Konzepte für eine bessere Welt
1
WOR 4 Der nachhaltige Umgang mit unseren Meeren – von der Idee zur Strategie | 2015

Der Wert der Natur

Der Wert der Natur © Ingetje Tadros/Getty Images

Der Wert der Natur

> Will der Mensch die natürlichen Ressourcen schonend und nachhaltig verwenden, muss er abwägen, auf welche Weise und in welchem Maße er die Natur nutzen oder schützen möchte. Das ist nur dann möglich, wenn er Kosten und Nutzen adäquat einschätzen kann. Dabei kann es hilfreich sein, die Natur im ökonomischen Sinne als Naturkapital zu betrachten. Allerdings ist es durchaus problematisch, den Leistungen der Natur einen Wert zu geben.

Unsere Natur – ein gigantischer Dienstleister

Die Natur liefert seit jeher den Menschen lebenswichtige Dinge wie etwa Früchte, Getreide, Fisch, Fleisch oder Holz. Auch saubere Luft und sauberes Wasser stellt sie kostenlos zur Verfügung. Ökonomen fassen all diese Aspekte unter dem Begriff des Naturkapitals zusammen. Naturkapital wird vereinfachend als Bestand natürlicher Güter wie zum Beispiel des Erdbodens, des Waldes oder des Meeres definiert, die Naturprodukte und Dienstleis­tungen wie etwa frische Luft oder Trinkwasser hervor­bringen.
1.10 > Einer der ersten Hoch­öfen im englischen Coalbrookdale im Jahr 1801. Während der industriellen Revolution ereignete sich in der Ökonomie ein Paradigmenwechsel. Für viele Experten verloren der Faktor Boden und die Leistungen der Natur an Bedeutung. Als entscheidend für das Wirtschaftswachstum wurde allein der Einsatz von Sachkapital angesehen.
Abb. 1.10: Einer der ersten Hoch­öfen im englischen Coalbrookdale im Jahr 1801. Während der industriellen Revolution ereignete sich in der Ökonomie ein Paradigmenwechsel. Für viele Experten verloren der Faktor Boden und die Leistungen der Natur an Bedeutung. Als entscheidend für das Wirtschaftswachstum wurde allein der Einsatz von Sachkapital angesehen. © http://de.wikipedia.org/wiki/Coalbrookdale (Stand: Oktober 2015)
Gemessen an der mehrere Jahrhunderte alten Geschichte der Ökonomie ist der Begriff des Naturkapitals noch recht jung. Er wurde erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geprägt. Bis dahin wurden die Natur und ihre Leistungen von Ökonomen als Selbstverständlichkeit betrachtet. Die einzige Ausnahme war der fruchtbare Ackerboden. Vor der Erfindung des Kunstdüngers war die Fruchtbarkeit der Böden beziehungsweise ihr Ertrag begrenzt. Die Produktivität der Äcker ließ sich nicht beliebig steigern, weil die Menge an Nährstoffen begrenzt war. Um dennoch aus­reich­end Nahrung für die Bevölkerung produzieren zu können, mussten große Ackerflächen bestellt werden. Entsprechend viele Menschen arbeiteten in der Landwirtschaft. Nachdem der deutsche Chemiker Justus Liebig Mitte des 19. Jahr­hun­derts den Kunstdünger erfunden hatte, änderte sich die Situation. Die Produktivität der Äcker erhöhte sich um ein Vielfaches. Weniger Bauern konnten mehr ernten. Damit wurden Arbeits­kräfte frei, die man in den Fabriken der wachsenden Industriestädte benötigte. Die Bedeutung des Bodens für die Wirtschaftskraft sank. Stattdessen betrachteten viele Ökonomen allein das Sachkapital in Form von Maschinen und Infrastruktur als die bestimmende Größe des Wirtschaftswachstums.

Unendliche Ernte?

Nur wenige Denker betrachteten die Natur und deren Dienstleistungen differenzierter. Zu ihnen gehörte der englische Philosoph und Ökonom John Stuart Mill, der in den 1870er Jahren betonte, dass die Natur auch um ihrer Lieblichkeit willen erhalten werden müsse. Mill wünschte sich einen Stopp des Bevölkerungswachstums. Er fürchtete, dass der Mensch weiter naturnahe, ästhetische Gebiete zerstören würde, wenn die Zahl der Menschen weiter stiege.
Abb. 1.11: Der englische Philosoph und Ökonom John Stuart Mill stellte bereits in den 1870er Jahren fest, dass die Natur weiter zerstört werden würde, wenn man das Bevölkerungswachstum nicht stoppte. © mauritius images/Alamy 1.11 > Der englische Philosoph und Ökonom John Stuart Mill stellte bereits in den 1870er Jahren fest, dass die Natur weiter zerstört werden würde, wenn man das Bevölkerungswachstum nicht stoppte.
Konkreter wurde zu dieser Zeit der französische Ökonom Léon Walras, der 1874 seine „Mathematische Theorie der Preisbestimmung der wirt­schaft­lichen Güter“ ver­öf­fent­lichte. Darin beschäftigt er sich unter anderem ausführlich mit den Dienst­leist­ungen der Natur. In seinem Werk entwickelt Walras den Begriff des Natur­kapitals. Auch Walras betrachtet die Natur zunächst als unerschöpflichen Quell, denn seiner Ansicht nach kann Naturkapital nicht gänzlich zerstört werden. Vielmehr liefere es Jahr für Jahr immer neue Produkte. Diese Frucht­bar­keit der Natur bezeichnet Walras als Dienst­leistung; die Erträge, die die Landwirtschaft erbringt, als Rente. Allerdings erkennt Walras, dass sich Naturkapital, wie andere Kapitalien auch, verknappen kann, wodurch dessen Wert steigt: „In entwickelten Gesellschaften kann es sehr knapp sein und sein Wert extrem hoch.“ Walras differenziert weiter und schreibt, dass sich Naturkapital auf die beiden Arten nutzen lasse: erstens als bestehender Kapitalstock, aus dem langfristig Einkommen generiert werde, beispiels­weise ein Apfel­baum, der über viele Jahre Früchte liefert; zweitens als Kapital, das direkt genutzt werde, beispielsweise, indem man den Baum fällt und das Holz verkauft. Walras’ Ansatz war ausgesprochen modern, denn er schlüsselte den Begriff des Naturkapitals weiter auf. Auch heute noch unterscheiden Experten dementsprechend zwischen Bestands- und Flussgrößen – also zwischen Naturkapital, das man direkt nutzt und verbraucht, und Naturkapital, das über längere Zeit einen kontinuierlichen Strom an Renten liefert. Trotz der Arbeiten von Walras spielte das Naturkapital rund 100 Jahre lang in der ökonomischen Theorie keine Rolle, weil Ökonomen davon überzeugt waren, dass es keine absolute Knappheit von Naturkapital geben könne.

Ist der Wert der Natur messbar?

Heute ist der Begriff des Naturkapitals etabliert. Allerdings ist umstritten, wie man den Wert der Natur überhaupt schätzen soll. Diese Frage ist wichtig, wenn man beurteilen will, wie groß die Verluste durch die fortschreitende Naturzerstörung sind oder ob sich Investitionen in Naturkapitalien lohnen. Zu solchen Investitionsprojekten gehören beispielsweise die Renaturierung zerstörter Naturflächen oder die naturnahe Bewirt­schaf­tung von Wäldern. Die Bewertung bzw. Monetarisierung des Naturkapitals ist eine große Herausforderung. Vor allem weil es nicht nur eine Form von Naturkapital gibt, sondern viele verschiedene – Wälder, Flüsse, Wiesen oder das Meer. Und alle liefern verschiedene Dienstleistungen.
1.12 > Weltkarte mit den verschiedenen Ökosystemtypen und den errechneten Werten ihrer Ökosys­temleistungen (in US-Dollar pro Hektar und Jahr).
Abb. 1.12: Weltkarte mit den verschiedenen  Ökosystemtypen und den errechneten Werten ihrer Ökosys­temleistungen (in US-Dollar pro Hektar und Jahr). © nach Costanza et al.
Ökosystemleistung Als Ökosystemleistung bezeichnen Ökonomen und Nachhaltigkeitstheoretiker Dienste, die die Natur erbringt. Beispiele sind die Bereitstellung von Trinkwasser, frischer Luft oder Nahrung in Form von Fisch und Früchten. Hinzu kommen nicht direkt messbare Aspekte wie die Schönheit einer Landschaft, die dem Menschen Erholung bietet. Als Naturkapital wiederum bezeichnet man die natürlichen Ressourcen, die all diese Ökosystemleis­tungen hervorbringen.
1997 veröffentlichte ein Team US-amerikanischer Naturwissenschaftler und Ökonomen eine Studie, in der sie versuchten, den Gesamtwert der Dienstleistungen aller Ökosysteme weltweit zu erfassen. Sie kamen zu dem Schluss, dass das globale Naturkapital mitsamt diesen verschiedenen Ökosystemleistungen jährlich 33 Billiarden US-Dollar erbringt – das ist fast doppelt so viel wie das weltweite Brutto­national­ein­kom­men in Höhe von 18 Billiarden US-Dollar. In dieser Studie hatten die Meere mit 21 Billiarden US-Dollar den größten Anteil. Für ihre Untersuchung hatten die Wissenschaftler den Globus in rund 20 Öko­system­typen aufgeteilt und 17 Öko­system­lei­stungen wie etwa Regulierung des Klimas, Wasservorrat oder Lebensmittelproduktion definiert. Anschließend bestimmten sie für jedes Ökosystem und jede Dienstleistung den Wert eines Hektars und rechneten dann auf die globale Fläche hoch. 2011 wurde erneut eine Untersuchung vorgestellt, in der sowohl eine Neubewertung der Daten aus 1997 als auch eine Aktualisierung der Ökosystemleistungen vorgenommen wurde. Eines der wichtigsten Ergebnisse dieser Studie war, dass aufgrund von Landnutzungsänderungen der Wert der Öko­system­lei­stungen von 1997 bis 2011 jährlich um mindestens durchschnittlich 4,3 Billiarden US-Dollar gesunken war. Landnutzungsänderungen sind zum Beispiel die Umwandlung von tropischen Regenwäldern und Feuchtgebieten in landwirtschaftliche Nutzfläche.
1.13 > Um den Gesamtwert der Dienstleistungen aller Ökosysteme weltweit abzuschätzen, definierten US-Forscher 1997 verschiedene Ökosystemleistungskategorien. Zwar wurde die Studie kritisiert, weil sie die weltweite Situation stark vereinfachte. Dennoch war sie ein Meilenstein, weil sie verdeutlichte, welche enorme ökonomische Bedeutung Ökosystemleistungen in der Summe haben.
* Ökosystemgüter sind in die Ökosystemleistungen miteinbezogen.<br /><br />
Abb. 1.13: Um den Gesamtwert der Dienstleistungen aller Ökosysteme weltweit abzuschätzen, definierten US-Forscher 1997 verschie­dene Ökosystemleistungskategorien. Zwar wurde die Studie kritisiert, weil sie die weltweite Situation stark vereinfachte. Dennoch war sie ein Meilenstein, weil sie verdeutlichte, welche enorme ökonomische Bedeutung Ökosystemleistungen in der Summe haben. © Costanza et al.

* Ökosystemgüter sind in die Ökosystemleistungen miteinbezogen.

An diesen Studien gab es massive Kritik. Experten bemängelten, dass die Hochrechnungen unzulässig seien, weil sie stark vereinfachen und die Vielfalt der Ökosys­teme nicht ausreichend berücksichtigen würden. Kritisiert wurde auch, dass zwar eine Zahl im Raum stehe, aber völlig unklar sei, welche politischen Kon­se­quen­zen daraus zu ziehen seien. So lieferten die Studien keine Hand­lungs­anweis­ungen, wie oder welches Naturkapital geschützt werden müsse. Obwohl die erste Studie 1997 im angesehenen Fachjournal „Nature“ erschien, wird sie heute weniger als profunde wissenschaftliche Arbeit, sondern vielmehr als politisch motivierte Veröffentlichung betrachtet. Als solche, sagen Experten, sei sie von Bedeutung gewesen, da sie erstmals gezeigt habe, welche Größenordnung der Wert von Naturkapital überhaupt haben kann.

Verschiedene Typen von Dienstleistungen

Mit der Veröffentlichung der Studie 1997 kam die Frage auf, ob es überhaupt zulässig sei, Naturkapital einen monetären Wert zu geben. Ein Argument lautete, dass Naturkapital für den Menschen überlebenswichtig, unersetzlich und damit unendlich wertvoll sei. Eine Monetarisierung sei unangemessen. Diese extreme Position vertreten heute nur noch wenige Fachleute. Als nicht monetarisierbar gelten heute lediglich sogenannte Primärwerte (primary values), die die Grundlage für das Leben auf der Erde darstellen – etwa die Sonnenstrahlung, das Süßwasser oder der Luftsauerstoff. Solchen Primärwerten einen Preis zu geben wäre wenig zielführend.
1.14 > Ein Teil der Blüte der Orchideen­art Lepanthes glicensteinii ist wie das Geschlechts­teil weiblicher Trauermücken geformt. In die Irre geführt, kopuliert das Männchen mit der Blüte und nimmt dabei Pollen auf, mit denen es anschließend andere Pflanzen bestäubt – ein Beispiel für eine regulierende Ökosystemleistung.
Abb. 1.14: Ein Teil der Blüte der Orchideenart Lepanthes glicensteinii ist wie das Geschlechtsteil weiblicher Trauermücken geformt. In die Irre geführt, kopuliert das Männchen mit der Blüte und nimmt dabei Pollen auf, mit denen es anschließend andere Pflanzen bestäubt – ein Beispiel für eine regulierende Ökosystemleistung. © Mario A. Blanco
Sicher ist, dass sich dem Naturkapital nur dann ein Geldwert zumessen lässt, wenn man es kleinräumiger betrachtet. So kann der Wert des Meeres in seiner Gesamtheit kaum bestimmt werden; der eines bestimmten Meeresgebiets oder einer bestimmten Dienstleistung schon sehr viel eher. Bevor man sich überhaupt daranmachen kann, Naturkapital zu bewerten, muss es zunächst kategorisiert werden. Einen solchen Versuch starteten im Jahr 2001 die Vereinten Nationen (United Nations, UN) mit dem internationalen Großprojekt Millennium Ecosystem Assessment (MA), in dem mehrere Hundert Forscher alle Ökosysteme weltweit analysierten und in verschiedene Kategorien von Dienstleistungen
Tsunami
einteilten:
  • unterstützende Dienstleistungen (supporting services), die das Ökosystem selbst erhalten, etwa Nährstoffkreisläufe oder die genetische Vielfalt;
  • bereitstellende Dienstleistungen (providing services), die Nahrung, Wasser, Baumaterial (Holz), Fasern oder Rohstoffe für Arzneimittel hervorbringen;
  • regulierende Dienstleistungen (regulating services), die das Klima einrichten, für die Aufnahme von Abfallstoffen sowie Luftschadstoffen sorgen, für gute Wasserqualität verantwortlich sind oder für die Bestäubung von Pflanzen;
  • kulturelle Dienstleistungen (cultural services), die Erholung, Naturtourismus, ästhetisches Vergnügen und spirituelle Erfüllung ermöglichen.
Obwohl solch eine Einteilung bei der Monetarisierung von Naturkapital hilfreich sein kann, sind viele Ökosys­teme mitsamt den vielen Beziehungen zwischen den Lebewesen doch so komplex, dass man ihre Bedeutung und Leis­tung, und damit ihren Wert, nicht in ganzem Umfang erfassen kann. Wissenschaftlern fällt es sogar schwer abzuschätzen, welche Konsequenzen das Verschwinden allein einer Tierart wie zum Beispiel einer Raubfischspezies haben könnte, ganz zu schweigen von der Zerstörung eines ganzen Ökosystems. Orchideen im Regenwald beispielsweise werden mitunter nur von einer einzigen Insektenart bestäubt. Fehlt das Insekt, verschwindet die Orchidee, von der wiederum andere Tierarten abhängig sind. Erkennt man diesen Zusammenhang nicht, verkennt man den Wert der Insektenart. Verkompliziert wird die Bewertung von Ökosystemen auch dadurch, dass sie auf vielfältige Weise miteinander verwoben sind und sich gegenseitig beeinflussen. Diese Abhängigkeiten können Forscher heute oftmals kaum durchschauen – und damit auch Dienstleistungen, die Ökosysteme füreinander erbringen. Ein Bergwald etwa stabilisiert den Boden. Stirbt der Bergwald, verstärkt das die Erosion. Erdreich wird in Bäche und Flüsse gespült, wodurch sich auch die Lebensbedingungen im küsten­nahen Meer verändern.

Der Wert der Natur – heute und morgen

Um den Wert von Naturkapital einschätzen zu können, muss daher noch feiner differenziert werden. Ökonomen versuchen das, indem sie die Ökosystemleistungen der Natur verschiedenen Wertkategorien zuordnen. Der Gesamtwert eines Natur­kapitals ergibt sich dann aus der Summe all seiner Dienstleistungen – Fachleute sprechen dabei vom Total Economic Value (TEV, ökonomischer Gesamtwert) eines Ökosystems. Gemäß TEV unterscheidet man zunächst zwischen dem Nutzungswert, der sich aus der Nutzung des Naturkapitals ergibt, und dem Nicht-Nutzungswert, den das Naturkapital an sich darstellt. ­Nutzungswert und Nicht-Nutzungswert werden dann weiter ausdifferenziert.
Zum Nutzungswert zählen:
  • der direkte Nutzungswert, den beispielsweise ein gefangener Fisch bietet. Dieser Wert lässt sich je nach Dienstleistung konkret in Form eines Marktpreises ausdrücken;
  • der indirekte Nutzungswert wie beispielsweise die klimaregulierende Wirkung eines Waldes oder des Meeres oder die natürliche Wasserreinigung im Boden;
  • der Optionswert, der sich durch eine potenzielle künftige Nutzung eines Naturkapitals ergibt, beispielsweise von medizinischen Wirkstoffen, die aus Meeresorganismen gewonnen werden.
Zum Nicht-Nutzungswert zählen:
  • der Existenzwert, den Menschen Lebewesen wie Blauwalen oder Lebensräumen wie etwa Mangrovenwäldern beimessen, ohne davon ausgehen zu können, die Lebensräume in Zukunft selbst zu nutzen oder zu erleben. Der Existenzwert ergibt sich schlicht aus der Freude darüber, dass die Lebewesen oder Lebensräume existieren;
  • der Vermächtniswert, der darin besteht, dass Menschen den Wunsch verspüren, Naturgüter so unversehrt wie möglich an die nachfolgenden Generationen weiterzugeben.
MA und TEV sind miteinander verwandte Konzepte. Dank MA und TEV lässt sich die Bedeutung von Ökosys­temen heute besser einschätzen, obwohl beide nur klassifizieren, aber keine konkreten monetären Werte liefern. Während es das Ziel des MA war, einen Überblick über die weltweiten Ökosysteme und Ökosystemleistungen zu erhalten, differenziert der TEV diese Dienstleis­tungen noch feiner aus. Dabei gelingt die bessere Einschätzung durch den TEV nicht deshalb, weil er alle Werte zu einem Gesamtwert zusammenfasst, sondern eher dadurch, dass er überhaupt verschiedene Wertkategorien berücksichtigt. So wird es möglich, die Bedeutung verschiedener Ökosystemleistungen miteinander zu vergleichen. Heute weiß man, dass viele Ökosysteme, und damit auch Naturkapitalien, in einem schlechten Zustand sind. Um die Situation zu verbessern, macht es allerdings wenig Sinn, einen monetären Gesamtwert des Naturkapitals zu bestimmen. Vielmehr stellt sich die Frage, mit welchen Maßnahmen sich die Zerstörung eines Ökosystems verhindern lässt oder wie man seinen Zustand verbessern kann. In der Regel gibt es dafür eine Fülle von konkreten Maßnahmen, die gegeneinander abgewogen werden müssen. Dabei ist eine vorherige Kategorisierung der Ökosystemleistungen durch den TEV hilfreich.
Schon seit mehreren Jahren nutzt beispielsweise das britische Amt für Umwelt, Ernährung und ländliche Angelegenheiten (Department for Environment, Food and Rural Affairs, Defra) den TEV, um Naturschutzmaßnahmen wie etwa die Re­natu­rier­ung von Vogelschutzgebieten zu bewerten. Außerdem verwendet sie den TEV, um zu untersuchen, welche Bedeutung Parks und Grünflächen für die allgemeine Gesundheit der Bevölkerung haben, indem sie Raum für Erholung, Sport und Bewegung an ­frischer Luft bieten. Natürlich entstehen Kosten für die Pflege oder den Erhalt der Parks und Grünflächen. Zudem stehen diese Flächen nicht als Bauraum zur Verfügung. Doch ist dieser Untersuchung zufolge der Gewinn für die Bevölkerung erheblich, weil durch die Bewegung an frischer Luft Krankheiten vorgebeugt wird. Nach dieser Studie erspart ein einziger Park in einem Stadtgebiet dem Gesundheits­sys­tem jährliche Kosten in Höhe von 910 000 britischen Pfund, rund 1 150 000 Euro, unter der Voraussetzung, dass 20 Prozent der Bürger dieser Stadt die Grünflächen nutzen. Denkt man diese Studie weiter, wird klar, dass für die Bewertung eines Naturkapitals nicht sein momentaner Gesamtwert relevant ist, sondern der Wert, der sich aus den Ver­än­der­ungen ergibt. Je kleiner beispielsweise die Parkfläche wird, die zur Verfügung steht, desto relativ wertvoller wird sie, weil für die Erholungssuchenden immer weniger Quadratmeter zur Verfügung stehen. Wichtig in diesem Zusammenhang ist die Ausgangsgröße der Parkfläche. So ist der Wertverlust durch ein paar abgezogene Quadratmeter bei einer kleinen Parkfläche viel größer als bei einem riesigen Park. Entsprechend ist bei einem großen Park der zusätzliche Wert durch weitere Qua­drat­meter viel geringer als bei einem kleinen Park. Solche Wert­änderungen eines Naturkapitals, die sich durch Maßnahmen wie zum Beispiel die Zerstörung oder Schaffung einer Parklandschaft ergeben, spielen in der Nachhaltigkeitsdiskussion eine große Rolle. Ökonomen sprechen dabei von „marginalen Veränderungen“ oder „marginalen Werten“.
1.15 > Der Hongkong-Park, 1991 eröffnet, hat einen direkten Nutzen für Bürger in Form von Erholung, aber auch einen hohen indirekten Nutzungswert, weil er das innerstädtische Mikroklima verbessert.
Abb. 1.15: Der Hongkong-Park, 1991 eröffnet, hat einen direkten Nutzen für Bürger in Form von Erholung, aber auch einen hohen indirekten Nutzungswert, weil er das innerstädtische Mikroklima verbessert. © Christian Kerber/laif
In vielen Fällen lässt sich einer bestimmten Kategorie einer Ökosystemleistung ein monetärer Wert zuordnen. Ein Park, der den Bewohnern als Freizeitmöglichkeit dient, hat beispielsweise einen ganz bestimmten monetären Wert in Form von Kosten­er­sparnis im Gesundheitswesen – also einen direkten Nutzungswert. Erheblich schwieriger ist es, den indirekten Nutzungswert dieses Parks zu bestimmen, zum Beispiel seinen Beitrag zu einem besseren innerstädtischen Mikroklima. Um auch den indirekten Nutzungswert eines Natur­kapitals bewerten zu können, wird beispielsweise anhand von Verbraucherbefragungen abgeschätzt, wie viel ein Haushalt für die Verbesserung von Umweltbedingungen maximal zu zahlen bereit wäre – in diesem Fall zum Beispiel für die Vergrößerung eines innerstädtischen Parks. Ökonomen sprechen hier von der willingness to pay (WTP, die Zahlungsbereitschaft). Bestimmt wird auch, inwieweit die Bevölkerung Kompensationen für eine Ver­schlech­terung der Umwelt­bedingungen (zum Beispiel die Verkleinerung oder Bebauung des Parks) akzeptieren ­würde, wie groß die willingness to accept (WTA) ist. WTP und WTA hängen oft vor allem vom kulturellen oder gesellschaftlichen Kontext ab und sind daher mitunter gar nicht zu bestimmen. Ein Volk, für das ein Park, eine Landschaft oder ein Naturdenkmal eine kulturelle oder gar religiöse Bedeutung hat, wird Veränderungen oder gar eine Zerstörung kaum akzeptieren. Viele Nach­haltig­keits­experten fordern, solche Faktoren bei der Bewertung von Natur­kapital zu berücksichtigen, auch wenn sie kaum quantifizierbar sind.
1.16 > Die australischen Ureinwohner, die Aborigines, glauben, dass ihr Kontinent von unsichtbaren, mythischen Traumpfaden durchzogen ist – eine besondere Art des kulturellen Naturkapitals, das in der Vergangenheit häufig durch Baumaßnahmen zerschnitten oder zerstört wurde.
Abb. 1.16: Die australischen Ureinwohner, die Aborigines, glauben, dass ihr Kontinent von unsichtbaren, mythischen Traumpfaden durchzogen ist – eine besondere Art des kulturellen Naturkapitals, das in der Vergangenheit häufig durch Baumaßnahmen zerschnitten oder zerstört wurde. © Ingetje Tadros/Getty Images

Mangel an Wissen

Wie schwierig es ist, den Wert von Naturkapital abzuschätzen, zeigt auch eine aktuelle Studie deutscher Ökonomen. Die Wissenschaftler haben eine Reihe von Publikationen zum Thema Ozeanversauerung
Ozeanversauerung
untersucht. Sie wollten herausfinden, ob es belastbare Aussagen darüber gibt, welche Kosten die Ozeanversauerung künftig verursachen und wer davon betroffen sein könnte. Die Ozeanversauerung ist neben der Erderwärmung eine der am meisten befürchteten Folgen des Klimawandels. Die Meere nehmen aus der Atmosphäre einen gro­ßen Teil des Klimagases Kohlendioxid auf, das durch die Verbrennung von Erdgas, Erdöl und Kohle freigesetzt wird. Vereinfacht ausgedrückt bildet sich dadurch im Wasser verstärkt Kohlensäure. Dadurch sinkt nach und nach der pH-Wert des Wassers. Meereswissenschaftler fürchten, dass davon vor allem Korallen und Fischlarven be­trof­fen sein könnten sowie Muscheln und Schnecken, die Kalkgehäuse produzieren.

pH-Wert Chemiker bestimmen den Säuregrad einer Flüssigkeit anhand des pH-Wertes. Je kleiner der Wert ist, desto saurer ist die Flüssigkeit. Der pH-Wert reicht von 0 (sehr sauer) bis 14 (sehr basisch). Seit der industriellen Revolution ist der pH-Wert der Ozeane von durchschnittlich 8,2 auf 8,1 gesunken. Bis zum Jahr 2100 könnte der pH-Wert um weitere 0,3 bis 0,4 Einheiten abnehmen. Das klingt vernachlässigbar klein. Doch die pH-Wert-Skala ist logarithmisch. Sie ist sozusagen mathematisch gestaucht. Tatsächlich würde das Meer dann um 100 bis 150 Prozent saurer sein als Mitte des 19. Jahr­hun­derts.

Die Studie ergab, dass sich die Publikationen zu den ökonomischen Aus­wir­kungen der Ozeanversauerung zum großen Teil nur mit den direkten wirtschaftlichen Aus­wir­kungen für den Menschen befassen, insbesondere mit den Folgen für die Fischerei. Nur einige wenige Arbeiten analysieren die Situation in Korallenriffen. Darin wird zwar erwähnt, dass ein Sterben der Korallen zu Einbußen im Tourismus führen könnte, eine genaue wirtschaftliche Analyse aber fehlt. Zudem erwähnt keine Publikation die indirekten Folgen des Korallensterbens, etwa die Tatsache, dass auch der Küstenschutz beeinträchtigt sein würde. Die Autoren der Studie listen mehrere inhaltliche Lücken auf:
  • Ein Großteil der ökonomischen Studien fokussiert auf direkte wirtschaftliche Auswirkungen wie etwa den Rückgang des Fisch- oder Schalentierfangs in bestimmten Meeresgebieten. Existenz- oder Vermächtniswerte bleiben unberücksichtigt.
  • Wissen über die möglichen zukünftigen Veränderungen des pH-Wertes in küstennahen Meeresgebieten fehlt bislang. So bleibt unklar, welche Meeres­regionen künftig am stärksten betroffen sein werden. Genau das aber ist wichtig, um zu ermitteln, wie groß die wirtschaftlichen Folgen vor Ort sein wer­den, aber auch um gezielt Gegenmaßnahmen zu ergreifen.
Ein grundlegendes Problem besteht auch darin, dass die Ergebnisse in den naturwissenschaftlichen Publikationen zur Ozeanversauerung oftmals in einer Form präsentiert werden, die nicht in einer ökonomischen Analyse verwendet werden kann. So sind oft vereinfachende Annahmen nötig, um aus Änderungen einer Kalzi­fi­zierungs­rate bei Muscheln Veränderungen in den Bruttoeinnahmen der Fischer errechnen zu können. Dementsprechend kommen die Autoren zu dem Schluss, dass die ökonomischen Auswirkungen der Ozeanversauerung heute einfach deshalb nicht abschätzbar sind, weil allein schon die biochemischen Zusammenhänge im Meer zu komplex sind. Hinzu kommt, dass sich viele Publikationen auf Organismen beziehen, die leicht zu beobachten oder im Labor zu halten sind, aber in keiner Weise eine besondere ökonomische Relevanz oder zentrale Bedeutung für die Nahrungsnetze im Meer darstellen. Da die naturwissenschaftlichen Fach­pub­likatio­nen wiederum Grundlage für die ökonomischen Studien sind, ist auch deren Aussagekraft als sehr eingeschränkt zu betrachten. Die Autoren der Studie schlagen daher für die Zukunft eine engere Zusammenarbeit zwischen Naturwissenschaftlern und Ökonomen vor. Das betrifft nicht nur die Ozeanversauerung, sondern auch alle anderen Umwelt­bedrohungen beziehungsweise Ökosystemleistungen. Gemeinsam könnten so naturwissenschaftliche Frage­stellungen bearbeitet werden, die auch ökonomisch von Bedeutung sind. So ließen sich möglicherweise bestimmte Organismen für Studien auswählen, die marktwirtschaftlich von Interesse sind.

Abb. 1.17: Im September 2009 protestierten Fischer und andere Seeleute an der Pazifikküste vor Alaska gegen die Ozean­ver­sauerung. © interTopics/UPI Photo/eyevine 1.17 > Im September 2009 protestierten Fischer und andere Seeleute an der Pazifikküste vor Alaska gegen die Ozean­ver­sauerung.

Vor allem schützenswert: kritisches Naturkapital

Von Interesse sind heute insbesondere solche Naturkapitalien, die so bedeutend sind, dass eine Zerstörung in jedem Fall verhindert werden sollte. Nachhaltigkeits­theoretiker bezeichnen diese als kritische Naturkapital­bestände. Eine Mehrheit von Experten zählt dazu Naturkapitalien, die durch nichts zu ersetzen, also nicht substituierbar sind – beispielsweise knappe Grundwasservorkommen in den trockenen Gebieten Afrikas. Dieses kritische Naturkapital muss erhalten werden, weil es für die Menschen von elementarer Bedeutung ist. Andere Experten zählen zum kritischen Naturkapital auch schützenswerte Natur­gebiete, die zwar nicht für den Menschen existenziell wichtig, aber Lebensraum bedrohter Pflanzen- und Tierarten sind. Diese etwas weiter gefasste Auffassung von kritischem Naturkapital wird insbesondere von Naturschützern vertreten – unter anderem von der britischen Umweltagentur Natural England (bis 2006 English Nature), die bereits in den 1990er Jahren mehrere Kategorien definiert hat, die helfen können, kritisches Naturkapital an Land zu identifizieren:
  • kleinräumige Habitate mit seltenen oder bedrohten Lebewesen;
  • Ökosysteme, die einen charakteristischen Lebensraum mit allen typischen Pflanzen- und Tierarten darstellen;
  • Gebiete, die wichtige Dienstleistungen erbringen, beispielsweise Ero­sions­schutz, Aufnahme von Umweltschadstoffen oder die Bereit­stellung von Trink­wasser;
  • erdgeschichtlich bedeutende Gebiete, insbesondere geologische Formationen wie der Grand Canyon in den USA, die von besonderem wissenschaftlichem Interesse oder einzigartigem Charakter sind.
Nachhaltigkeitstheoretiker betonen, dass kritisches Naturkapital keineswegs mit unberührter Wildnis gleichzusetzen sei. Denn oft handle es sich dabei um von Menschen kultiviertes und bereits genutztes Naturkapital. Eine weitere schonende Nutzung sei daher auch durchaus denkbar. Allerdings müsse in vielen Fällen genau festgelegt werden, ab welchen Schwellen- oder Grenzwerten es zu inakzeptablen Verlusten an Naturkapital kommt.

Gemeinsam Naturkapital erhalten

Erfreulicherweise ist es in den vergangenen Jahren mehrfach gelungen, kritische Naturkapitalien in großem Stil zu schützen. Erwähnenswert in diesem Zusammenhang ist die Einrichtung von Nationalparks und die Verabschiedung verschiedener inter­natio­naler Naturschutzkonventionen oder besonderer Richtlinien. In diesen Fällen sah man dringenden Handlungsbedarf, sodass es keine Notwendigkeit gab, zunächst den Wert der Naturkapitalien im Detail zu bestimmen. Ein Beispiel für diese vorausschauenden Schutzbemühungen war das internationale Montreal-Protokoll, mit dem 1989 der Einsatz von chemischen Substanzen verboten wurde, die die Ozonschicht zerstören. Darin wurden ganz konkrete Richtwerte für den Ausstoß von Chemika­lien festgelegt. Die Unterzeichnerstaaten verpflichteten sich zur Reduzierung und schließlich zur vollständigen Abschaffung der Emission von bestimmten Substanzen. Damit gelang es, die Ozonschicht als primary value und lebenswichtiges Naturkapital zu erhalten. Ein weiteres Beispiel ist das Washingtoner Artenschutzübereinkommen (Überein­kommen über den internationalen Handel mit gefährdeten Arten frei lebender Tiere und Pflanzen; Convention on International Trade in Endangered Species of Wild Fauna and Flora, CITES), mit dem seit 1973 der Handel mit seltenen oder gefährdeten Tieren stark reglementiert wird.

Zusatzinfo Große Ziele für die Zukunft

Gemeinsame Ziele für eine nachhaltige Zukunft

Im Jahr 2000 formulierte eine Arbeitsgruppe im Auftrag der Vereinten Nationen 8 Millenniums-Entwicklungsziele (Millennium Development Goals, MDGs), die bis zum Jahr 2015 erfüllt sein sollten. Damit sollte die Lebenssituation der Menschen in den Entwicklungs- und Schwellenländern deutlich verbessert – und zugleich eine Schonung von Naturkapitalien erreicht werden. Es ist aber unverkennbar, dass der Schwerpunkt der MDGs auf der Bekämpfung von Armut und armutsbedingten Mangelsituationen sowie auf Aspekten wie Gesundheit oder Bildung liegt. Heute zeigt sich, dass diese Ziele weltweit noch nicht erreicht worden sind. Eine Arbeitsgruppe der Vereinten Nationen hat daher für den Zeitraum zwischen 2015 und 2030 Nachhaltige Entwicklungsziele (Sustainable Development Goals, SDGs)
Nachhaltige Entwicklungsziele (Sustainable Development Goals, SDGs)
definiert, in denen die Ziel­vor­stellungen konkreter gefasst werden als in den MDGs. Sie betreffen nicht mehr nur die Entwicklungsländer, sondern beziehen sich auf die ganze Welt. Darüber hinaus sollen die SDGs in verstärktem Maße den Schutz von Naturkapitalien berücksichtigen, indem sie auch die Bereiche nachhaltige Landwirtschaft, Energie und Klimawandel sowie die Ozeane einschließen. Folgende Themenbereiche werden für die SDGs als besonders wichtig angesehen:
  • Ernährungssicherheit und nachhaltige Landwirtschaft,
  • Wasserversorgung und Verbesserung der Hygiene,
  • Energie,
  • Bildung,
  • Armutsbekämpfung,
  • Gesundheit,
  • Mittel zur Durchführung des SDG-Prozesses,
  • Klimawandel,
  • Umwelt/Management natürlicher Ressourcen,
  • Beschäftigung.
An diesen – nach Priorität geordneten – Aspekten ist deutlich erkennbar, dass sich die Arbeitsgruppe bemüht hat, alle Aspekte des klassischen Drei-Säulen-Modells der Nachhaltigkeit ausgewogen zu berücksichtigen. In den kommenden Jahren wird sich zeigen, ob den Staaten dieser Balanceakt tatsächlich gelingt. Textende