Falle einer gezielten Alkalinitätserhöhung des Meerwassers müsste erstens genau überlegt werden, welche Minerale in welcher Menge und in welcher Form (als Gesteinsmehl oder alkalische Lösung) wo im Meer eingetragen werden können, um kritische Schwellenwerte nicht zu überschreiten und eine Übersättigung und anschließende Karbonatausfällung zu verhindern. So weiß man zum Beispiel, dass in Meeresgebieten, in denen Wind, Wellen und Strömungen das Oberflächenwasser gut durchmischen, die Wahrscheinlichkeit einer kritischen Übersättigung geringer ist als in Gebieten, in denen das eingetragene Mineral in hoher Konzentration an der Meeresoberfläche verbleibt. Eine gute Durchmischung wäre zum Beispiel in Küstengebieten oder im offenen Ozean gegeben.
Zweitens könnte die Alkalinitätserhöhung als Maßnahme zur Steigerung der natürlichen Kohlendioxidaufnahme des Meeres nicht unbegrenzt wiederholt werden. Sie wäre vermutlich „nur“ für viele Jahrzehnte bis einige Jahrhunderte wirksam. Dennoch, so Experten, dürfte ein Einsatz über diesen Zeitraum vollkommen ausreichen, um die Restemissionen auszugleichen und damit das Klima zu stabilisieren.

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Methoden zur Alkalinitätserhöhung

Derzeit werden verschiedene Verfahren entwickelt, mit denen die Alkalinität des Meerwassers erhöht werden könnte. Dazu gehören Überlegungen, natürlich vorkommende Minerale wie Kalkstein und Kreide oder silikathaltige Gesteine wie Basalte und Olivin an Land abzubauen, sie anschließend zu zermahlen, um die Oberfläche für eine Verwitterung (chemische Reaktionen) zu vergrößern, und das Gesteinsmehl an Stränden oder direkt auf dem Meer zu verteilen. Für den gleichen Zweck könnten auch kalzium- oder magnesiumreiche Reststoffe oder Abfallprodukte aus der Zementherstellung verwendet werden. In Betracht kommen zum Beispiel künstlich erzeugte Minerale wie Brandkalk (Kalziumoxid), Löschkalk (Kalziumhydroxid), Periklas (Magnesiumoxid), Brucit (Magnesiumhydroxid) sowie Natriumhydroxid. Brucit und Natriumhydroxid beispielsweise fallen bei der Herstellung von grünem Wasserstoff an und könnten für eine Alkalinitätserhöhung genutzt werden. Die Verteilung der Minerale auf dem Meer würde von Schiffen oder Flugzeugen aus erfolgen; an Stränden kämen Streufahrzeuge oder auch Muskelkraft zum Einsatz.
Ein zweiter Ansatz zielt darauf ab, chemische Reaktoren an der Küste, auf Schiffen oder Plattformen im Meer zu installieren. In diesen Reaktoren würde das kalzium- oder magnesiumhaltige Gesteinsmehl nach der Zugabe von kohlendioxidangereichertem Wasser besonders schnell verwittern und unter kontrollierten Bedingungen eine alkalische Lösung erzeugen. Diese würde anschließend in das Meer geleitet oder an dessen Oberfläche versprüht werden. Auf diese Weise würde sich vor allem die Konzentration der Hydrogenkarbonate und, je nach verwittertem Gestein, der Anteil an Kalzium, Magnesium oder auch Silikat im Meerwasser erhöhen. All diese Verbindungen sind bereits heute in hohen Konzentrationen im Meerwasser enthalten, sodass die relativen Änderungen durch einen gezielten Mineraleintrag im Bereich weniger Prozente lägen. Die Auswirkungen dieser Konzentrationsänderungen auf die marinen Ökosysteme müssen jedoch noch untersucht werden.
7.6 > Basaltgestein bildet sich aus erkaltender Lava und hat in der Regel einen dunklen Farbton. Dieser Basaltfelsen stammt aus dem Gebirgszug Cascade Mountain Range im US-Bundesstaat Washington.
Abb. 7.6: Science Photo Library/Kaj R. Svensson
Ob und wie viel zusätzliches Kohlendioxid der Atmosphäre aber am Ende durch eine Alkalinitätserhöhung des Ozeans entnommen werden kann, hängt davon ab, wie viele Emissionen bei den dazu notwendigen Arbeiten freigesetzt werden. Schätzungen zufolge beläuft sich das Entnahmepotenzial alkalinitätssteigernder Verfahren auf 100 Millionen bis eine Milliarde Tonnen Kohlendioxid pro Jahr. Würden diese ozeanweit zum Einsatz kommen – und nicht nur in besonders geeigneten Gebieten –, wäre das Entnahmepotenzial vermutlich sogar noch etwas größer als eine Milliarde Tonnen Kohlendioxid pro Jahr.
Studien weisen jedoch darauf hin, dass die Wirksamkeit der Verfahren auch davon abhängt, in welchen Meeresgebieten und zu welchen Jahreszeiten sie eingesetzt werden, denn die chemischen und physikalischen Ausgangsbedingungen unterscheiden sich regional und sind saisonalen Änderungen unterworfen. So können starke Oberflächenströmungen die eingetragenen Minerale schnell in Regionen verfrachten, in denen die Alkalinität des Wassers ohnehin schon höher ist und eine zusätzliche Kohlendioxidaufnahme erschwert wird. Oder aber eine starke Durchmischung des Oberflächenwassers durch Wind und Willen führt dazu, dass die Minerale in die Tiefe verlagert werden und so den Alkalinitätsgrad des Oberflächenwassers gar nicht maßgeblich verändern. Fachleute wissen zudem aus Klimasimulationen, dass die Wirksamkeit der Alkalinitätserhöhung mit zunehmender globaler Erwärmung abnimmt. In einer Welt, die sich bis zum Jahr 2100 um mehr als vier Grad Celsius erwärmt, müssten für eine bestimmte zusätzliche Kohlendioxidaufnahme des Ozeans viel mehr Minerale in das Meer eingetragen werden, als dies erforderlich wäre, wenn die globale Erwärmung auf weit unter zwei Grad Celsius begrenzt würde.
7.8 > Komplexe Meereschemie: Durch welche chemischen Reaktionen der Eintrag von Kalksteinpulver und dessen anschließende Verwitterung dazu beitragen, die Ozeanversauerung zu reduzieren, ist hier schematisch dargestellt. Die illustrierten Reaktionen würden in karbonatuntersättigten Gewässern ablaufen, etwa in sauerstoffarmen Gebieten dicht unter der Meeresoberfläche.
Abb. 7.8: nach Thorben Amann/Rita Erven, CDRmare

Grüner Wasserstoff
Für die Herstellung von grünem Wasserstoff wird Wasser mithilfe von elektrischem Strom aus erneuerbaren Energiequellen in seine molekularen Bestandteile Wasserstoff und Sauerstoff aufgespalten (Elektrolyse). Die Wasserstoffproduktion ist somit klimaneutral.

Mineralbedarf: Mehrere Kilogramm Kalk pro Person pro Tag

Bisherige Schätzungen gehen davon aus, dass für eine klimawirksame Alkalinitätserhöhung des Oberflächenwassers in der Praxis pro Tonne gebundenen Kohlendioxids eine halbe bis fünf Tonnen Mineralprodukte zum Einsatz kommen müssten. Das Entnahmeverhältnis für Basaltgestein beispielsweise wäre in etwa drei zu eins. Das heißt, drei Tonnen Basaltgestein müssten im Meer verwittern, damit der Ozean der Atmosphäre eine weitere Tonne Kohlendioxid entnehmen kann.
Wie groß der zusätzliche Mineralbedarf einer großflächigen Alkalinitätserhöhung sein könnte, illustriert die folgende Rechnung: Geht man davon aus, dass die Bundesrepublik Deutschland auch im Jahr 2045 noch immer Restemissionen in Höhe von jährlich 60 bis 130 Millionen Tonnen Treibhausgasen ausstoßen wird, entfällt auf jeden einzelnen der 83,2 Millionen Einwohner ein Anteil von 0,7 bis 1,5 Tonnen. Würden nun alle Bürger Deutschlands diese Restemissionen allein durch eine Alkalinitätserhöhung des Ozeans kompensieren wollen, müsste jeder von ihnen pro Tag 6,5 bis 14 Kilogramm Basalt oder fünf bis elf Kilogramm Kalk im Meer auflösen. Auf die Gesamtbevölkerung Deutschlands hochgerechnet, entstünde demzufolge ein zusätzlicher Basaltbedarf von 200 bis 416 Millionen Tonnen beziehungsweise ein Kalkbedarf von 150 bis 312 Millionen Tonnen pro Jahr. Würden die Menschen die Kompensation hingegen auf mehrere Kohlendioxid-Entnahmemethoden aufteilen, fiele der Mineralbedarf entsprechend kleiner aus.
Die gute Nachricht an dieser Stelle lautet: Sowohl Kalkgestein als auch silikathaltige Gesteine wie Basalt und Olivin kommen in einem ausreichenden Maß im Untergrund vor. Letztere sind sogar die häufigsten Gesteine der Erdkruste. Unklar ist bisher allerdings, welcher Energieaufwand und welche Investitionen notwendig sein würden, um die Gesteine im industriellen Maßstab abzubauen, sie zu verarbeiten und an die Küste oder später auf das Meer hinaus zu transportieren – und welche Treibhausgasemissionen bei jedem dieser Einzelschritte entstünden. Eine Studie aus dem Jahr 2013 kam zu dem Ergebnis, dass man 100 Massengutfrachter mit einer Lagerkapazität von jeweils 300 000 Tonnen Trockengewicht bräuchte und diese quasi im Dauereinsatz sein müssten, um jährlich eine Milliarde Tonne Gesteinsmehl auf dem Ozean zu verteilen. Dieser Bedarf entsprach zum damaligen Zeitpunkt vier Prozent der globalen Schiffstransportkapazität.

Alte und neue Ausgangsmaterialien

Von Kalkgestein weiß man, dass es sich nicht im Meerwasser löst, da das Oberflächenwasser des Ozeans mit Karbonaten in der Regel chemisch übersättigt ist. Eine Ausnahme bilden saure und sauerstoffarme Wassermassen, die zum Beispiel in einigen tiefen Gebieten der Ostsee vorkommen. Auch das Wasser in Oberflächensedimenten ist häufig sehr sauer, sodass dort ebenfalls Kalk gelöst werden kann. Mit Silikaten ist das Meerwasser dagegen flächendeckend untersättigt, weshalb sich Silikatgestein prinzipiell auflösen würde. Um die Alkalinität des Ozeans möglichst schnell zu erhöhen, müsste das Silikatgestein zu einem sehr feinen Pulver zermahlen und in flachen Küstengewässern verteilt oder aber bei hohem Energieaufwand in chemischen Reaktoren im Meerwasser aufgelöst werden.
Natürlich vorkommendes Kalk- und Silikatgestein sowie künstlich erzeugte Minerale (Brandkalk, Löschkalk etc.) sind jedoch nicht die einzigen Optionen. Forschende testen mittlerweile auch synthetisch hergestelltes Ikait auf seine Eignung und Verwitterungseigenschaften. Ikait ist ein sehr seltenes wasserhaltiges Kalziumkarbonat, welches sich in der Natur nur bei Temperaturen von unter 15 Grad Celsius im Meerwasser bildet. Sollte es sich als brauchbar erweisen, könnte es allerdings lediglich in Meeresregionen mit entsprechend kühlen Wassermassen eingesetzt werden.

Mesokosmen
Die in den Experimenten verwendeten Mesokosmen sind durchsichtige, schlauchähnliche Röhren, die mit Meerwasser gefüllt werden und im Oberflächenwasser treiben. So sind die Organismen in den Röhren den gleichen Umweltbedingungen (Temperatur, Licht etc.) ausgesetzt wie die Organismen im Meer, können aber individuell untersucht werden, weil kein Wasseraustausch zwischen Meer und Röhre erfolgt.

Labor- oder Feldstudien zu Risiken und Nebenwirkungen fehlen

Ein Großteil des Wissens über die chemischen und biologischen Folgen einer Alkalinitätserhöhung stammt bisher aus Modellstudien (Computersimulationen). Aussagekräftige Labor- oder Feldstudien zu lokalen, regionalen und globalen Auswirkungen eines Mineraleintrages im industriellen Maßstab fehlen. Aus diesem Grund ist bisher auch wenig über mögliche Risiken und Nebenwirkungen eines großflächigen Mineraleintrages bekannt.
Fakt ist, dass der Abbau von Mineralen in Steinbrüchen häufig zu Nutzungskonflikten um das betroffene Land führt, zu Eingriffen in lokale Ökosysteme sowie zu einem erhöhten Verkehrsaufkommen und einer steigenden Lärm- und Staubbelastung. Zum anderen weiß man, dass Silikatgesteine bestimmte Nährstoffe (Silizium, Eisen) und Schwermetalle (Nickel, Chrom, Zink) enthalten. Erstere können das Wachstum von Kieselalgen und damit marine Nährstoffkreisläufe beeinflussen, wobei einige Fachleute die Hoffnung hegen, dass ein zusätzliches Algenwachstum die biologische Kohlenstoffpumpe ankurbeln würde und der Ozean so zusätzliches Kohlendioxid aufnehmen könnte. Schwermetalle wiederum könnten giftig wirken und somit den Ökosystemen des Ozeans schaden. Es besteht jedoch die Hoffnung, dass sich durch die Herstellung reiner synthetischer Minerale schädliche Nebenwirkungen einer Alkalinitätserhöhung verhindern ließen.
Im Rahmen einer deutschen Forschungsmission untersuchen Wissenschaftler derzeit in verschiedenen Labor- und Mesokosmen-Experimenten, inwiefern der Eintrag mineralhaltigen Materials oder die Verwitterung von Gestein am Meeresboden die Küstenökosysteme der Nord- und Ostsee beeinflussen würde und bis zu welchen Schwellenwerten sich negative Effekte der Alkalinitätserhöhung für die Lebensgemeinschaften des Meeres verhindern ließen. Dafür analysieren sie, wie Phytoplankton, Zooplankton sowie ausgewählte Organismen, die am oder im Meeresboden leben, auf den zusätzlichen Mineraleintrag reagieren. Besteht zum Beispiel die Gefahr, dass Ruderfußkrebse oder Fischlarven die Mineralpartikel für Futter halten, fälschlicherweise fressen und anschließend mit vollem Magen verhungern? Ausgeschlossen werden kann dies zum jetzigen Zeitpunkt nicht.
Es deutet sich zudem an, dass die Mineralart und -zusammensetzung darüber entscheiden, welche Meeresorganismen von einer Alkalinitätserhöhung profitieren und welche eher nicht. Sind die eingetragenen Minerale zum Beispiel reich an Kalzium, fällt es kalkbildenden Organismen leichter, ihre Skelette und Muschelschalen zu bilden. Sie hätten unter diesen Voraussetzungen einen Wachstumsvorteil, Kieselalgen hingegen das Nachsehen. Enthielte das eingetragene Material hingegen Silikate, würden Kieselalgen zu den Gewinnern zählen, denn sie brauchen diese Mineralien für den Bau ihrer Siliziumschalen. Die Vorteile bei der Kalkbildung brächten jedoch einen entscheidenden Nachteil mit sich: Wo Tiere die eingebrachten Mineralien verwenden, um daraus Schalen oder Skelette zu bilden, wird Kohlendioxid freigesetzt und nicht dem Meerwasser entnommen.
Abb. 7.9: Bertrand Rieger/hemis.fr/laif

 

7.9 > Kalkstein wird in großen Steinbrüchen wie diesem abgebaut. Aus diesem Grund müssen auch mögliche Umweltschäden an Land berücksichtigt werden, wenn überlegt wird, ob Verfahren zur Alkalinitätserhöhung des Ozeans eine erstrebenswerte Klimaschutzmaßnahme wären oder nicht.
Ihre lokalen Forschungsergebnisse werden die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler anschließend mithilfe numerischer Modelle auf die regionale und globale Ebene hochrechnen und einen Einsatz von Maßnahmen zur Alkalinitätserhöhung in deutschen Hoheitsgewässern und in anderen Meeresgebieten simulieren. Auf diese Weise wollen die Fachleute Risiken identifizieren, kritische Schwellenwerte benennen, Konzepte für Beobachtungs- und Kontrollverfahren testen und entsprechende Handlungsoptionen für die lokale, nationale und internationale Ebene ableiten.
Viel Entwicklungsarbeit wartet auf die Forschenden auch im Hinblick auf die Frage, wie eine durch Alkalinitätserhöhung erzielte Kohlendioxidaufnahme des Ozeans gemessen und überwacht werden soll. Eine Nutzung dieses Verfahrens ist nur sinnvoll, wenn sich die angestrebten Effekte auch messen und dem Mineraleintrag zuschreiben lassen. Fachleute sprechen in diesem Zusammenhang von der Verifikation und Attribution einer Veränderung – in diesem Fall einer veränderten Alkalinität und Erhöhung des Kohlenstoffgehalts des Meeres. Diese zu messen, von natürlichen Schwankungen zu unterscheiden und einzelnen Maßnahmen zuzuordnen, stellt eine große wissenschaftliche Herausforderung dar, für die es bislang keine verlässliche Methode gibt.
Erschwerend kommt hinzu, dass sich im Gegensatz zur Wiederherstellung von Seegraswiesen oder Mangrovenwäldern die Auswirkungen einer Alkalinitätserhöhung nicht auf ein bestimmtes Meeresgebiet eingrenzen lassen. Der Weltozean ist ein globales, zusammenhängendes System: Veränderungen in einem Meeresgebiet führen zu Wechselwirkungen mit anderen verknüpften Teilbereichen. Das gilt insbesondere für Parameter der Meereschemie. Aus diesem Grund ist davon auszugehen, dass ein lokaler Mineraleintrag Auswirkungen nach sich ziehen wird, die nicht nur weit über die Grenzen des ursprünglich betroffenen Meeresgebietes hinausgehen, sondern sich auch über sehr lange Zeiträume erstrecken können. Welche das sein könnten, wird aktuell noch untersucht.
7.10 > Wissenschaftler haben einen Mesokosmos vor der Küste Gran Canarias im Meer verankert. In den schlauchartigen Röhren untersuchten sie vor einigen Jahren die Reaktionen von Mikroalgen und Zooplankton auf eine zunehmende Ozeanversauerung. Aktuell erforschen sie darin die möglichen Folgen einer Alkalinitätserhöhung.
Abb. 7.10: Nick Cobbing

Rechtliche Rahmenbedingungen

Säurebindende Minerale in Form von Gesteinsmehl oder aber alkalischer Lauge auf dem Ozean zu verteilen, würde aus rechtlicher Sicht einen zusätzlichen Eintrag von Stoffen in das Meer darstellen. Entsprechende Aktivitäten werden international vor allem über die Londoner Konvention aus dem Jahr 1972 reguliert – bekannt auch als Übereinkommen über die Verhütung der Meeresverschmutzung durch das Einbringen von Abfällen und anderen Stoffen – sowie durch dessen Ergänzung aus dem Jahr 1996, dem sogenannten Londoner Protokoll. Unter Umständen ziehen Fachleute aber auch die Biodiversitätskonvention zurate.
Der Anwendungsbereich des Londoner Protokolls wurde im Jahr 2013 derart erweitert, dass marine CDR-Verfahren unter dem Schirm des Vertragswerkes reguliert werden können. In Kraft tritt diese Änderung jedoch erst, wenn sie von ausreichend Vertragsstaaten ratifiziert wurde, was bislang nicht geschehen ist.Aktuell listet ein Zusatz zum Londoner Protokoll nur die Eisendüngung als regulierbare CDR-Methode. Nach Expertenmeinung ließen sich aber auch Verfahren zur Alkalinitätserhöhung des Ozeans über das Protokoll regulieren. Dafür müssten diese aber zum Protokoll hinzugefügt werden (mehr dazu in Kapitel 9).
In Deutschland ist der Einsatz von Verfahren zur Alkalinitätserhöhung der Meere nach aktueller Rechtslage verboten. Ausschlaggebend sind hierbei abermals die Bestimmungen im deutschen Gesetz über das Verbot der Einbringung von Abfällen und anderen Stoffen und Gegenständen in die Hohe See. Wissenschaftlern deutscher Forschungsinstitutionen ist es damit auch untersagt, entsprechende Feldexperimente durchzuführen – in nationalen Gewässern ebenso wie auf Hoher See. Dieser Rechtsrahmen wird zu überdenken sein, wenn sich die Gesellschaft entscheiden sollte, die Kohlendioxidaufnahme des Ozeans durch den Eintrag säurebindender Minerale zu verstärken. Fakt ist nämlich, dass sich ohne Feldexperimente kaum umfassende Erkenntnisse über die Risiken und Nebenwirkungen solcher Einsätze gewinnen lassen. Textende