Leitprinzipien und Regeln für einen Einsatz mariner CDR-Verfahren
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WOR 8 Klimaretter Ozean? Wie das Meer (noch) mehr Kohlendioxid aufnehmen soll | 2024

Wie regelt man eine verstärkte CO2-Aufnahme des Meeres?

Wie regelt man eine verstärkte CO2-Aufnahme des Meeres? Abb. 9.9: © Nathan Kelley

Wie regelt man eine verstärkte CO2-Aufnahme des Meeres?

> Die Menschheit steckt in einem Dilemma: Jahrzehntelang haben wir die Gefahr des Klimawandels ignoriert. Umso dringender werden jetzt Lösungen benötigt. Meeresbasierte Verfahren zur Entnahme von Kohlendioxid aus der Atmosphäre könnten uns helfen, einen Teil unserer Restemissionen auszugleichen. Entsprechende Maßnahmen jedoch kontrolliert, fair und verantwortungsvoll umzusetzen, stellt eine Mammutaufgabe dar. Gebraucht werden klare internationale Regeln und Prinzipien, denn der Ozean lässt sich nur gemeinsam nutzen und schützen.

Eine ungewohnte Dynamik

Die zunehmend drastischeren Auswirkungen des Klimawandels führen aktuell in Politik und Wissenschaft zu einer ungewohnten Parallelität von Prozessen. Zwei Beispiele: In Deutschland berät die Regierung bereits mit einer Vielzahl an Fachleuten über eine Änderung der rechtlichen Rahmenbedingungen für eine Speicherung von Kohlendioxid tief unter dem Meer, während Meeresforschende noch dabei sind, potenzielle Speichergesteinsschichten unter deutschen Gewässern auf ihre Eignung zu überprüfen und geeignete Überwachungssysteme zu entwickeln. Auf internationaler Ebene hingegen wird unter anderem diskutiert, welche Entnahme- und Speicherungsarten zertifiziert werden dürfen, während noch nicht einmal wissenschaftliche Einigkeit darüber besteht, ab wann eine Ennahme und Speicherung von Kohlendioxid tatsächlich als dauerhaft und somit als klimarelevant gilt.
In Politik und Wirtschaft, so scheint es, macht sich allmählich die Hoffnung breit, durch den Einsatz von Verfahren zur Kohlendioxid-Entnahme (Carbon Dioxide Removal, CDR) oder durch die Abscheidung und Speicherung von Kohlendioxid aus fossilen Quellen (Carbon Capture and Storage, CCS) könne man jene Zeit zurückgewinnen, die durch die dauernde Verschleppung wirksamer Klimaschutzmaßnahmen jahrzehntelang vergeudet wurde. Bei allem Handlungsdruck kommt dabei die gesellschaftliche Debatte zu kurz, die über den Einsatz meeresbasierter CDR-Verfahren geführt werden muss. Und diese ist, so viel kann an dieser Stelle schon gesagt werden, keine leichte, denn es gilt eine Vielzahl an Aspekten zu berücksichtigen.
Auf der einen Seite sind wir mit der stetig zunehmenden Dringlichkeit drastischer Emissionsreduktionen konfrontiert. Auf der anderen Seite gibt es berechtigte Bedenken zum Meeres- und Artenschutz sowie zu potenziellen Nutzungsansprüchen und -konflikten. Dazu gesellen sich Fragen zur Klima- und Verteilungsgerechtigkeit, und letztendlich geht es auch darum, rechtliche Rahmenbedingungen festzusetzen sowie Institutionen und Instrumente zu entwickeln, mit denen sich ein möglicher Einsatz meeresbasierter CDR-Verfahren steuern und kontrollieren ließe.
Mit der wissenschaftlichen und politischen Debatte zu CDR-Verfahren Schritt zu halten, ist für Außenstehende kaum möglich. Denn nahezu wöchentlich gibt es neue wissenschaftliche Erkenntnisse oder neue politische Strategien, Empfehlungen und Debatten, sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene. In den meisten Fällen ist dabei nicht sofort absehbar, welche Rolle die Erkenntnisse und Strategien eines Tages spielen werden. Harmlos anmutende technische Details können enorme Bedeutung erlangen – so zum Beispiel, wenn es um die Frage geht, ab wann eine Kohlendioxidspeicherung als „dauerhaft“ bezeichnet werden kann. Einige Fachleute schlagen einen Mindestzeitraum von 200 bis 300 Jahren vor. Andere argumentieren, dass auch eine Entnahme mit anschließender Speicherung über 50, 60 oder 100 Jahre kurzfristig helfe, Emissionen zu kompensieren, und somit wichtig sei und gefördert werden könne – beispielsweise durch die Zuteilung von Subventionen oder aber auch durch die Vergabe zeitlich begrenzter Entnahmezertifikate.
Dieses Kapitel kann daher nur eine Momentaufnahme vom Stand des Wissens und der Diskussionen liefern. Unsere Leitfragen lauten dabei: Sollten meeresbasierte CDR-Verfahren eingesetzt werden, wenn sie sich als klimawirksam erweisen? Und wenn ja, durch welche politischen und rechtlichen Instrumente ließe sich ein solcher Einsatz steuern und regulieren – und wer sind die wichtigsten Akteure in diesem Prozess?
9.1 > Echte Wildnis sucht man auf der Erde bald vergebens. 77 Prozent der Landoberflächen, mit Ausnahme der Antarktis, und 87 Prozent des Ozeans hat der Mensch bereits durch Eingriffe in die Natur verändert.
Abb. 9.1: nach J. E. M. Watson et al., 2018

Der Ozean ist kein leerer, ungenutzter Raum

Anfang Juni 2023 veröffentlichte eine renommierte britische Tageszeitung einen flammenden Appell gegen einen übereilten Einsatz mariner CDR-Verfahren. Das Hauptargument darin lautete, der Ozean werde von einer wachsenden Zahl politischer und wirtschaftlicher Akteure als großer, leerer Raum betrachtet und damit als ungenutzte Ressource, welche die Menschheit ausbeuten und mit viel Erfindungsreichtum in etwas Nützliches verwandeln könne.
Diese Sichtweise sei höchst gefährlich, führt der Artikel fort, denn sie ignoriere zum einen die zentrale Rolle, welche der Ozean für den Fortbestand des Lebens auf der Erde spiele. Zum anderen werde übersehen, wie eng verzahnt die Physik, Chemie und Biologie der Meere seien und unter welchem Druck die Meeresorganismen bereits jetzt stünden. Jeder Einsatz von CDR-Verfahren werde deshalb Veränderungen in der Meeresumwelt hervorrufen, deren Ausmaß kaum vorhergesagt werden könne, eben weil noch nicht verstanden sei, wie alles funktioniere und ineinandergreife.
Wissenschaftliche Beobachter der politischen Debatte um marine CDR-Verfahren bestätigen, dass Befürworter einer verstärkten meeresbasierten Kohlendioxid-Entnahme häufig argumentieren, der Ozean sei ein Raum der unbegrenzten Möglichkeiten und seine Inanspruchnahme für einen Emissionsausgleich mit weniger Problemen und Konflikten verbunden als eine Nutzung von Landflächen. Dabei ignorieren die Fürsprecher jedoch, dass der Weltozean schon heute ein intensiv genutzter Raum und der Fußabdruck des Menschen in nahezu allen Meeresgebieten sichtbar ist. Eine Studie aus dem Jahr 2018 beispielsweise ergab, dass zum damaligen Zeitpunkt bereits 87 Prozent der Meeresfläche durch den Menschen verändert worden waren. Es existierten nur noch wenige Meeresgebiete in der Arktis und Antarktis, in denen bis dahin nicht oder nur wenig gefischt worden war, die nicht mit Schiffen befahren wurden und noch nicht nachweislich durch Chemikalien und Plastik verschmutzt worden waren.
Die Aussicht auf Einsätze meeresbasierter CDR-Verfahren im industriellen Maßstab weckt zudem Befürchtungen, Küstengewässer könnten für kommerzielle Zwecke privatisiert und die lokale Bevölkerung vertrieben werden. Solche Bedenken werden international unter dem Stichwort „Ocean Grabbing“ (Meeresvereinnahmung) diskutiert und verdeutlichen, wie wichtig in diesem Zusammenhang auch Fragen der Verteilungs- und Klimagerechtigkeit sind.

Abb. 9.2: REUTERS/Carlos Barria

 

9.2 > Das Stelzenfischen ist eine jahrhundertealte Tradition in Sri Lanka und Nahrungs- und Einnahmequelle für viele Kleinstfischerfamilien. Deren Ansprüche an das Meer müssen berücksichtigt werden, wenn über einen Einsatz von CDR-Verfahren nachgedacht und diskutiert wird.

Ein möglicher Diskursrahmen: Neun Thesen zur Ethik von CDR-Verfahren

Die aktuelle Ausgangslage stellt sich also wie folgt dar: Der Mensch nutzt den Ozean intensiv und hat ihn und seine Lebensgemeinschaften bereits in großen Teilen verändert. Gleichzeitig zwingen uns die zunehmenden Folgen des Klimawandels, endlich wirksame Klimaschutzmaßnahmen zu treffen – womöglich auch mithilfe des Meeres. Aus diesem Dilemma, so argumentieren Philosophen, ergeben sich zwei entscheidende moralische Fragen für unsere Gesellschaft: Wenn CDR-Verfahren zum Klimaschutz beitragen können, sollten wir sie dann auch tatsächlich anwenden? Und was vom potenziell Machbaren ist auch erlaubt oder gar geboten? Deutsche Klima- und Umweltethiker haben versucht, die philosophische Debatte dazu in neun Thesen zusammenzufassen, die sich als Rahmen eines gesellschaftlichen Diskurses anbieten. Diese lauten:
  1. Eine pauschale Bewertung von CDR-Verfahren ist nicht möglich – stattdessen muss differenziert werden.

    Aus Sicht der Philosophen gibt es weder ein überzeugendes Argument, welches CDR-Verfahren immer und überall rechtfertigt, noch ein überzeugendes Argument, welches zeigt, dass solche Verfahren niemals eingesetzt werden dürfen. Die möglicherweise positive Klimawirkung der Verfahren sei moralisch so bedeutsam, dass eine nicht unerhebliche Menge ­konkreter CDR-Projekte aus moralischer Sicht wahrscheinlich erlaubt oder gar geboten sei.
  2. Wer zu vorsichtig ist, verkennt die Gefahr des Klimawandels.

    Der Klimawandel habe das Potenzial, eine der einschneidendsten Katastrophen der Menschheitsgeschichte zu werden. Außerdem, so die Ethiker, seien gefährliche Auswirkungen des Klimawandels kein Zukunftsszenario mehr, sondern in vielen Teilen der Welt längst bittere Realität. Dennoch könne die Menschheit noch immer dafür sorgen, den Klimawandel einzudämmen. Die Position, nicht einzugreifen, sei hingegen wenig überzeugend. Dafür stehe viel zu viel auf dem Spiel. Sollte der Einsatz von CDR-Verfahren tatsächlich geeignet sein, die immense Gefahr des Klimawandels abzumildern, spräche vieles dafür. Negative Nebenwirkungen und andere Bedenken müssten sich daran messen, was der Einsatz von CDR-Methoden Positives leisten könne. Zu begreifen, dass es inzwischen auch moralisch geboten sein kann, Maßnahmen gegen den Klimawandel zu treffen, die selbst moralisch problematisch sind, bedeute nach Ansicht der Ethiker, die Tragik der Situation besser zu verstehen, in die sich die Menschheit selbst manövriert habe, indem sie nicht früher und entschiedener Klimaschutz betrieben hat.
  3. Wer zu unvorsichtig ist, verkennt die Gefahren von CDR-Verfahren.

    Dennoch gäbe es aus zwei Gründen keinen moralischen Freifahrtschein für klimaregulatorische Eingriffe in den Ozean. Erstens, weil uns auch alternative Optionen zur Verfügung stehen. Emissionen könnten stärker reduziert werden; es könnte noch mehr in Anpassung investiert werden. Und selbst schwer vermeidbare Restemissionen könnten vermieden werden, wenn wir als Gesellschaft bereit wären, den ökonomischen und nicht ökonomischen Preis dafür zu zahlen. Zweitens könnten CDR-Maßnahmen Nebenwirkungen haben, die moralisch hochgradig problematisch sind. Da CDR-Verfahren sich sehr voneinander unterscheiden können, gilt diese Aussage für jedes Verfahren in einem unterschiedlichen Maß, weshalb ein differenzierter Blick auf einzelne Methoden und konkrete Einsatzszenarien notwendig sei, so die Fachleute. Die moralische Situation werde zudem dadurch verkompliziert, dass die möglicherweise von den Folgen eines CDR-Einsatzes betroffenen Menschen nicht unbedingt dieselben sein müssen, die anderenfalls durch den Klimawandel selbst bedroht sind. Das Fazit müsste deshalb lauten: Auch die schwerste Krankheit (die Folgen des Klimawandels) berechtige nicht die Verabreichung jeder potenziell nützlichen Medizin (Einsatz von CDR-Verfahren), wenn dadurch Dritte geschädigt werden.
  4. Der Einsatz von CDR-Methoden darf die Dekarbonisierung nicht verhindern.

    Moralisch oberste Priorität habe die Dekarbonisierung – das heißt in der Konsequenz die Vermeidung menschengemachter Treibhausgasemissionen. In der Debatte um CDR-Maßnahmen wird allerdings oft auch das Argument der sogenannten verdrängten Emissionsreduktion angeführt. Dahinter verbirgt sich die Sorge, die Aussicht auf und der Einsatz von CDR-Methoden könnten dazu führen, dass die Menschheit sich weniger anstrengt, Treibhausgasemissionen zu vermeiden. Während Klimaforschende ganz klar argumentieren, dass eine Vermeidung von Emissionen die viel wirksamere Methode ist, die Erderwärmung zu begrenzen, als Kohlendioxid nach seiner Freisetzung der Atmosphäre wieder zu entnehmen, verweisen die Ethiker auf eine andere wichtige moralische Frage, die ihrer Ansicht nach hinter dieser Diskussion stecke – nämlich die Frage, welche Emissionen durch CDR-Maßnahmen ausgeglichen werden dürften und welche nicht. Moralisch, so die Philosophen, könnten bestimmte Formen eines Emissionsausgleiches als Übergangslösung durchaus akzeptabel sein – etwa bei besonders schwer vermeidbaren Restemissionen in der Lebensmittel- und Zementherstellung.
  5. Der Klimawandel ist eine zentrale Umweltkatastrophe – und leider nicht die einzige.

    Der Klimawandel ist eine Umweltkatastrophe, die massive globale Ungerechtigkeiten hervorruft und den Einsatz von CDR-Verfahren moralisch rechtfertigen kann. Nichtsdestotrotz sei das Ziel der Treibhausgasneutralität nicht das einzige Gebot der Stunde. Angesichts des gleichzeitig stattfindenden sechsten Massenaussterbens (mehr dazu in Kapitel 1) muss es nach Ansicht der Ethiker um eine ökologische Neutralität gehen. Klimaschutz und -techniken dürften nicht auf Kosten des Umwelt- und Artenschutzes erkauft werden. Beides muss zusammen gedacht werden, um die natürlichen Ressourcen unseres Planeten zu schützen und eine Antwort auf die ökologischen Krisen zu finden.
  6. CDR-Maßnahmen, die auch dem Naturschutz dienen, verdienen besondere Beachtung.

    Gerade weil sich die Klima- und Artenkrise nur gemeinsam lösen lassen, verdienten Maßnahmen, die mit bestehenden Naturschutzzielen einhergehen und gleichzeitig eine Klimawirkung erzielen, besondere Beachtung. Sie seien moralisch „niedrig hängende Früchte“ – das heißt, für sie sprechen aus gleich mehreren Perspektiven starke Gründe. Ihr Potenzial sollte erforscht und genutzt werden.
  7. Die durch den Einsatz von CDR-Verfahren entstehenden Lasten sollten fair verteilt werden.

    Durch den Einsatz von CDR-Verfahren werden zweifelsohne Lasten entstehen, schreiben die Fachleute. Es werden zum einen ökonomische Ressourcen verbraucht (Geld, Energie, Ausgangsmaterialien etc.); zum anderen werde jede CDR-Anwendung im globalen Maßstab vermutlich auch erhebliche negative Nebenwirkungen nach sich ziehen. Auf wen diese Lasten fallen werden, sei eine zentrale Frage der Verteilungsgerechtigkeit im Hinblick auf Maßnahmen zur Kohlendioxid-Entnahme. Die Ethiker berufen sich an dieser Stelle auf das Verursacherprinzip und schlagen vor, dass Lasten vor allem auf jene Akteure entfallen sollten, die seit Bekanntwerden des Klimawandel-Problems besonders viel zu eben diesem beigetragen haben. Das gelte in erster Linie für wohlhabende Schichten, welche oft, aber nicht notwendigerweise, in wohlhabenden Staaten residieren würden. Abzulehnen sei es, wenn diejenigen Bevölkerungsgruppen zur Kasse gebeten würden, die am meisten von den positiven Klimawirkungen eines CDR-Einsatzes profitieren würden. Denn dies wären in erster Linie arme und besonders verwundbare Bevölkerungsgruppen.
  8. Prozedurale Gerechtigkeit ist wichtig – aber schwer umzusetzen.

    Die Frage nach einer prozeduralen Gerechtigkeit spielt eine wichtige Rolle in der CDR-Debatte. Dazu gehört der Anspruch, dass CDR-Verfahren nicht nur auf transparente Weise erforscht werden, sondern im Fall des Falles auch fair umgesetzt werden. Die Forderung nach transparenter Kommunikation sei nach Auffassung der Ethiker unumstritten. Sofern keine schwer wiegenden Gründe dagegensprächen, sollten Wirkungsweisen, antizipierte sowie bereits eingetretene Folgen von CDR-Einsätzen öffentlich gemacht werden, damit Betroffene eine wohlinformierte Haltung entwickeln könnten.
    Eine zweite viel diskutierte Forderung lautet: Alle von möglichen CDR-Einsätzen betroffenen Interessenträger sollten ein Mitspracherecht in den jeweiligen Entscheidungsprozessen erhalten. Dabei stellen sich jedoch die Fragen: Wer zählt als betroffen und welches Mitspracherecht ist gefordert – ein Vetorecht oder etwas Schwächeres? Plausiblerweise zählen mindestens Menschen, die unter negativen Nebenwirkungen von CDR-Einsätzen leiden werden, und jene Menschen, die von der positiven Klimawirkung profitieren werden, zu den Betroffenen. Die Gruppe der Profitierenden sei unter Umständen jedoch sehr groß und in Raum und Zeit verteilt, argumentieren die Ethiker. Sie in Entscheidungsprozesse mit einzubeziehen, gestalte sich deshalb als sehr schwierig. Sie auszuschließen sei allerdings ebenfalls nicht überzeugend. Es gebe deshalb Gründe, zumindest Vertreter oder Ombudsleute der von den positiven Klimawirkungen profitierenden Bevölkerungsgruppen an Entscheidungsprozessen teilhaben zu lassen.
  9. Die Diskussion zeigt unser moralisches Versagen an.

    Die Klimakrise ist nach Auffassung der Ethiker nicht nur das Resultat der Emissionen aus den zurückliegenden 200 Jahren, sondern auch der unzureichenden Klimapolitik in den letzten Jahrzehnten. Es herrsche in der Klimaethik deshalb weitgehende Einigkeit darüber, dass die bisherigen unzulänglichen Reaktionen auf den Klimawandel moralisch zu verurteilen seien. Unsere Situation sei deshalb von einem moralischen Versagen geprägt. Dennoch gäbe es die Möglichkeit, wenigstens ab jetzt moralisch akzeptabel auf den Klimawandel zu reagieren.
    Der Impuls, nicht über Reaktionen auf den Klimawandel sprechen zu wollen, die selbst moralisch problematisch sind, sei verständlich, aber der Situation nicht angemessen. Eine zentrale Herausforderung für eine moralische Debatte um den Einsatz von CDR-Verfahren sei deshalb, den Ernst der Situation zu würdigen, ohne in ein fatalistisches „Heute ist alles erlaubt, weil morgen alles zu spät ist“ zu verfallen.
9.3 > Giftige Algenblüten infolge einer Überdüngung der Küstengewässer treten mittlerweile vielerorts auf und können zu massiven Fischsterben führen. Gelänge es der Menschheit, diese zusätzlichen Stressfaktoren zu minimieren, würde der Gesundheitszustand des Meeres sich verbessern und damit auch seine natürliche Kohlendioxidaufnahme.
Abb. 9.3: picture alliance/AP Photo/Felix Marquez

Abb. 9.4: © ESA, CC BY-SA 3.0 IGO

 

9.4 > Lange Kondensstreifen über der Nordsee verraten, welche Strecke Passagierflugzeuge von und nach Europa geflogen sind. Der internationale Flugverkehr ist eine der am schnellsten wachsenden Treibhausgasquellen und machte im Jahr 2018 etwa 2,5 Prozent der globalen CO2-Emissionen aus.

Leitprinzipien für die Steuerung und Regulierung von CDR-Verfahren

Basierend auf dieser philosophischen Argumentationskette und den vielen Erkenntnissen aus den Umwelt- und Gesellschaftswissenschaften haben Forschende vier Leitprinzipien zur Steuerung und Regulierung von land- und meeresbasierten CDR-Verfahren entwickelt. Ihnen zufolge sollte:
  • die Reduktion und Vermeidung von Treibhausgasemissionen bei allen Entscheidungen Vorrang haben,
  • die Klimaeffektivität und Dauerhaftigkeit der Kohlendioxid-Entnahme stets sichergestellt sein,
  • auf die Umweltintegrität entsprechender Maßnahmen geachtet und
  • mögliche Zielkonflikte gesteuert werden.
Vorrang der Emissionsreduktion
Weil durch eine Entnahme von Kohlendioxid aus der Atmosphäre nicht die eigentliche Ursache des Klimawandels (hoher Treibhausgasausstoß) adressiert wird, muss das Ziel der Emissionsvermeidung aus drei Gründen Vorrang bei allen klimapolitischen Entscheidungen haben. Den Ausstoß einer Tonne Kohlendioxid zu verhindern, begrenzt erstens die globale Erwärmung deutlich wirksamer, als dieselbe Menge Kohlendioxid der Atmosphäre zu entnehmen. Grund dafür sind die vielen Wechselwirkungen im Klimasystem der Erde. Zweitens bedeutet eine bloße Entnahme von Kohlendioxid noch lange nicht, dass das Gas fortan nicht mehr in die Atmosphäre entweichen und dort klimawirksam werden kann. Und drittens ist eine technologische Entnahme von Kohlendioxid aus der Atmosphäre oder dem Meer notwendigerweise mit dem Einsatz von Energie und Ressourcen sowie gegebenenfalls einer Beeinträchtigung von Umweltzielen verbunden. Dadurch werden neue Treibhausgasmengen freigesetzt, Möglichkeiten der Emissionsvermeidung eingeschränkt oder aber (Meeres-)Flächen beansprucht, die anderweitig genutzt werden könnten.
Aus diesem Grund müssen die klimapolitischen Akteure den Vorrang der Emissionsvermeidung und -reduktion auf allen Ebenen sicherstellen. Ein wichtiger Schritt wäre, dass Staaten ihre Kohlendioxid-Entnahmeziele getrennt von ihren Zielen zur Emissionsreduktion aufführen, sodass jederzeit nachvollzogen werden kann, ob auch genügend Anstrengungen in die Emissionsvermeidung geflossen sind.
9.5 > Die Küstenzonen der Erde gehören zu den am intensivsten genutzten Landschaften unseres Planeten. Maßnahmen für eine verstärkte Kohlendioxidaufnahme des Ozeans würden einen weiteren Eingriff darstellen, der je nach Verfahren andere Nutzungsformen begünstigen, diese einschränken oder sogar ausschließen kann.
Abb. 9.5: Kev/Adobe Stock
Klar differenziert werden muss auch auf Unternehmensseite: So sollte es Firmen nicht erlaubt werden, vermeidbare Emissionen beliebig durch einen Einsatz von CDR-Maßnahmen zu kompensieren. Ansonsten würden Emissionsreduktionen allzu leicht durch Kompensationsmaßnahmen verdrängt – eine Strategie, die in der gesellschaftlichen Debatte zu CDR auch als „mitigation deterrence“ (verdrängte Emissionsreduktion) bezeichnet wird. Verhindern ließe sich eine solche Verdrängung unter anderem durch strenge Regeln im Europäischen Emissionshandel. Ohne eine konsequentere Beachtung des Vorrangs von Maßnahmen zur Emissionsreduktion, so das Expertenfazit, sei zu befürchten, dass die Anstrengungen zur Bekämpfung der Ursachen der Klimakrise abnehmen werden.
Wirksame und dauerhafte Kohlendioxid-Entnahme
Aufgrund der Tatsache, dass Kohlendioxid sehr lange in der Atmosphäre verweilen kann und dabei gleichbleibend klimawirksam ist, muss bei der Anwendung von CDR-Verfahren sichergestellt sein, dass das Kohlendioxid der Atmosphäre möglichst dauerhaft entnommen wird. Ist dies nicht zu gewährleisten, müssen potenzielle Leckagepfade, über die das entnommene Kohlendioxid erneut in die Atmosphäre entweichen kann, in der Entscheidungsfindung berücksichtigt werden – zum Beispiel, indem bei der Bilanzierung der erzielten Entnahme Abschläge mit einberechnet werden. Kohlendioxid-Speicherstätten müssen nach Auffassung der Experten kontinuierlich überwacht und die Finanzierung dieser Überwachung langfristig sichergestellt werden. Um bewerten zu können, welchen tatsächlichen Beitrag ein Verfahren zur Kohlendioxid-Entnahme leistet, müssen zusätzlich alle indirekt verursachten Treibhausgasemissionen bilanziert werden. Dazu gehören zum Beispiel Emissionen, die beim Transport, bei der Herstellung von Vorprodukten oder aber bei der Erzeugung der eingesetzten Energie entstehen.
CDR-Verfahren umfassend bewerten – aus Klima-, Umwelt- und sozialer Perspektive
Der Einsatz mariner CDR-Verfahren verbraucht Energie, Ressourcen und Flächen. Er beeinträchtigt unter Umständen Küstengebiete und deren Ökosysteme oder gleich den gesamten Ozean, vor allem, wenn die Verfahren im globalen Maßstab angewendet werden sollen. Dazu gesellen sich mögliche negative soziale Auswirkungen, die entstehen können, wenn Menschen mit großer Abhängigkeit von den Leistungen des Meeres diese plötzlich nicht mehr im vollen Umfang in Anspruch nehmen können oder dürfen. Häufig variieren die Auswirkungen einer Technologie auch infolge der regionalen Gegebenheiten.
Aus diesen Gründen dürfen CDR-Verfahren nicht nur im Hinblick auf ihre mögliche positive Klimawirkung bewertet werden. Die Auswirkungen auf Menschen und Umwelt müssten ebenso umfassend beachtet werden, fordern Fachleute nahezu einstimmig. Allerdings fehlen bislang hinreichende Konzepte, wie dieses Ziel erreicht werden kann. Ein Vorschlag lautet, Mindestkriterien für bestimmte Technologien oder Technologiegruppen zu bestimmen, die wiederum die Klimaeffektivität der Maßnahme sicherstellen sowie die möglichen Umweltauswirkungen und den Ressourcenverbrauch minimieren. Experten einer deutschen Forschungsmission entwickeln aktuell einen Bewertungsleitfaden, mit dessen Hilfe Entscheidungsträger eine solche Bewertung von CDR-Verfahren und konkreten -Projekten vornehmen können sollen
Zielkonflikte erfolgreich lösen oder vermeiden
Mindestkriterien werden als Steuerungsinstrument allein jedoch nicht ausreichen, um jene Zielkonflikte zu lösen oder zu vermeiden, die infolge des Einsatzes eingriffs- und ressourcenintensiver CDR-Verfahren entstehen. Dazu sei die Problemlage aus Klima- und Biodiversitätskrise bei gleichzeitig anhaltender Übernutzung unserer natürlichen Ressourcen viel zu komplex, so die Fachleute. Die Maßgabe laute daher, die verbleibenden Flächen und Ressourcen zu schonen oder in jedem Fall bestmöglich zu nutzen. Sollte bei der Steuerung und Regulierung von CDR-Maßnahmen dennoch auf Mindestkriterien zurückgegriffen werden, müssten diese regelmäßig geprüft und nachgeschärft werden, um dem aktuellen Stand von Wissenschaft und Technik zu entsprechen. Die Experten mahnen zudem an, einen Ausstieg aus wenig nachhaltigen Methoden als Option von Anfang an mitzudenken und konsequent umzusetzen, sollte sich ein Verfahren als nachteilig erweisen.
Zielführend sei es, einen Wettbewerb um die nachhaltigsten Lösungen auszurufen und in der kriteriengeleiteten Auswahl oder Förderung der jeweiligen Verfahren fest zu verankern. Dabei sollten nicht nur die klimaspezifischen Vor- und Nachteile aller natürlichen und technischen CDR-Optionen berücksichtigt werden, sondern auch positive Auswirkungen auf die Artenvielfalt und die Ökosysteme einbezogen werden. Eine solche Herangehensweise sollte zur Folge haben, dass vor allem Maßnahmen zur Stärkung natürlicher Kohlenstoffsenken gewählt werden, mit denen dann auch Zusatznutzen für die Ökosysteme generiert werden.
Gebraucht werde eine klare Strategie zum Umgang mit Restemissionen, denn der Einsatz von CDR-Verfahren im erforderlichen Maßstab lässt sich nicht nebenbei organisieren. Er erfordere Zeit, gezielte Anreize, internationale Zusammenarbeit und klare Regeln für alle Akteure. Eine konsequente Umsetzung der skizzierten Leitprinzipien könne dazu beitragen, dass Kohlendioxid-Entnahmen aus der Atmosphäre einen zusätzlichen Beitrag zur Bekämpfung der Klimakrise leisten, ohne die bestehenden Umweltkrisen zu verschärfen. Vermeidbare Emissionsreduktionen aufzuschieben sei unter diesen Voraussetzungen nämlich ebenso ausgeschlossen wie eine weitere Schwächung der Ökosysteme an Land und im Meer infolge eines CDR-Einsatzes.

Climate Engineering
Unter dem Begriff „Climate Engineering“ werden verschiedene Aktivitäten des Menschen verstanden, die das Ziel haben, der Erderwärmung entgegenzuwirken. Dazu zählen in der Regel Verfahren zur Kohlendioxid-Entnahme sowie Maßnahmen des Strahlungsmanagements. Zum Teil wird synonym zu „Climate Engineering“ auch von „Geoengineering“ gesprochen.

Bestehende Regulierungen mariner CDR-Verfahren

Verfahren zur Kohlendioxid-Entnahme aus der Atmosphäre sind spätestens seit der Verabschiedung des Pariser Klimaabkommens im Jahr 2015 ein Thema in verschiedenen internationalen Gremien und Verhandlungen, wobei das Pariser Klimaabkommen selbst keine Aussage zur Kohlendioxid-Entnahme und deren möglicher Regulierung trifft. Im Mittelpunkt des Abkommens stehen die Minderung des Treibhausgasausstoßes und das Ziel der globalen Treibhausgasneutralität in der zweiten Hälfte des aktuellen Jahrhunderts. Der Text des Abkommens lässt dabei offen, wie das angestrebte „Gleichgewicht zwischen den anthropogenen Emissionen von Treibhausgasen aus Quellen und dem Abbau solcher Gase durch Senken“ hergestellt werden soll. Es unterscheidet auch nicht ausdrücklich zwischen natürlichen Senken (Landvegetation und Ozean) und technischen Senken. Experten zufolge leitet sich deshalb auch keine rechtliche Verpflichtung aus dem Pariser Abkommen ab, technische Verfahren zur Kohlendioxid-Entnahme durchzuführen.
Sollte das Pariser Klimaabkommen künftig als globaler Regulierungsrahmen für Verfahren zur Kohlendioxid-Entnahme angewendet werden – was durchaus denkbar wäre –, müssten die Vertragsparteien eine entsprechende Ergänzung zum bisherigen Abkommen oder dessen Weiterentwicklung durch Entscheidungen des jährlich stattfindenden Treffens der Vertragsparteien beschließen.
Konkret verhandelt wird bislang nur der sogenannte Artikel-6.4-Mechanismus. Er soll regulieren, unter welchen Bedingungen Staaten, Unternehmen und Einzelpersonen Zertifikate für Emissionsreduktionen und Kohlendioxid-Entnahmen erhalten und mit diesen handeln können – innerhalb eines Staates als auch über dessen Grenzen hinweg.
Dass unter dem Pariser Klimaabkommen ein globaler Regulierungsrahmen für Verfahren zur Kohlendioxid-Entnahme entwickelt wird, gilt zum jetzigen Zeitpunkt (Herbst 2023) als ziemlich unwahrscheinlich, insbesondere, weil sich die einzelnen land- und meeresbasierten CDR-Technologien grundlegend voneinander unterscheiden. Ein gemeinsames Rahmenregelwerk zu entwickeln, das allen CDR-Verfahren gerecht würde, wäre eine sehr anspruchsvolle Aufgabe. Bedacht werden muss außerdem, dass nicht alle Staaten meeresbasierte Verfahren durchführen können. Binnenländer wie die Schweiz oder Österreich beispielsweise besitzen keine eigenen Küstengewässer, in denen sie abgeschiedenes Kohlendioxid unterseeisch einlagern oder aber Küstenökosysteme massiv erweitern könnten. Sollten Binnenländer demzufolge von möglichen Verhandlungen für ein globales Rahmenregelwerk zu marinen CDR-Verfahren ausgeschlossen werden?
Das Umweltvölkerrecht kennt bislang ebenfalls keine CDR-spezifischen verbindlichen Normen, welche die Erforschung und den Einsatz dieser Technologien umfassend und übergreifend regeln. Experten bezweifeln, dass sich die Staatengemeinschaft jemals auf ein internationales und allgemeingültiges Rechtsregime zum Climate Engineering einigen wird, welches dann auch den Einsatz mariner CDR-Verfahren regeln würde. Dagegen sprechen aktuell zwei Gründe: Erstens sind die Regelungen des Umweltvölkerrechts bereits sehr fragmentiert. Aktivitäten, bei denen es im Kern darum geht, Substanzen in das Meer einzutragen, werden über das Protokoll zum Übereinkommen zur Verhütung der Meeresverschmutzung durch das Einbringen von Abfällen und anderen Stoffen (das sogenannte Londoner Protokoll) reguliert. Für andere Verfahren wie zum Beispiel die Herstellung künstlicher Wolken oder Strahlungsmanagement in der Stratosphäre greifen wiederum das Wiener Abkommen zum Schutz der Ozonschicht und das dazugehörige Montrealer Protokoll oder aber das Genfer Übereinkommen über weiträumige grenzüberschreitende Luftverunreinigung. Zweitens sind in den zurückliegenden Jahren die meisten Bemühungen, diese Fragmentierung durch Ausarbeitung neuer übergreifender Verträge zu reduzieren, überwiegend gescheitert. Eine positive Ausnahme stellt das im Juni 2023 verabschiedete neue globale Abkommen über den Schutz und die nachhaltige Nutzung der marinen Biodiversität in Gebieten jenseits staatlicher Hoheitsgewalt (Biodiversity Beyond National Jurisdiction, BBNJ) dar.

Rechtsverbindliche Grundsätze und Prinzipien des Umweltvölkerrechts

Gänzlich unreguliert ist das Themenfeld „marine CDR-Verfahren“ derzeit allerdings auch nicht, denn es gelten allgemeine und überwiegend auch völkergewohnheitsrechtlich anerkannte Grundsätze und Prinzipien für den Umgang mit der Umwelt, die einen Einsatz mariner CDR-Verfahren steuern – sowohl für Forschungszwecke als auch für einen großflächigen Einsatz zum Ausgleich von Restemissionen. Dazu gehören:
  • das Prinzip der Vorbeugung (Präventionsgrundsatz),
  • die Informations- und Konsultationspflicht,
  • die Pflicht, eine Umweltverträglichkeitsprüfung durchzuführen, bevor eine geplante Maßnahme initiiert wird,
  • das Vorsorgeprinzip,
  • das Kooperationsprinzip sowie
  • das Leitbild einer nachhaltigen Entwicklung.
Das Prinzip der Vorbeugung (Präventionsgrundsatz)
Der Präventionsgrundsatz basiert auf dem Verbot erheblicher grenzüberschreitender Umweltbelastungen und verpflichtet Staaten, im Vorfeld einer geplanten Aktivität alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen zur Vermeidung wahrscheinlicher grenzüberschreitender Umweltschäden zu treffen – und dies mit größtmöglicher Sorgfalt. Dies impliziert, dass technische Standards wie „die besten verfügbaren Technologien“ und „die beste Umweltpraxis“ eingehalten werden müssen.

Die Informations- und Konsultationspflicht
Um die Einhaltung des Präventionsgrundsatzes zu gewährleisten, bedarf es jeweils wechselseitiger Information und Kommunikation. Staaten, die eine Aktivität planen, die das Risiko erheblicher grenzüberschreitender Umweltbelastungen birgt, sind deshalb verpflichtet, potenzielle Opferstaaten frühzeitig über dieses Vorhaben zu informieren. Anschließend müssen sie in Konsultationen eintreten.

Die Pflicht, eine Umweltverträglichkeitsprüfung durchzuführen, bevor eine geplante Maßnahme initiiert wird
Bei einer Umweltverträglichkeitsprüfung handelt es sich um ein rechtlich geordnetes, mehrphasiges Verfahren zur frühzeitigen Ermittlung, Beschreibung und Bewertung aller unmittelbaren und mittelbaren Auswirkungen eines Projektes auf bestimmte Umweltfaktoren, und zwar einschließlich der ökologischen Wechselwirkungen. Für Projekte, deren Umweltauswirkungen grenzüberschreitender Natur sind, muss auch die Umweltverträglichkeitsprüfung im grenzübergreifenden Kontext durchgeführt werden. Sie ist somit ein wichtiger Bestandteil des Präventionsgrundsatzes. Das allgemeine Völkerrecht schreibt jedoch nicht vor, welche genauen Anforderungen im Einzelfall an eine Umweltverträglichkeitsprüfung zu stellen sind. Diese können sich allenfalls aus speziellem Völkervertragsrecht, dem europäischen Unionsrecht und/oder dem nationalen Recht der jeweiligen Staaten ergeben. Die auf globaler Ebene bestehenden Lücken werden künftig, sein Inkrafttreten unterstellt, von den Vorgaben des Abkommens über den Schutz und die nachhaltige Nutzung der marinen Biodiversität in Gebieten jenseits staatlicher Hoheitsgewalt (BBNJ) geschlossen werden. Es definiert Mindeststandards für Umweltverträglichkeitsprüfungen, die künftig von allen Vertragsparteien einzuhalten sind.
Das Vorsorgeprinzip
Das Vorsorgeprinzip besagt, dass die Umwelt am effektivsten geschützt wird, wenn denkbare Belastungen im Voraus vermieden werden. Damit dient es der Risikoabwägung und greift früher als der Präventionsgrundsatz – nämlich bereits dann, wenn eine Umweltgefährdung möglich ist, weil wissenschaftliche Unsicherheit über ihren Eintritt besteht. Das Vorsorgeprinzip wird in internationalen Verträgen auf unterschiedliche Weise ausgestaltet, was seine Operationalisierung erschwert. Eine Kernfrage lautet zum Beispiel: Wie sollen Staaten verfahren, wenn keine abschließende wissenschaftliche Gewissheit über mögliche Risiken besteht? Einige Staaten wie Deutschland gehen in diesem Fall sehr restriktiv vor. Sie neigen dazu, zunächst alles Riskante zu verbieten, und prüfen dann im Einzelfall, was ausnahmsweise erlaubt werden kann. In den USA hingegen werden Risiken schneller akzeptiert. Im Gegenzug wissen alle Beteiligten, dass sie – sollte etwas schiefgehen – Schadensersatz in gravierender Höhe zahlen müssen.
Trotz dieser Unterschiede betrachten viele Völkerrechtsexperten das Vorsorgeprinzip als ein wichtiges Werkzeug des Risikomanagements. Gerade vor dem Hintergrund des Klimawandels wird unter anderem vorgeschlagen, es als Abwägungsmechanismus zu operationalisieren, mit dessen Hilfe Zielkonflikte zwischen verschiedenen Schutzgütern des Umweltvölkerrechts bewältigt werden können – so zum Beispiel Zielkonflikte zwischen Biodiversitätsschutz auf der einen Seite und der Bekämpfung des Klimawandels auf der anderen Seite. Diese Sichtweise jedoch hat sich aber noch nicht allgemein durchgesetzt.
Das Kooperationsprinzip
Ihm zufolge ist Umweltschutz Aufgabe aller gesellschaftlichen Kräfte, das heißt, alle staatlichen und gesellschaftlichen Akteure in umweltrelevanten Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen müssen zusammenarbeiten.

Das Leitbild einer nachhaltigen Entwicklung
Das Konzept der nachhaltigen Entwicklung wurde im Jahr 1992 auf der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung im brasilianischen Rio de Janeiro als internationales Leitbild anerkannt und prägt seitdem das Umweltrecht auf nationaler, überregionaler und internationaler Ebene. Nachhaltige beziehungsweise umweltverträgliche Entwicklung ist grundsätzlich auf den Menschen ausgerichtet. Sie zielt darauf ab, die sozioökonomischen Bedürfnisse aller Menschen zu befriedigen sowie menschengerechte Lebensbedingungen für die gesamte Weltbevölkerung zu gewährleisten. Ein Erreichen dieser Ziele darf allerdings nicht auf Kosten künftiger Generationen gehen.
Zentraler Bestandteil ist zudem der Ansatz, dass alle ökologischen, ökonomischen und sozialen Ziele wegen ihrer engen wechselseitigen Verknüpfung nur durch eine ganzheitliche Herangehensweise dauerhaft verwirklicht werden können. Damit sind die wirtschaftliche Entwicklung und die Armutsbekämpfung zentrale Themen der internationalen Bemühungen zum Schutz der Umwelt geworden.
9.6 > Ein Papagei und eine Blüte zieren eine von mehreren Sonderbriefmarken, welche die brasilianische Post im Jahr 1992 aus Anlass der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro (Rio-Konferenz) herausgegeben hat.
Abb. 9.6: mauritius images/Sergey Nezhinkiy/Alamy Stock Photos

Meeresbasierte CDR-Verfahren individuell bewerten und regulieren

Aus diesen sechs Grundsätzen des Umweltvölkerrechts und den Leitlinien des UN-Seerechtsübereinkommens (UNCLOS) leitet sich Experten zufolge ein sehr detaillierter Regulierungsbedarf für meeresbasierte Verfahren zur Kohlendioxid-Entnahme ab. Wie ein konkreter Regulierungsmechanismus jedoch ausgestaltet werden muss, muss für jedes CDR-Verfahren individuell geprüft und geregelt werden. Es gilt daher, methodenspezifische Antworten auf viele Fragen zu finden. Zu den wichtigsten zählen: Wo kann das Verfahren möglichst risikoarm durchgeführt werden? Wie müsste eine vorherige Risikobewertung aussehen? Ließe sich ein einmal begonnenes Verfahren auch wieder einstellen? Gibt es bereits Best-Practice-Beispiele, von denen sich Regulierungsansätze ableiten ließen? Und auf welche Weise können erwartbare Schäden minimiert werden?
Da die Antworten je nach CDR-Methode sehr unterschiedlich ausfallen werden, empfehlen Rechtswissenschaftler, marine CDR-Methoden separat zu regulieren, indem sie in ihren jeweils spezifischen Regulierungskontext integriert werden. Machbar wäre diese Verfahrensweise, wie das Beispiel des Londoner Protokolls belegt. Dieses internationale Abkommen, ursprünglich nur auf die Abfallentsorgung und -verbrennung im Meer bezogen, ist im Grunde auf alle Aktivitäten anwendbar, die mit dem Einbringen von Substanzen in die Meeresumwelt zu tun haben. Dies umfasst unter anderem auch Technologien zur Alkalinitätserhöhung des Ozeans, Ansätze für künstlichen Auftrieb, Methoden zur Erweiterung kohlenstoffreicher Küstenökosysteme sowie Konzepte zur Kohlendioxidspeicherung im tiefen Meeresuntergrund.

Nach dem Vorbild des Londoner Protokolls

Das UN-Seerechtsübereinkommen verlangt von seinen Unterzeichnerstaaten, dass sie weltweit geltende Gesetze, Regularien und Standards verabschieden, mit denen die Meeresverschmutzung durch das Einbringen von Stoffen und Substanzen verhindert, reduziert und kontrolliert werden können. Dieser Aufforderung ist die Staatengemeinschaft im Jahr 1972 nachgekommen, indem sie das Übereinkommen zur Verhütung der Meeresverschmutzung durch das Einbringen von Abfällen und anderen Stoffen (Londoner Konvention) verabschiedete. Im Jahr 1996 wurde dieses Übereinkommen überarbeitet und durch das Londoner Protokoll aktualisiert – zumindest für all jene 53 Vertragsstaaten, die das Protokoll bislang ratifiziert haben, sodass es im Jahr 2006 in Kraft treten konnte. Die Vorgaben des Londoner Protokolls folgen einer klaren Logik: Grundsätzlich ist jedes Einbringen von Stoffen und Substanzen verboten. Ausnahmen von dieser Regel sind jedoch möglich, dann nämlich, wenn überzeugende Gründe dafür sprechen.
Das Londoner Protokoll besitzt eigene wissenschaftliche Arbeitsgruppen, deren Mitglieder internationale Entwicklungen der Meeres- und Umweltpolitik beobachten und den Vertragsstaaten empfehlen, inwiefern das Protokoll ergänzt werden müsste, um einen wissenschaftlich informierten Regulierungsrahmen zu gewährleisten. Auf diese Weise wurden im Jahr 2006 Rechtsgrundsätze und Verfahrensvorgaben zur Kohlendioxidspeicherung im tiefen Meeresuntergrund hinzugefügt. Drei Jahre später folgten Vorgaben, unter welchen Voraussetzungen Staaten ohne eigene unterseeische Kohlendioxidspeicher das abgeschiedene Treibhausgas zur unterseeischen Speicherung in andere Staaten exportieren dürfen. Letztere Vorgaben sind mangels hinreichender Anzahl von Ratifikationen bislang zwar noch nicht in Kraft getreten; die Vertragsparteien haben sich jedoch auf eine vorläufige Anwendbarkeit verständigt. Dazu müssen die Vertragsparteien eine entsprechende Erklärung bei der Internationalen Seeschifffahrts-Organisation (International Maritime Organization, IMO), die als Sekretariat des Londoner Protokolls fungiert, hinterlegen.
9.7 > Die Londoner Konvention und das ergänzende Londoner Protokoll sind bislang nicht von allen Staaten ratifiziert worden. Welche Nationen bis April 2022 dem Übereinkommen beigetreten sind und welche nicht, wird hier ersichtlich.
Abb. 9.7: nach IMO
Zentral für eine künftige Regulierung mariner CDR-Verfahren durch das Londoner Protokoll sind jedoch Rechtsentwicklungen, zu denen es im Zeitraum von 2008 bis 2013 gekommen ist. Sie bezogen sich zunächst nur auf Projekte zur Ozean- oder Meeresdüngung. Damals bestand die ernsthafte Sorge, Unternehmen könnten dieses Verfahren aus kommerziellen Interessen großflächig einsetzen, ohne dass ausreichend Kenntnisse zu den möglichen Wirkungsweisen und Umweltrisiken vorlägen. Im Jahr 2013 wurde dann eine formelle Ergänzung des Londoner Protokolls beschlossen, die potenziell – ihr Inkrafttreten vorausgesetzt – auf alle Methoden des marinen Geoengineerings anwendbar ist. Sie setzt sich insbesondere aus folgenden wichtigen Änderungen zusammen:
Erstens wurden Maßnahmen zum marinen Geoengineering in den Regelungskatalog des Protokolls aufgenommen. Ein neuer Artikel definiert nun „marines Geoengineering“ als „absichtliche Eingriffe in die Meeresumwelt zur Beeinflussung natürlicher Prozesse, auch um dem anthropogenen Klimawandel entgegenzuwirken, die potenziell schädliche Auswirkungen haben können, insbesondere wenn diese Auswirkungen weit verbreitet, lang anhaltend oder schwerwiegend sein können“. Der Begriff „marines Geoengineering“ ist zwar aus heutiger Sicht veraltet; er bezieht sich aber dennoch im Kern auf marine CDR-Verfahren.
Zweitens beschlossen die Vertragsstaaten, zunächst nur ein Genehmigungsverfahren für Forschungsvorhaben zu installieren. Kommerzielle Einsätze meeresbasierter CDR-Verfahren mit dem Ziel, fossile Treibhausgasemissionen zu kompensieren, sind zum aktuellen Zeitpunkt (Herbst 2023) immer noch verboten. Und selbst die grundsätzliche Bereitschaft, Forschungsvorhaben zu prüfen, ist stark begrenzt. Sie gilt nämlich nur für jene meeresbasierten CDR-Verfahren, die in einem neuen Anhang zum Protokoll gelistet sind, dem sogenannten Anhang Nr. 4, der bislang allerdings nur die Meeresdüngung aufführt. Für Forschungsvorhaben zur Meeresdüngung haben sich die Vertragsparteien des Londoner Protokolls bereits im Jahr 2010 auf einen klaren Begutachtungsprozess verständigt, der wiederum 2013 mit der Ergänzung des Londoner Protokolls zu einem formalen Vertragsbestandteil geworden ist. Der Begutachtungsprozess muss von den Vertragsparteien jeweils in das nach nationalem Recht durchzuführende Genehmigungsverfahren integriert werden und erfordert:
  1. eine Bewertung des beantragten Vorhabens, um festzustellen, ob eine vorgeschlagene Aktivität unter die Definition der im Anhang 4 gelisteten Methoden fällt und tatsächlich als Forschungsprojekt für eine Begutachtung in Frage kommt;
  2. eine detaillierte Umweltverträglichkeitsprüfung des geplanten Forschungsprojektes;
  3. eine Entscheidung, ob das betreffende Experiment durchgeführt werden kann oder nicht, und
  4. eine anschließende Überwachung des Projektes. Deren Ergebnisse sollen als Grundlage für künftige Entscheidungen und zur Verbesserung künftiger Begutachtungen dienen.
Dieser Begutachtungsprozess stützt sich stark auf Elemente der Risikobeschreibung und des Risikomanagements, indem das Londoner Protokoll gewissermaßen sagt: Meeresforschende dürfen Experimente zur Meeresdüngung durchführen, wenn sie das Schadenspotenzial klar einschätzen können und entsprechend Vorsorge betreiben, um Schäden zu verhindern. In jedem Fall aber brauchen sie eine staatliche Genehmigung für ihre Forschungsvorhaben. Experten zufolge spiegelt der Begutachtungsprozess somit eine Umsetzung des Vorsorgeprinzips wider und stellt indirekt eine Verbindung zwischen den Bereichen des internationalen Seerechts und des internationalen Umweltrechts her. Als Leitsatz gilt dabei: „Wenn die Risiken und/oder Unsicherheiten so hoch sind, dass sie im Hinblick auf den Schutz der Meeresumwelt unter Berücksichtigung des Vorsorgeprinzips als unannehmbar angesehen werden, sollte eine Entscheidung getroffen werden, den Vorschlag zu überarbeiten oder abzulehnen.“
Welche Risiken beziehungsweise Unsicherheiten dabei als inakzeptabel gelten können, wird durch die Vorgaben im Londoner Protokoll allerdings nicht geklärt. Dieser Umstand sowie der ausdrückliche Verweis auf den Vorsorgeansatz zeigen nach Meinung von Völkerrechtlern, dass der Begutachtungsprozess durch den Rückgriff auf die Anforderungen des internationalen Umweltrechts geprägt sein könnte sowie durch gesellschaftspolitische Diskurse, die über rein rechtliche Aspekte hinausgehen.
Wichtig zu wissen ist zudem, dass geplante Forschungsvorhaben nicht durch die internationalen Experten des Londoner Protokolls selbst begutachtet werden. Diese Aufgabe und die finale Entscheidung über eine Genehmigung übernimmt die für die Umsetzung des Londoner Protokolls zuständige Behörde jener Vertragspartei, unter deren Hoheitsgewalt das Experiment durchgeführt werden würde. Im Falle eines Vorhabens deutscher Meeresforschender wäre dies beispielsweise das deutsche Umweltbundesamt. Die zuständige Behörde auf nationaler Ebene wiederum muss die Anforderungen des Londoner Protokolls beachten. Zu diesen Anforderungen gehört zum Beispiel, dass nur solche Forschungsprojekte genehmigt werden dürfen, die alle Vorgaben des Londoner Protokolls erfüllen. Experten sprechen daher von einer „Entscheidung unter Genehmigungsvorbehalt“. Die Vorgaben des Londoner Protokolls gelten nach Artikel 210 Absatz 6 des UN-Seerechtsübereinkommens für alle UNCLOS-Vertragsstaaten – und nicht nur jene, die dem Protokoll beigetreten sind.
Um es noch einmal zu wiederholen: Bislang gilt der Marine-Geoengineering-Regulierungsmechanismus des Londoner Protokolls nur für Forschungsvorhaben zur Meeresdüngung. Er ließe sich nach Meinung von Experten jedoch vergleichsweise unkompliziert auf weitere meeresbasierte CDR-Verfahren erweitern – zum einen, weil sich die Regelungskomplexe zur Meeresdüngung bereits bewährt haben; zum anderen lassen sich Regelungen zu so spezifischen Fragestellungen schneller konkretisieren als übergreifende Verträge, sodass sich alle Verantwortlichen schnell auf konkrete Festlegungen einigen können. Vorüberlegungen zu einer Erweiterung der Anhang-4-Liste laufen bereits. So haben Experten der GESAMP-Arbeitsgruppe für meeresbasierte Verfahren zur Minderung des Klimawandels (GESAMP Working Group 41 on Ocean Interventions for Climate Change Mitigation) den wissenschaftlichen Gremien des Londoner Protokolls die Aufnahme weiterer Verfahren vorgeschlagen und Vorgaben für methodenspezifische Risikobewertungen erarbeitet. Vier dieser Vorschläge haben die Vertragsstaaten des Londoner Protokolls im Oktober 2022 priorisiert. Allerdings dienen nur zwei der Kohlendioxid-Entnahme. Die zwei restlichen Verfahren zielen auf eine Veränderung der Strahlungsbilanz der Meeresoberfläche ab. Zu den Vorschlägen zählen:
  • das Einbringen alkalinitätserhöhender Substanzen (Ziel: Kohlendioxidaufnahme des Meeres verstärken),
  • die Zucht von Großalgen verbunden mit Maßnahmen zum künstlichen Auftrieb (Ziel: Kohlendioxidaufnahme des Meeres verstärken),
  • das Versprühen winziger Meerwassertropfen über der Meeresoberfläche, im Englischen Marine Cloud Brightening genannt (Ziel: das Rückstrahlvermögen der Meeresoberfläche erhöhen),
  • das Erzeugen winziger Wasserblasen im Oberflächenwasser oder das Einbringen reflektierender Partikel oder Materialien (Ziel: das Rückstrahlvermögen der Meeresoberfläche erhöhen).
Sollten diese Methoden eines Tages aufgenommen werden, würden entsprechende Forschungsvorhaben auf dieselbe Art und Weise begutachtet wie wissenschaftliche Vorhaben zur Meeresdüngung. Um unter dem Schirm des Londoner Protokolls jedoch auch kommerzielle beziehungsweise großskalige CDR-Einsätze regulieren zu können, müsste das Vertragswerk entsprechend erweitert werden. Ob sich die Vertragsstaaten dazu entschließen werden, bleibt abzuwarten. Bislang ist noch nicht einmal die Protokoll-Ergänzung aus dem Jahr 2013 in Kraft getreten. Dazu müsste sie von mindestens zwei Dritteln der Vertragsstaaten des Londoner Protokolls ratifiziert werden. Inoffiziell aber agieren die meisten Staaten, als würden die neuen Vorschriften bereits gelten.
9.8 > In Deutschland fungiert das Umweltbundesamt als Genehmigungs- und Überwachungsbehörde für wissenschaftliche Projekte, die dem marinen Geoengineering zugeschrieben werden und Stoffe in das Meer einbringen wollen. Jedes dieser Projekte muss das hier skizzierte Antrags- und Genehmigungsverfahren durchlaufen.
Abb. 9.8: nach Umweltbundesamt

Welche Akteure sind jetzt gefragt?

Ganz unabhängig davon, ob marine CDR-Verfahren eines Tages im großen Maßstab eingesetzt werden sollen oder nicht, sollte die Staatengemeinschaft alles daran setzen, zeitnah einen gemeinsamen Regulierungsrahmen zu installieren. Der Weltozean mit seinen internationalen Gewässern als „gemeinsames Erbe der Menschheit“ geht nämlich alle an und lässt sich – wie das Klima auch – nur gemeinsam wirkungsvoll schützen und nachhaltig nutzen. Wichtige Schritte für den Aufbau eines gemeinsamen Regulierungsrahmens wären ein Beitritt möglichst vieler Staaten zum Londoner Protokoll sowie eine Ratifizierung des Abkommens und aller bereits beschlossenen Ergänzungen zum marinen Geoengineering. Anschließend müssten die jeweiligen Vorgaben in nationales Recht umgesetzt werden. Verantwortlich dafür sind die nationalen Regierungen und Parlamente.
Einigen Experten zufolge werden auch marktwirtschaftliche Anreize benötigt. Hinter solchen Aussagen steckt häufig die Forderung nach einem Markt für den Handel mit Entnahmegutschriften oder -zertifikaten. Akteure sollen Zertifikate für ihre Kohlendioxid-Entnahme erhalten und diese an Emittenten mit schwer vermeidbaren Emissionen verkaufen können. Würde ein solcher Markt ins Leben gerufen oder aber Entnahmezertifikate in die bestehenden Emissionshandelssysteme integriert werden, könnte dies ein Ansporn für Staaten und Unternehmen sein, verstärkt in die Erforschung und Anwendung von CDR-Verfahren zu investieren, argumentieren die Befürworter.
Das deutsche Umweltbundesamt und andere Fachleute wiederum kritisieren Vorschläge, wonach Emittenten eigene Emissionen, ob schwer vermeidbar oder nicht, durch den Ankauf von CDR-Zertifikaten kompensieren könnten. Solche Mechanismen könnten Unternehmen davon abhalten, vermeidbare Emissionen zu reduzieren – vor allem, wenn die dazu notwendigen Maßnahmen kostspielig seien. Stattdessen sollten Maßnahmen zur Kohlendioxid-Entnahme losgelöst vom Emissionshandel bilanziert werden und Entnahmezertifikate nicht für die Erfüllung von Emissionsreduktionsverpflichtungen verwendet werden dürfen. Akteure, die freiwillig Kohlendioxid-Entnahme betreiben oder aber in diese investieren, könnten beispielsweise durch staatliche Subventionen unterstützt werden. Diese Gelder dürften aber nur ausgezahlt werden, wenn die erfolgte CO2-Entnahme ordnungsgemäß zertifiziert wurde.
Ungeachtet dessen gilt: Wer Emissionszertifikate für eine bestimmte Kohlendioxid-Entnahme ausstellen möchte, benötigt ein einheitliches Verfahren, mit dem die tatsächlichen Kohlendioxidflüsse in einem Entnahmeprojekt gemessen, dokumentiert und verifiziert werden können. Gelänge es, ein solches einheitliches System weltweit zu installieren, könnten Rechtsunsicherheiten reduziert, Missbrauch verhindert und angemessene Umweltstandards für CDR-Verfahren eingeführt werden, schreiben Fachleute.
Mit hohen Erwartungen sieht sich auch die Wissenschaft konfrontiert. Sie soll das Grundlagenwissen liefern, auf dessen Basis die im Londoner Protokoll vorgeschriebene Umweltverträglichkeitsprüfung sachgemäß durchgeführt werden kann. Zudem ist es auch ihre Aufgabe, Konzepte und Technologien für ein verlässliches Beobachtungs-, Dokumentations- und Verifizierungssystem zu entwickeln, auf dessen Basis dann Emissionszertifikate ausgegeben werden können. Alle Ergebnisse müssen obendrein zeitnah und transparent kommuniziert werden – an Entscheidungstragende ebenso wie an die breite Öffentlichkeit.

Abb. 8.14: Heidi Wideroe/Bloomberg via Getty Images

 

9.9 > In einer Meeresbucht im Süden Alaskas vermischt sich sedimentbeladenes Schmelzwasser des Taku-Gletschers mit dem klaren Wasser des Pazifischen Ozeans. Solche Einträge von Sand und Gesteinspartikeln steigern auf natürliche Weise die Alkalinität des Meerwassers.

 

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Eine längst überfällige öffentliche Debatte

Gebraucht wird allerdings auch eine viel stärkere öffentliche Debatte darüber, ob der Mensch zu Klimaschutzzwecken in das System Meer eingreifen sollte, und wenn ja, welche Risiken und Schäden wir dafür bereit sind in Kauf zu nehmen oder wie wir Betroffene dafür entschädigen wollen. Diese so wichtige gesellschaftliche Auseinandersetzung findet bislang nicht statt. Es ist daher unklar, wie Menschen auf verschiedene CDR-Verfahren oder aber konkrete Einsatzpläne reagieren würden.
Forschende beobachten, dass sich Menschen bei ihrer Meinungsbildung häufig von emotionalen Einstellungen gegenüber Eingriffen in die Natur leiten lassen anstelle von rationalen Abwägungen. Oft ist die Meinungsbildung auch durch enge Bindungen an soziale Normen geprägt. Wie sich Menschen zu CDR positionieren, hängt unter anderem davon ab, ob sie ein Verfahren als „natürlich“ oder „unnatürlich“ empfinden. Wenn zum Beispiel die Abscheidung von Kohlendioxid aus der Umgebungsluft mit anschließender Speicherung als „Entnahme durch künstliche Bäume“ beschrieben wird, erfährt die Methode deutlich größere Unterstützung, als wenn von einem chemischen Prozess in einer technischen Anlage die Rede ist. Im Hinblick auf meeresbasierte CDR-Verfahren werden erfahrungsgemäß Methoden zur Wiederherstellung und Erweiterung von Mangrovenwäldern, Seegraswiesen und Salzmarschen oder aber eine intensive Großalgenzucht als „natürlich“ wahrgenommen, während die Alkalinisierung des Ozeans als eher unnatürlich und risikoreich betrachtet wird, obwohl auch diesem Verfahren natürliche Prozesse zugrunde liegen.
Wie gut die breite Bevölkerung über einzelne CDR-Methoden informiert ist und welche Meinung sie aufgrund dessen vertritt, wird für den weiteren Umgang mit Verfahren zur Kohlendioxid-Entnahme aus der Atmosphäre jedoch entscheidend sein. Abzusehen ist heute schon, dass die politisch-gesellschaftliche Debatte zu marinen CDR-Verfahren keine einfache wird: Zum einen, weil es zu Fragen nach möglichen Risiken nicht immer klare, eindeutige Antworten und damit Gewissheit geben wird – auch dann nicht, wenn diese Methoden eines Tages in großen Feldversuchen getestet werden sollten. Zum anderen muss uns angesichts der zunehmenden Erderwärmung und der damit verbundenen Schäden längst klar sein, dass wir wirksame Klimaschutzmaßnahmen viel zu lange hinausgezögert haben und unter den aktuellen Bedingungen nicht mehr alle Umweltgüter erhalten werden können. Unser übergeordnetes Ziel kann nur lauten, die Treibhausgasemissionen schnellstmöglich zu reduzieren und uns bestmöglich an das neue Klima anzupassen, um dessen Risiken für uns und die Natur zu minimieren.
Zehn wichtige Begriffe aus der CDR-Debatte
S. 202: Tabelle nach maribus
Damit dies gelingt, werden wir in neue Abwägungsprozesse eintreten müssen, die uns vor völlig neue Herausforderungen stellen. Ein Beispiel: Sollte unsere Gesellschaft den Einsatz meeresbasierter CDR-Verfahren für notwendig erachten, werden wir wahrscheinlich in Kauf nehmen müssen, ein gewisses Restrisiko einzugehen. Sollten neue wissenschaftliche Erkenntnisse dann jedoch zeigen, dass es zu ungeahnten Fehlentwicklungen kommen kann, müssen die zuständigen Behörden sofort intervenieren. Auch aus diesem Grund sind eine enge wissenschaftliche Kontrolle und Überwachung einzelner CDR-Projekte so zentral.
Eine informierte und transparente gesellschaftliche Debatte verlangt außerdem Klarheit darüber, welche Begriffe und Bezeichnungen wofür benutzt werden. Die Vielzahl an Fachbegriffen, die mitunter sehr unterschiedlich definiert und verwendet werden, erschwert es Außenstehenden derzeit enorm, den wissenschaftlichen und politischen Diskussionen zu folgen. Gleichzeitig behindert die fehlende begriffliche Klarheit schnelle Fortschritte bei der Entwicklung effizienter Maßnahmen, Vorschriften, Förderrichtlinien und Regularien. Beispielgebend ist die Diskussion, wann von Restemissionen gesprochen wird und wann von schwer vermeidbaren Emissionen.
Fachleute einer deutschen Forschungsmission beispielsweise definieren „Restemissionen“ als eine Größe, die lediglich beschreibt, welche vom Menschen verursachten Treibhausgasemissionen im und nach dem Netto-Null-Jahr tatsächlich noch in die Atmosphäre gelangen. Davon unterscheiden sie die „schwer vermeidbaren Emissionen“. Denn welche Emissionen als „schwer vermeidbar“ eingestuft werden, sei von Akteursgruppe zu Akteursgruppe unterschiedlich und hänge von der individuellen Motivlage ab. Auch seien die Begründungen für die Einstufungen oftmals verschieden. Andere Beteiligte wiederum verwenden die Begriffe „Restemissionen“ und „schwer vermeidbare Emissionen“ noch synonym.

Eine Frage der menschlichen Existenz

Den politischen, technischen und gesellschaftlichen Debatten und Entwicklungen hinsichtlich land- oder meeresbasierter Kohlendioxid-Entnahmeverfahren zu folgen, ist und bleibt demzufolge eine Herausforderung. Davon sollte sich allerdings niemand abschrecken lassen, denn letztendlich geht es um nicht weniger als unsere Existenz. Wenn wir noch größere klimabedingte Verluste und Schäden für Mensch und Natur verhindern wollen, muss es uns gelingen, die globale Erwärmung auf unter zwei Grad Celsius, bestenfalls auf 1,5 Grad Celsius zu begrenzen. Dieses Ziel werden wir nur erreichen, wenn wir ab dem Jahr 2050 weniger Kohlendioxid ausstoßen, als wir der Atmosphäre mithilfe verschiedener Verfahren entnehmen. Daran gibt es nahezu keine wissenschaftlichen Zweifel mehr.
Meeresbasierte Entnahmeverfahren könnten uns helfen, Restemissionen auszugleichen. Allerdings ist heute schon absehbar, dass wir mit keiner Methode allein in der Lage sein werden, der Atmosphäre so große Mengen Kohlendioxid auf ökologische und sozialverträgliche Weise zu entnehmen, dass wir die Erwärmung auf weit unter zwei Grad Celsius begrenzen können. Wir werden viele verschiedene land- und meeresbasierte CDR-Methoden einsetzen müssen – eine jede dort, wo sich ihr Einsatz, einschließlich aller positiven und negativen Nebenwirkungen, bestmöglich mit dem Ziel der nachhaltigen Entwicklung vereinbaren lässt. Methoden, die auf eine Wiederherstellung und Erweiterung kohlenstoffreicher Küstenökosysteme setzen, ließen sich sogar relativ zeitnah umsetzen. Technologische Verfahren wie die Alkalinitätserhöhung hingegen sind bislang wenig getestet. Hier werden noch einige Jahre bis Jahrzehnte vergehen, bis die meisten Verfahren technisch so weit sind, dass sie kontrolliert im großen Stil eingesetzt werden können.
9.11 > Mit einer 2500 Quadratmeter großen Postkarte, zusammengesetzt aus 125 000 Einzelpostkarten, beschriftet von Kindern und Jugendlichen aus mehr als 35 Ländern, demonstrierten Klimaschützer im November 2018 am Aletsch-Gletscher in der Schweiz für wirksamen Klimaschutz und eine Einhaltung des 1,5-Grad-Zieles.
Abb. 9.11: picture alliance/AP Photo/Valentin Flauraud
Für alle bekannten oder aber in Entwicklung befindlichen CDR-Verfahren gilt: Ihre Durchführbarkeit und ihr jeweiliges Kohlendioxid-Entnahmepotenzial hängen von den kontextspezifischen Bedingungen vor Ort ab. Dazu gehören die Klima- und Umwelteigenschaften des Standortes, die Verfügbarkeit von Infrastrukturen und Ressourcen sowie die dringend benötigte öffentliche Unterstützung. Gebraucht werden außerdem klare Einsatzregelungen sowie politische Anreize, um Schäden für Umwelt und Menschen zu verhindern, das theoretische Entnahmepotenzial bestmöglich auszuschöpfen und mögliche Zusatznutzen zu generieren.
Vielversprechende CDR-Ansätze müssen in nationale und internationale Strategien zum Umgang mit Restemissionen aufgenommen und die zahlreichen erforderlichen Transport- und Infrastrukturen geschaffen werden. Ein Schritt, der parallel erfolgen muss zu einem weiteren Ausbau der erneuerbaren Energien sowie zu einem breiteren Einsatz energieeffizienzsteigernder und ressourcenschonender Technologien und Verhaltensweisen. Nach Expertenmeinung bieten CO2-Entnahmeverfahren nur in Kombination mit maximal möglichen Treibhausgasreduktionen und einer verbesserten Energie- und Ressourcennutzung die Chance, unser Ziel der globalen Treibhausgasneutralität bis zum Jahr 2050 zu erreichen. Wobei jederzeit gilt: Je kleiner die Menge der Restemissionen ist, desto weniger Kohlendioxid-Entnahme muss betrieben werden, um diese auszugleichen.
Die gute Nachricht ist: Die Staatengemeinschaft verfügt bereits über einen Mechanismus, mit dem sich zunächst Forschungsvorhaben, später aber auch groß angelegte Einsätze zu marinen CDR-Verfahren steuern und regulieren ließen. Risiko- und folgenlos aber werden solche Einsätze nicht sein. Daher gilt es, bei jeder Entscheidung sorgsam abzuwägen – eine enorm schwierige Aufgabe. Aber die Zeit der leichten Antworten ist aufgrund unseres Nichtstuns in Sachen Klimaschutz längst vorbei. Textende