WOR 7 kompakt
WOR 7 Lebensgarant Ozean – nachhaltig nutzen, wirksam schützen | 2021

WOR 7 kompakt

> Im Fokus der siebten Ausgabe des »World Ocean Review« stehen die Auswirkungen des Klima­wandels auf die Physik des Meeres und auf seine Lebens­gemein­schaften; die Folgen von Fischerei, Schifffahrt, Ressour­cen­abbau, Energie­gewinnung und Meeres­ver­schmutzung sowie die Fragen, wie sich Wirk­stoffe aus dem Meer nutzen lassen und wie der Ozean künftig so verwaltet werden kann, dass sowohl sein Schutz als auch die Teilhabe möglichst aller Menschen an seinen Leistungen und Gütern gewähr­leistet sind.

Lebensgarant Ozean – nachhaltig nutzen, wirksam schützen

Der Ausbruch der Corona­pandemie im Januar 2020 bedeutete auch für den Weltozean eine Zäsur: Die internationale Handelsschifffahrt brach zumindest für kurze Zeit deutlich ein; Kreuz­fahrt­schiffe gingen nirgendwo mehr auf große Tour; Strand­hotels blieben leer; marine Großprojekte wie der Bau neuer Öl- und Gasförderan­lagen in der Arktis verzögerten sich. Ins Stocken gerieten auch die internationalen Verhandlungen für einen verbes­serten Meeres­schutz und eine nach­haltigere Nutzung, weil wichtige politische Konferenzen nicht wie geplant stattfinden konnten.
Gleich­zeitig aber rückten die Weltmeere im Wind­schatten der Pandemie stärker und viel­fält­iger als je zuvor in den Fokus des Interesses. Dieses wurde zum einen getrieben durch die rasant voranschreitende globale Erwärmung und die Rolle des Ozeans als Wärmespeicher, zum anderen durch eine neue Welle der digitalen Öffentlichkeit von Meeres­themen. Konferenzen, Fachvorträge, Symposien fanden plötzlich allesamt online und oftmals für jedermann zugänglich statt. Forschende teilten in Webinaren neueste Erkennt­nisse und Forschungsergebnisse; Meeres­schutz­organi­sationen und Verbände ver­lagerten Kampagnen und Veranstaltungen ins Netz. Wer wollte und die jeweiligen Sprachen verstand, konnte täglich an Informationsformaten teilnehmen, darunter auch an Veranstaltungen kleiner, lokaler Kooperativen, die vor der Coronapandemie kaum eine Möglichkeit hatten, ein über­regio­nales oder sogar internationales Publikum zu erreichen.
Die wachsende öffentliche Aufmerksamkeit für die Belange der Weltmeere kommt keine Sekunde zu früh. Der Ozean wankt und mit ihm einer der Grundpfeiler unserer menschlichen Existenz, denn tatsächlich ist jeder Erdbewohner auf die eine oder andere Art auf ihn angewiesen.
Die Meere regulieren das Klima auf der Erde und machen ihn zu einem bewohnbaren und lebenswerten Planeten. Sie verteilen die Wärme aus den Tropen über den gesamten Erdball, speisen den Wasserkreislauf mit Feuchtigkeit, bremsen durch die Aufnahme von riesigen Mengen an Kohlendioxid und Wärme den Klimawandel und produzieren den Sauer­stoff für jeden zweiten Atemzug eines Menschen. Sie stellen den größten und artenreichsten Lebensraum der Erde dar, versorgen mehr als drei Milliarden Menschen mit tierischem Eiweiß und ­bieten Abermil­lionen eine Einkom­mens­quelle – sei es in der Fischerei, im Meeres­tourismus, in der See­schiff­fahrt, in der rohstoff­fördernden Industrie, im Sektor der erneuer­baren Energien oder aber in Wirtschaftszweigen, die Material bzw. Wirkstoffe aus dem Meer verarbeiten.
Rund 40 Prozent der Welt­be­völkerung leben nicht weiter als 150 Kilometer von einer Meeres­küste entfernt. Ihnen und den vielen Besuchern aus dem Inland dienen die Meere als Freizeit- und Erholungsort, als Inspi­rations­quelle sowie als identitäts­stiftendes Element. Je gesünder und widerstandsfähiger der Ozean, so viel ist mittlerweile klar, desto besser ergeht es der Menschheit, heute und künftig.
Von Gesundheit aber kann mit Blick auf den Ozean gegenwärtig nicht die Rede sein. Im Gegenteil, wie der Rest des Planeten Erde sind unsere Meere Schauplatz gleich dreier menschengemachter Krisen – des Klimawandels, des globalen Artensterbens sowie einer zunehmenden Verschmutzung. Jede dieser drei Krisen stellt für sich allein betrachtet schon ein existenzielles Problem für den Ozean dar; im Dreierpack aber verstärken sich die Auswirkungen gegenseitig und wirken wie ein Tsunami weit über ihre eigentlichen Ursprungsorte hinaus. Ihre dramatischen Folgen sind mittlerweile nicht nur in allen Meeresregionen zu spüren – in den Brandungsbereichen ebenso wie in den Tiefseegräben, in den Tropen ebenso wie in den entlegenen Polarregionen –, sondern vor allem auch an Land, wo Abermillionen Menschen leben, denen der Ozean in zuneh­mendem Maß den Dienst versagt.
Der Klimawandel stellt mittlerweile vielerorts die größte Bedrohung dar, weil er die Lebensbedingungen in den Meeren sowie in den Küsten­bereichen in einem von Menschen nie zuvor erlebten Tempo verändert. Die Weltmeere absorbieren mehr als 90 Prozent der überschüssigen Wärme und rund ein Viertel der menschengemachten Kohlendioxidemissionen. Infolgedessen verändern sich die chemischen und physikalischen Eigenschaften der Wassermassen:
Der Ozean erwärmt sich derzeit schneller und bis in größere Tiefen als zu jedem anderen Zeitpunkt seit dem Ende der letzten Eiszeit. Allein im Jahr 2020 absorbierten die oberen 2000 Meter Wassersäule der Weltmeere bis zu 20 Zettajoule mehr Wärme als im Jahr zuvor. Diese Wärme­menge würde ausreichen, um 1,3 Milliarden Teekessel gefüllt mit jeweils 1,5 Liter Wasser zum Kochen zu bringen. Die Meeres­oberflächen­temperatur hat sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts um durchschnittlich 0,88 Grad Celsius erwärmt. Im Jahr 2020 waren 84 Prozent der globalen Meeres­fläche von mindestens einer marinen Hitzewelle betroffen.
Infolge dieser Erwärmung hat die Durchmischung der Wassermassen abgenommen, was unter anderem dazu beitrug, dass die Ozeane im Zeitraum von 1970 bis 2010 etwa zwei Prozent ihres Sauerstoffes verloren haben. Gleichzeitig ist ihr pH-Wert in den vergangenen vier Jahrzehnten auf einen neuen Negativrekord für die zurückliegenden 1000 Jahre gesunken, während der globale Meeresspiegel mittlerweile um 3,7 Millimeter pro Jahr steigt. Kurz gesagt: Die Meere werden wärmer, höher, saurer, verlieren Atemsauerstoff, und ihre Wasser­massen zirkulieren nicht mehr in der gewohnten Geschwindigkeit und auf den gewohnten Pfaden um den Erdball. Außerdem steigen die Frequenz und die Intensität von Extrem­ereig­nissen wie Hitzewellen und Stürmen. Sauerstoffarme Zonen entstehen mittlerweile in immer mehr überdüngten Küstengewässern sowie aufgrund der zunehmenden Wasser­massen­schichtung auf offener See.
Diesen zusätzlichen Belastungen können betroffene Meeres­bewohner oft nur wenig entgegensetzen, weil die Anforderungen alle physiologischen Grenzen übersteigen und lokale Massensterben verursachten. Wissenschaftler beobachten infolgedessen einen grundlegenden Wandel des Lebens im Meer: Bewegliche Arten wie Kabeljau, Hummer, Krill und viele andere verlassen ihre angestammten Lebensräume und wandern polwärts oder aber in größere Tiefen ab; sesshaften oder wenig mobilen Arten wie zum Beispiel Muscheln droht der Hitzetod. Beide Entwicklungen führen dazu, dass die Biodiversität vor allem in den ehemals artenreichen tropischen Gewässern extrem abnimmt, sich die Artenzusammensetzung in den mittleren Breiten verändert und die kälteangepassten Bewohner der Polarmeere kaum noch geeignete Rückzugsorte finden.
Schlüsselereignisse wie Algenblüten treten aufgrund der Wärme früher im Jahr auf, bringen den biologischen Kalender des Meeres durcheinander und somit auch elementare Räuber-Beute-Beziehungen. Hotspots der Artenvielfalt wie Kelpwälder, Seegras­wiesen, Mangroven oder tropische Korallenriffe sterben ab. Die allgemeine Leis­tungsfähigkeit vieler Arten, ihre Reproduktionszahlen sowie ihre individuelle Körpergröße sinken, was letztendlich bedeutet, dass Bestände und Populationen schrumpfen, die Biomasse­produktion insgesamt abnimmt und der Ozean weniger Nahrung und Material produziert, die der Mensch nutzen könnte. All diese Entwicklungen, so zeigen Modellberechnungen, werden sich fortsetzen, solange es der Menschheit nicht gelingt, ihre Treibhausgas­emissionen drastisch zu reduzieren und die globale Erwärmung einzudämmen.
Fischer spüren die Folgen des Klimawandels bereits deutlich. Infolge der Meeres­erwärmung, Versauerung und Sauer­stoff­abnahme ist im Zeitraum von 1930 bis 2010 nicht nur die Produk­tivität vieler Meeres­fischarten gesunken, parallel dazu schrumpfte auch das globale Fischfang­potenzial um 4,1 Prozent, was viel ist, wenn man bedenkt, dass Meeresfische und -früchte vielerorts ein Grundnahrungsmittel sind und nach offiziellen ­Angaben pro Jahr mittlerweile 179 Millionen Tonnen gefangen oder aber in Aquakultur gezüchtet werden. Extrem betroffene Regionen wie die Nordsee, das Japanische Meer oder die asiatischen Randmeere des Pazifiks verzeichneten sogar Produktivitätsrückgänge von 15 bis 35 Prozent. Das heißt, lokal ansässige Fischer können heute – sofern sie ihre Bestände nach Vorgaben der Welt­ernährungs­organisation der Vereinten Nationen FAO bewirtschaften – klimabedingt bis zu ein Drittel weniger Fisch fangen als noch ihre Vorfahren vor 90 Jahren.
Am Status quo der Meeres­fischerei aber ändert diese Entwicklung dennoch wenig. Noch immer stellen überdimensionierte Fangflotten abnehmenden Fischbeständen nach; noch immer subventionieren viele Staaten die zerstörerische Ausbeutung der Meere. Die Summe, mit der allein die zehn größten Subventionsgeber Fischereiakti­vitäten ihrer Fangflotten in fremden Gewässern unterstützen, belief sich im Jahr 2018 auf mehr als 5,3 Milliarden US-Dollar. Welcher Schaden dadurch angerichtet wird, ist schwer zu quantifizieren, weil die Hälfte der gefangenen Fische aus Beständen stammt, die wissenschaftlich gar nicht überwacht werden. Von den wissenschaftlich begutachteten Beständen gelten nach Angaben der Welternährungsorganisation FAO mittlerweile mehr als ein Drittel als überfischt. Studien, die zudem auch ­illegale, nicht gemeldete und nicht regulierte Fischerei umfassend berücksichtigen, setzen diese Zahl deutlich höher an.
Neue Technologien und Informationsportale erleichtern inzwischen die Kontrolle der industriellen Meeres­fischerei. Lokale Projekte in den USA, Chile oder den Philippinen belegen zudem, dass sich einst überfischte Fisch- und Muschelpopulationen erholen können, wenn nachhaltige, wissenschaftsbasierte Managementansätze eingeführt werden oder einheimische Kooperativen das alleinige Fischereirecht erhalten. Quasi leergefischt sind dagegen vor allem jene Regionen, in denen keinerlei ­Kontrollen stattfinden und industrielle Fischerei ohne Auflagen erfolgt.
Ob der weltweit zunehmende Appetit auf Meeresfisch und -früchte künftig in erster Linie durch marine Aqua­kulturzucht gedeckt werden kann, ist ungewiss. Der Bau und der Betrieb der Anlagen haben jahrzehntelang zu großräumigen Umweltzerstörungen geführt, der gigantische Bedarf an Fischmehl zur Überfischung wilder Bestände. Zudem fordern die Folgen des Klimawandels bereits ihren Tribut. Aus diesen Gründen wird intensiv an Konzepten, Futtermitteln und Technologien für eine nachhaltige und widerstandsfähige Aquakultur geforscht. Sogenannte integrierte oder ökosystem­basierte Ansätze mit geschlossenen Nährstoff­kreisläufen bieten bislang die besten Erfolgsaussichten. Große Wachstums­potenziale werden zudem der Großalgenzucht vorausgesagt – zumindest in jenen Gebieten, in denen Meereserwärmung, Ozeanversauerung und Sauerstoffgehalt des Wassers dies noch zulassen.
Großalgen wie Seegräser oder Kelp produzieren nicht nur Sauerstoff und binden Kohlenstoff, sie filtern auch Nährstoffe aus dem Wasser und helfen so, das Meer zu reinigen. Angesichts der zunehmenden Überdüngung und Verschmutzung des Ozeans aber sind auch diese natürlichen Filter­systeme maßlos überfordert. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen entsorgt der Mensch pro Jahr rund 400 Millionen Tonnen Schadstoffe im Meer – darunter Abertausende Chemikalien, Nährstoffe, Plastik und andere Kunststoffe, giftige Schwermetalle, Arzneimittel, Kosmetik­produkte, Krankheitserreger, radio­aktive Substanzen und vieles mehr. Gründe dafür sind die zunehmende Produktion und Verwendung dieser Stoffe sowie eine unsachgemäße Entsorgung. In acht von zehn Fällen stammen im Meer identifizierte Schadstoffe aus Quellen an Land.
Spuren dieser zunehmenden Dauerbelastung finden sich in allen Regionen des Weltozeans. Abfall und Umweltgifte gefährden dabei nicht nur die Mee­res­organismen, sondern auch die Gesundheit und Existenzgrundlage jener Menschen, die auf das Meer als Nahrungs- oder Einkommensquelle angewiesen sind. Schäden richten vor allem jene Umweltgifte an, die bio­logisch kaum abgebaut werden und sich in den Nahrungsnetzen anreichern. Sie und andere Schadstoffe ­verursachen Krankheiten, rufen Missbildungen und Verhaltensänderungen bei Meeres­organismen hervor, hemmen die Fortpflanzung und führen mitunter zum Tod der betroffenen Lebewesen. Besondere Bedeutung kommt mittlerweile der Plastik­ver­schmut­zung zu. Fachleute kennen mindestens 700 Tierarten, für die Plastik im Meer eine tödliche Gefahr darstellen kann. Mikroplastikpartikel wandern bereits wie Wasser und Nährstoffe in einem eigenen Kreislauf durch alle Systemkomponenten der Umwelt.
Trotz verschiedener Initiativen gelingt es der Staatengemeinschaft bisher nicht, den Schadstoffeintrag in das Meer einzudämmen, auch weil die umweltschädliche Wirkung neuer Chemikalien meist erst viel zu spät erkannt wird. Wirkung zeigt bis heute allein das welt­weite Verbot ausgewählter persistenter organischer Schadstoffe (POPs) – ihre Konzentration im Meer sinkt allmählich. Aus diesem Grund: Fortschritte im Kampf gegen die Meeresverschmutzung werden sich erst dann dauerhaft einstellen, wenn deutlich weniger Düngemittel zum Einsatz kommen, die meisten Haushalte und Unternehmen der Welt an eine gut funktionierende Abwasser- und Abfallentsorgung angeschlossen sind, Umweltgifte und erdölbasierte Kunststoffe durch biologisch abbaubare Alternativen ersetzt wurden und Chemikalien und Plastik nur noch in geschlossenen Kreis­lauf­systemen zum Einsatz kommen.
Vor radikalen Veränderungen steht angesichts der Krisensituation des Planeten auch die internationale Handelsschifffahrt. Erstens verursacht der bislang stetig wachsende Wirtschaftszweig rund drei Prozent der weltweiten Treibhausgasemissionen; zweitens belasten Schiffslärm, Abwässer, Müll und eingeschleppte Arten Küstenökosysteme rund um den Globus. Die fast 100 000 Schiffe zählende Handelsflotte auf emis­sions­arme Antriebe umzurüsten oder aber durch Neubauten zu erneuern, ist ein globales technologisches und finanzielles Mammutprojekt. Es erfordert hohe Investitionen in die Entwicklung neuer Antriebssysteme und alterna­tiver Treibstoffe, rechtliche und steuerliche Planungs­sicherheit für Investoren, eine gemeinschaftliche Steuer auf Treibhausgasemissionen sowie strikte Kontrollen gemeinschaftlicher Auflagen durch die Flaggen- und Hafenstaaten.
Die Internationale Seeschifffahrts-Organisation IMO hat das Ziel ausgegeben, die Kohlendioxidemissionen der Handelsflotte bis zum Jahr 2050 um die Hälfte zu reduzieren – verglichen mit den Emissionen aus dem Jahr 2008. Gleichzeitig stehen die Küstenstaaten vor der Aufgabe, ihre Häfen gegen die Folgen des fortschreitenden Klimawandels abzusichern sowie die Treibhausgasemissionen des Hafenbetriebes zu minimieren. Einige direkte Umweltauswirkungen der Schifffahrt werden bereits durch internationale Regelungen angegangen; bei anderen wie der Lärmbelastung durch den Schiffsverkehr besteht noch enormer Nachholbedarf.
Je weiter sich die Erde erwärmt, desto wichtiger wird der Ozean für die Menschheit, denn die dringend benötig­te Reduktion der Treib­haus­gas­emissionen kann nach bisherigem Sachstand n­ur mithilfe des Ozeans gelingen. Die Weltmeere werden in mindestens zwei Trans­formations­stufen gebraucht – als Energiequelle und voraussichtlich auch als Rohstofflagerstätte. Trotz des Ausbaus der erneuer­baren Energien ist das Zeitalter der Erdöl- und Erdgasförderung im Meer längst nicht vorbei. Noch immer werden neue marine Lagerstätten erschlossen, meist in größeren Tiefen als zuvor und in zunehmender Entfernung vom Land. Fossile Rohstoffe aus dem Meer machen mittlerweile mehr als ein Viertel der globalen Gesamtproduktion aus. Außerdem wird derzeit überlegt, leergeförderte Erdgas­lagerstätten unter dem Meer häufiger als Speicher für verflüssigtes Kohlendioxid zu nutzen. Die dafür notwendigen Technologien existieren, und erste Pilotprojekte laufen. Weitere werden im Augenblick geplant.
Gleichzeitig aber werden weltweit mehr Offshore-Windfarmen gebaut – ebenfalls in wachsender Distanz zur Küste, um von den besseren Windbedingungen auf offener See zu profitieren. Dank technischer Fortschritte sind moderne Windkraftanlagen deutlich größer und ­leis­tungsstärker als frühere Modelle. Infolgedessen sinken die Preise für grünen Offshore-Windstrom, und die Nachfrage steigt.
Die Offshore-Windenergieproduktion zählt wegen ihres enormen Potenzials zu den wichtigsten Technologien einer nachhaltigen Energie­gewinnung. Alternativen wie Wellen- und Strömungs­kraftwerke, Photovoltaikan­lagen auf dem Meer oder aber die Erzeugung von Biokraftstoffen aus Algen befinden sich noch in der Entwicklungsphase, spielen in der Langfristplanung aber auch eine wichtige Rolle.
Der Ausbau und die großflächige Nutzung erneuerbarer Meeresenergien werden scheitern, wenn entsprechende Infrastrukturen und Speicher­systeme nicht ausreichend bereitgestellt werden können. Deren Herstellung wiederum erfordert unter anderem riesige Rohstoffmengen, deren Förderung an Land Lebensraum für Menschen und Tiere zerstört.
Eine denkbare Alternative wäre der Rohstoffabbau im Meer, insbesondere in der Tiefsee, deren Lagerstätten eine Vielzahl verschiedener Metalle und Mineralien enthalten und deren Ausbeutung immer wahrscheinlicher wird – trotz weltweiter Proteste von Umweltschützern. 31 Lizenzen zur Erkundung des Meeresbodens nach mineralischen Rohstoffen hat die Internationale Meeres­boden­behörde ISA bereits vergeben. Erste Abbautechniken wurden vor Ort getestet sowie Untersuchungen zu Umweltfolgen und zum Umwelt­monitoring durchgeführt. Die Meeres­bodenbehörde erarbeitet derzeit ein Regelwerk für den Tiefseebergbau in internationalen Gewässern, der nach Expertenansicht in fünf bis zehn Jahren beginnen könnte.
Die wachsenden Ansprüche der Menschheit an das Meer sind auch Gegenstand der Verhandlungen um ein neues internationales Abkommen zum Schutz der biologischen Vielfalt des Ozeans. In diesem Zusam­men­hang wird unter anderem diskutiert, wer in welchem Maß von den genetischen Ressourcen der Meere profitieren darf. Gemeint sind die im Erbgut der Meeresorganismen verschlüsselten Baupläne für ihre beispiellose Formen- und Funktionsvielfalt. Forschenden gelingt es heutzutage immer schneller, diese Informationen zu entschlüsseln und Rezepturen für Natur- und Wirkstoffe aus dem Meer zu extrahieren. Deren mögliche Anwendungspalette ist so groß wie die mit ihnen verbundenen Hoffnungen auf Profite.
Marine Natur- und Wirkstoffe kommen heute schon sehr vielseitig zum Einsatz – als pharmazeutische Wirkstoffe in 17 zugelassenen Medikamenten, als Nahrungsergänzungsmittel, als Düngemittel, als Rohstoff für die Kosmetikherstellung sowie für verschiedene andere industrielle Anwendungen. Künftig wären noch viel mehr denkbar und auch nachhaltig umsetzbar. Dazu muss sich die Staatengemeinschaft aber auf gemeinsame Nutzungs- und Schutzvorschriften einigen, die garantieren, dass jeglicher Nutzen der biologischen Vielfalt nicht nur einigen wenigen Menschen zugutekommt, sondern möglichst allen.
Wenn der Nutzungsdruck auf den Ozean steigt, während ihm gleichzeitig drei Krisen ungebremst zusetzen, ist ein Zusammenbruch der marinen Ökosysteme wohl nur noch eine Frage der Zeit. Dennoch beweisen die Lebensgemeinschaften des Ozeans auch immer wieder eine große Widerstandskraft. Sie können sich durchaus erholen – vorausgesetzt, der Mensch gibt ihnen entsprechend Raum und Zeit und reduziert alle Stressfaktoren drastisch.
Den übergreifenden rechtlichen Rahmen für unseren Umgang mit dem Meer setzt seit fast vier Jahrzehnten das UN-Seerechtsübereinkommen. Es teilt zum einen die Meere in Zonen ein und schreibt vor, in welchen Zonen Küstenstaaten Hoheitsrechte ausüben dürfen und in welchen Gebieten internationale Regeln gelten. Zum anderen verpflichtet es die Staatengemeinschaft zum Schutz und Erhalt der Meeresumwelt und bietet Mechanismen zur Konfliktlösung.
Genaue Ausführungen zur nachhaltigen Nutzung der Meere fehlen im Seerechts­übereinkommen. Diese werden in zahllosen nationalen, über­regionalen und internationalen Abkommen oder Vereinbarungen geregelt, deren Fokus in der Regel jedoch nur auf eine Problemstellung oder aber einen Wirtschaftssektor gerichtet ist und interagierende Faktoren häufig unberücksichtigt lässt.
Mit demselben Tunnelblick agieren auch viele Akteure des Meeres­mana­gements. Mangelnde Kooperation und Abstimmung über alle Sektoren­grenzen hinweg führen zu Zielkonflikten und mindern die Erfolgsaussichten von Maßnahmen. Dazu kommt, dass vor allem den ärmeren Küstenstaaten häufig das Fachwissen, die finanziellen Mittel sowie die erforderlichen Technologien und Strukturen fehlen, um internationale Regelungen in ­nationalen Gewässern umzusetzen.
Als weitere Ursachen für die Krisensituation der Meere haben sich zudem die Intransparenz meerespolitischer Entscheidungsprozesse sowie die fehlende, aber unabdingbare Einbindung lokaler Bevölkerungsgruppen erwiesen.
Wenn uns die aktuelle Krisenlage des Weltozeans eines lehrt, dann die Erkenntnis, dass er nicht losgelöst vom Geschehen an Land, in der Atmosphäre und in der Gesellschaft betrachtet werden kann. Die Gesundung des Meeres kann daher nur gelingen, wenn der Mensch an vielen Stellschrauben gleichzeitig dreht. Das heißt, nachhaltiges Meeres­mana­gement steht vor der Mammut­aufgabe, viele Heraus­for­derungen auf einmal zu meistern.
Es muss zum Beispiel:
  • zonen-, sektoren- und gegebenenfalls auch grenz­übergreifend konzipiert, finanziert und umgesetzt werden;
  • tatsächlich alle Akteure von Anfang an in die Entscheidungsprozesse mitein­be­ziehen – vor allem auch die lokal betroffene Bevölkerung;
  • transparent, sozial gerecht und durchlässig für innovative Nischenlösungen sein;
  • darauf abzielen, die Ökosysteme des Meeres zu stärken und verlorene Meeres- und Küstenlebensräume weitestgehend wiederherzustellen;
  • Maßnahmen nutzen, von denen sowohl der Klima- und Biodiversitätsschutz als auch die lokale Bevölkerung bestmöglich profitieren;
  • umweltgefährdende Subventionen streichen und die Gelder in nachhaltige Projekte investieren;
  • möglichst alle Entscheidungen wissensbasiert fällen und Evaluationsmaßnahmen einplanen, die eine regelmäßige Erfolgskontrolle ermöglichen.
Kurz gesagt: Die Menschheit muss gemeinsam entscheiden, wie sie das Meer stärken und seine vielen Räume und Ressourcen nachhaltig nutzen möchte.
Welche strukturellen Veränderungen benötigt werden, um diesen Prozess anzustoßen und alle Ziele zu erreichen, darüber gehen die Experten­mei­nungen weit auseinander. Während einige Fachleute einen radikalen Wandel unseres Wirtschafts- und Wertesystems für notwendig erachten, um den weltweiten Klimawandel, das Arten­sterben und die Verschmutz­ungs­krise zu stoppen, argumentieren andere, dass erst einmal alle bestehenden Meeres­vorschriften und -regelungen konsequent umgesetzt werden müssten. Erst dann ließe sich abschätzen, ob weitere grundsätzliche Veränderungen im Umgang mit dem Meer notwendig seien.
Welchen Weg die Verantwortlichen auch wählen:
Die Gesundung des Ozeans voranzutreiben, kann nur gemeinschaftlich gelingen. Eine Grundvoraussetzung ist außerdem, dass die akute Problemlage des Ozeans erkannt und verstanden wird, wie sich die vielen menschengemachten Stressfaktoren gegenseitig in ihrer Wirkung verstärken und welche Lösungsansätze sich anbieten. Insofern hoffen wir heute ebenso wie schon vor elf Jahren, als der erste „World Ocean Review“ erschien, dass auch diese neue Ausgabe ihren „kleinen Teil dazu beitragen kann, die Situation zum Guten zu wenden“. Textende