Anspruch und Wirklichkeit des Meeresmanagements
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WOR 7 Lebensgarant Ozean – nachhaltig nutzen, wirksam schützen | 2021

Die Rechtsordnung der Ozeane

Die Rechtsordnung der Ozeane - Abb. 8.3 mauritius images/Art ­Col­lection 3/Alamy

Die Rechtsordnung der Ozeane

> Wem gehört das Meer? Diese Frage stellen sich die Menschen, seit sie begonnen haben, untereinander um Fischfangrechte oder Schifffahrtswege zu konkurrieren. Eine rechtlich bindende Antwort darauf ist seit nahezu vier Jahrzehnten im UN-Seerechtsübereinkommen verbrieft. Es regelt, wer in welchen Meereszonen zu welchem Thema das Sagen hat, und verpflichtet alle Akteure, die Meeresumwelt zu schützen. Letzteres gelingt bisher kaum, was darauf zurückzuführen ist, dass Vorschriften des Seerechts in der Praxis nur unzureichend umgesetzt werden.

Die Genese des Seerechts

Im Dezember 2022 werden 40 Jahre vergangen sein, seit sich die internationale Staatengemeinschaft auf das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen (United Nations Convention on the Law of the Sea, UNCLOS) ge­einigt hat. Die Verabschiedung dieses großen Rahmen­regelwerkes zur Nutzung der Ozeane gilt bis heute als historischer Meilenstein. Es beantwortet nämlich die ­Frage, wer welche Ansprüche auf das Meer und seine ­Ressourcen erheben darf und legt damit den völkerrechtlichen Grundstein für eine gemeinschaftliche und nachhaltige Verwaltung des Ozeans.
Der Weg bis zu diesem Abkommen war jedoch lang und steinig. Die Anfänge des internationalen Seerechts reichen bis in die Zeit des Römischen Reiches zurück. Damals, im Jahr 529, erklärte der römische Kaiser Justinian I., das Meer könne wie die Luft von niemandem allein beansprucht werden. Stattdessen gehöre es allen und könne von jedem genutzt werden. Diese alsbald allgemeingültige Ansicht änderte sich, als im Mittelalter Küstenstaaten begannen, Souveränität über jene Küstengewässer auszuüben, die an ihr Königreich oder Staatsterritorium grenzten. Die Entwicklung gipfelte darin, dass die Seefahrernationen Portugal und Spanien am 7. Juni 1494 den Vertrag von Tordesillas, einer Stadt im Norden Spaniens, unterzeichneten. Mit dem Segen des Papstes Alexander VI. teilten sie darin die Welt und ihre Meere entlang einer Linie, die von Pol zu Pol verlief, unter sich auf. Spanien erhielt alle Meeresgebiete im Westatlantik, im Pazifik sowie den Golf von Mexiko; Portugal bekam den Ostatlantik, den Südatlantik und den Indischen Ozean zugesprochen.
8.1 > Ende des 15. Jahrhunderts war der Einfluss der beiden Seemächte Portugal und Spanien so groß, dass Papst Alexander VI. die Welt unter diesen aufteilte. Die Gebiete westlich der blauen Linie im Atlantik wurden Spanien zugeschlagen, die Gebiete östlich Portugal. Im Vertrag von Tordesillas wurde die Demarkationslinie korrigiert.
Abb. 8.1 maribus
Nur 100 Jahre später war dieser Vertrag nicht mehr viel wert: Die von Martin Luther initiierte Reformation hatte die Kirche gespalten; neben dem katholischen Spanien und Portugal versuchten sich jetzt auch das protestantische England und die Niederlande als Seefahrernationen und Kolonialmächte zu etablieren und Handel mit Übersee zu betreiben. Der Vertrag von Tordesillas stand ihnen dabei nur im Weg. Die Niederländer etwa hinderte er daran, Schiffe über den Indischen Ozean in das von ihnen besetzte Ostindien (heutiges Indonesien) zu schicken.
Der Streit eskalierte, als die Niederländer im Jahr 1603 ein ­portugiesisches Schiff beschlagnahmten. Um diesen ­Übergriff im Nachhinein zu rechtfertigen, beauftragte die zuständige niederländische Vereenigde Oostindische Compagnie (VOC) einen der besten Anwälte des Landes, ein entsprechendes Rechtsgutachten zu schreiben. Dieser Anwalt hieß Hugo Grotius (1583 bis 1645).
Geboren am 10. April 1583 in Delft, Niederlande, galt Hugo Grotius schnell als Wunderkind. Im Alter von elf Jahren durfte er sich an der Universität einschreiben, nur vier Jahre später, im Alter von 15, promovierte er und arbeitete anschließend als Diplomat und Anwalt. Dem Wunsch der Ostindien-Kompanie kam er gern nach und schrieb einen Rechtsaufsatz, von dem zu seinen Lebzeiten jedoch nur ein Kapitel veröffentlicht wurde. Es trug die Überschrift „Mare liberum“. Darin legte Grotius dar, dass das Meer im Gegensatz zum Land von niemandem besetzt oder verteidigt werden könne. Deshalb sollten alle Nationen freien Zugang zum Ozean besitzen und diesen auch frei nutzen können.
Dieser Auffassung widersprach im Jahr 1635 der englische Gelehrte John Selden (1584 bis 1654). In zwei Büchern mit dem Titel „Mare clausum“ verteidigte er den Rechtsanspruch der englischen Königsfamilie auf alle Gewässer rund um die Britischen Inseln und leitete daraus unter anderem ein exklusives Fischereirecht Englands ab. Auf Basis dessen, so argumentierte Selden, hätte das englische Königshaus auch das Recht, ausländische Fischer mit Lizenzen und Steuern zu belegen, wenn diese in englischen Gewässern fischten. John Selden stellte somit die Interessen des Küstenstaates über das Prinzip des freien, von jedermann nutzbaren Meeres.
8.2 > Das Meer gehöre niemandem, und deshalb sollten alle Nationen freien Zugang zum Ozean erhalten, argumentierte der niederländische Jurist und Diplomat Hugo Grotius.
Abb. 8.2 mauritius images/Artokoloro/­Alamy
Die von Grotius und Selden geprägten Begriffe „Mare liberum“ und „Mare clausum“ werden bis heute von Seerechtsexperten verwendet. Ersterer, wenn es um das Prinzip des freien Meeres geht. Letzterer, wenn nationalstaatliche Besitzansprüche auf Meeresgebiete gemeint sind. Tatsächlich praktiziert aber wurde ab dem 17. Jahrhundert das Prinzip des freien Meeres – eingeschränkt durch die sogenannte Drei-Meilen-Zone. Diese ging auf den niederländischen Rechtsgelehrten Cornelis van Bynkershoek (1673 bis 1743) zurück. Ihm zufolge sollte eine Nation Hoheitsrechte über jenen Teil des Küstenmeeres beanspruchen können, den sie von Land aus mit Kanonenkugeln verteidigen konnte. Die Geschosse flogen damals etwa drei Seemeilen weit, eine Strecke von umgerechnet 5,6 Kilometern. Obwohl diese Regelung zur Drei-Meilen-Zone nirgendwo schriftlich festgelegt wurde, übernahmen viele Staaten sie, sodass sie alsbald als Gewohnheitsrecht anerkannt wurde.
Abb. 8.3 mauritius images/Art ­Col­lection 3/Alamy

8.3 > Einen Streit um Fischereirechte nahm der englische Gelehrte John Selden zum Anlass, den Rechtsanspruch der britischen Königsfamilie auf alle Gewässer rund um die Britischen Inseln zu proklamieren. Er stellte damit die Interessen des Küstenstaates über das Prinzip des freien, von jedermann nutzbaren Meeres.
Je weiter in der Folgezeit jedoch die Fähigkeiten der Küstenstaaten zunahmen, die Meere weit über die Reichweite einer Kanonenkugel hinaus zu kontrollieren, desto häufiger wurde die Breite des Küstenmeeres von drei Seemeilen infrage gestellt. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts begannen immer mehr Staaten, ihre Hoheits­ansprüche auszuweiten. Diese zahlreichen Alleingänge führten zu Spannungen zwischen Küstenstaaten und seefahrenden Nationen. Die Ausweitung der Hoheitsgewässer brachte nämlich die Gefahr mit sich, dass weltweit mehr als 100 wichtige Meerengen und Schifffahrtsstraßen unter ausschließlich nationale Kontrolle fallen würden – darunter auch Hotspots der Handelsschifffahrt wie die Straße von Gibraltar. Die seefahrenden Nationen warben deshalb für die Freiheit des Meeres. Sie befürchteten, dass eine Vielzahl unterschiedlicher nationaler Regelungen für das Küstenmeer die internationale Seefahrt, die Fischerei und den Ressourcenabbau drastisch verkomplizieren würde. In diese Diskussionen mischten sich Stimmen, wonach Nationalstaaten nur bestimmte Aspekte in ihrem Küstenmeer selbst bestimmen sollten – etwa Regularien zum Schutz des Meeres vor Verschmutzung durch Schiffsabfälle, -abwässer oder aber Treibstofflecks. Andere Experten wiederum argumentierten, Küstenstaaten sollten alle menschlichen Aktivitäten innerhalb ihrer Hoheitsgewässer selbst regulieren dürfen.
Um Ordnung und Einigkeit in dieses Interessenwirrwarr zu bringen, veranstalteten die Vereinten Nationen in der Folgezeit drei internationale Konferenzen zum Seerecht. An der ersten Konferenz im schweizerischen Genf im Jahr 1958 nahmen 86 Staaten teil. Gemeinsam beschlossen sie vier Genfer Übereinkommen, mit denen sie eine Gebiets- und Nutzungsordnung festlegten und damit die wichtigsten Grundlagen für eine gemeinsame Rechtsordnung im maritimen Raum schufen. Die vier Übereinkommen (auch Genfer Seerechtskonventionen genannt) betrafen (1) das Küstenmeer und die Anschlusszone, (2) die Hohe See, (3) die Fischerei und die Erhaltung der biologischen Reichtümer der Hohen See sowie (4) den Festlandsockel.
Die zweite Konferenz fand im Jahr 1960 statt, abermals im Genf. Sie hatte das Ziel, Einigung zu den territo­rialen Gewässern sowie zu Fischfanggrenzen zu erzielen. Die Verhandlungen aber endeten ergebnislos. Unter anderem gelang es den teilnehmenden Staaten zum damaligen Zeitpunkt noch nicht, sich auf die Breite des Küstenmeeres zu einigen und damit eine der drängendsten Fragen zu klären. Im Jahr 1973 luden die Vereinten Nationen erneut zu einer Seerechtskonferenz, diesmal nach New York. Es sollten Fragen zum Meeresbergbau im Mittelpunkt stehen. Die 160 teilnehmenden Nationen aber nahmen die Zusammenkunft zum Anlass, die Regeln zur Nutzung des Ozeans neu zu schreiben. Der Prozess zog sich über neun Jahre. Nach elf Verhandlungsrunden und insgesamt 585 Sitzungstagen verabschiedete die Staatengemeinschaft am 10. Dezember 1982 in Montego Bay, Jamaika, die neue Verfassung der Meere – das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen (SRÜ), welches am 16. November 1994 in Kraft getreten ist.

Ein Abkommen wie kein anderes

Das Seerechtsübereinkommen ist das wahrscheinlich komplexeste und umfassendste Vertragswerk, auf welches sich die internationale Staatengemeinschaft jemals ge- einigt hat. Es umfasst 17 Teilkapitel mit insgesamt 320 Rechtsartikeln. Dazu kommen neun Anlagen mit ergänzenden Ausführungen. Das Vertragswerk führt darin nicht nur die zuvor geltenden Genfer Seerechtskonven­tio­nen zusammen, die dennoch fortgelten. Es legt außerdem verschiedene Meereszonen fest; regelt die Nutzung dieser Gebiete beispielsweise durch Schifffahrt, Fischerei und Meeresforschung; enthält Regularien zum Meeres­bodenbergbau sowie zum Schutz der Meeresumwelt und gibt der Staatengemeinschaft vor, auf welche Weise Streitigkeiten zwischen zwei oder mehreren Vertragsparteien beigelegt werden müssen.
Für diese und andere Zwecke wurden mit dem UN-See­rechts­über­einkom­men vier neue Institu­tionen ins Leben gerufen:
  1. der Internationale Seegerichtshof (International Tribunal for the Law of the Sea, ITLOS) mit Sitz in Hamburg, Deutschland, dessen Zuständigkeit auf Streitigkeiten über die Auslegung und Anwendung des Seerechtsübereinkommens beschränkt ist;
  2. die UN-Kommission zur Begrenzung des Festland­sockels (Commission on the Limits of the Continental Shelf, CLCS), die in New York zusammentritt;
  3. die Internationale Meeresbodenbehörde (International Seabed Authority, ISA) in Kingston, Jamaika;
  4. die regelmäßigen Treffen von Vertretern der Unterzeichnerstaaten (Meeting of State Parties to the Convention).
8.4 > Die Richter des Interna­tionalen Seegerichtshofes in Hamburg entscheiden nur über Rechtsstreitigkeiten, bei denen es um die Auslegung und Anwendung des UN-See­rechts­über­einkom­men geht.
Abb. 8.4 Jesco Denzel
Außerdem gibt es bis heute zwei ergänzende Umsetzungsabkommen:
  • das Übereinkommen zur Durchführung des Teiles XI des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen, kurz auch Meeresboden-Abkommen genannt. Es wurde am 28. Juli 1994 beschlossen und enthält detaillierte Vorschriften zum Bergbau in Meeresgebieten außerhalb nationaler Hoheit.
  • das Übereinkommen zur Durchführung der Bestimmungen des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1982 über die Erhaltung und Bewirtschaftung von gebietsübergreifenden Fischbeständen und weit wandernden Fischbeständen (auch Fish Stocks Agreement genannt). Es wurde am 4. Dezember 1995 beschlossen und schränkt für alle Vertragsparteien die Fischereifreiheit im Hinblick auf weit wandernde Fischarten sowie auf solche Bestände ein, die sowohl innerhalb als auch außerhalb nationaler Gewässer vorkommen.
Ein drittes Umsetzungsabkommen zum Erhalt und zur nachhaltigen Nutzung der biologischen Vielfalt in internationalen Gewässern (Marine Biodiversity Beyond Natio­n­al Jurisdiction, BBNJ) wird derzeit von der Staatengemeinschaft verhandelt. Ziel ist es, einen verbindlichen Rechtsrahmen festzulegen, der die vielen bereits existierenden Einzelmaßnahmen zum Schutz der Artenvielfalt bündelt und sektorenübergreifend sicherstellt, dass die Ökosysteme der Hohen See geschützt und nachhaltig genutzt werden. Die Verantwortung dafür schultern bislang verschiedene Akteure, so zum Beispiel die Interna­tionale Seeschifffahrts-Organisation (International Mar­itime Organization, IMO) und die Regionalen Organisa­tionen für das Fischereimanagement. Sie alle aber ver­fügen nur über einen begrenzten Zuständigkeitsbereich. Außerdem fehlen bisher gemeinsame Leitlinien sowie Fortschritte durch effektive, institutionenübergreifende Zusammenarbeit auf allen Ebenen sowie über Sektorengrenzen hinweg. Mit dem neuen Umsetzungsabkommen soll sich dies ändern.
Die im UN-Seerechtsübereinkommen festgelegten Regeln und Pflichten gelten zunächst einmal für die 168 Vertragsparteien, darunter die EU (Stand: Mai 2021). Aber auch für Staaten, die dem Vertrag nicht beigetreten sind, darunter die USA, genießen die meisten Regelungen Verbindlichkeit, weil sie sich durch die fast 40-jährige Praxis und Rechtsüberzeugung der Staaten als Gewohnheitsrecht verfestigt haben.

Die Aufteilung des Ozeans

Das UN-Seerechtsübereinkommen versucht einen Ausgleich zwischen den Interessen der Nationalstaaten und der Freiheit der Meere zu finden und definiert verschiedene marine Zonen, in denen der Umfang bestimmter souveräner Rechte der Küstenstaaten festgelegt ist. Dazu gehören:
  • die Inneren Gewässer und das Küstenmeer eines Staates,
  • die Anschlusszone,
  • die Ausschließliche Wirtschaftszone,
  • der Festlandsockel,
  • die Hohe See und Das Gebiet.

Innere Gewässer und Küstenmeer

Als Innere Gewässer werden diejenigen salinen Gewässer definiert, die von der Basis- oder Niedrigwasserlinie aus betrachtet landeinwärts liegen. Das Küstenmeer dagegen erstreckt sich seewärts. Es hat eine Breite von maximal zwölf Seemeilen (eine Seemeile entspricht 1852 Meter). In seinen Inneren Gewässern besitzt ein Staat uneingeschränkte Hoheitsgewalt, denn sie gehören wie auch das Küstenmeer zu seinem Staatsgebiet. Die Souveränität im Küstenmeer ist ebenfalls recht umfassend. Sie erstreckt sich auf den Luftraum, die Wassersäule, den Meeresboden und den darunterliegenden Untergrund. Es ist einem Küstenstaat jedoch verboten, die friedliche Durchfahrt fremder Schiffe durch sein Küstenmeer zu behindern.
Die Durchfahrt gilt als friedlich, wenn das betreffende Schiff bei seiner Fahrt durch das Küstenmeer keinerlei Gewalt ausübt, diese auch nicht androht, den Küstenstaat nicht ausspäht und zu keinem Zeitpunkt auf andere Art und Weise eine Gefahr für die Sicherheit des Küstenstaates darstellt. Wann Letzteres der Fall ist, wird im UN-Seerechtsübereinkommen im Einzelnen definiert. U-Boote beispielsweise müssen für die Durchfahrt auftauchen und ihre Flagge hissen. Verboten sind außerdem illegale Einleitungen oder andere Meeresverschmutzungen. Der Küstenstaat darf jedoch Fahrrinnen ausweisen, auf welchen die Durchfahrt erfolgen muss, und Gebühren erheben, wenn er Leistungen erbringt, welche die Sicherheit des Schiffsverkehrs erhöhen. Bei der Ausweisung von Schifffahrtswegen und Verkehrstrennungsgebieten muss er allerdings die Empfehlungen der Internationalen Seeschifffahrts-Organisation berücksichtigen.
Ist das Küstenmeer Teil einer Meerenge oder Wasserstraße, die Gebiete der Hohen See oder verschiedene Ausschließliche Wirtschaftszonen miteinander verbindet und von der internationalen Schifffahrt genutzt wird, muss der Küstenstaat laut Artikel 37 des Seerechtsübereinkommens fremden Schiffen das Recht auf eine Transitdurchfahrt gewähren. Im Vergleich zum Recht der friedlichen Durchfahrt verfügt der Küstenstaat bei Transitdurchfahrten über noch geringeren Spielraum, diese zu beschränken. Es gilt nämlich im Grunde dieselbe Freiheit der Schifffahrt wie auf Hoher See. Letztlich ist eine Aussetzung oder Beschränkung der Transitdurchfahrt nur im Fall der Androhung oder Ausübung militärischer Gewalt durch das Schiff möglich. U-Boote dürfen Meerengen durchtauchen.
8.5 > Am 24. Oktober 2014 unterzeichneten der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier (rechts) und sein niederländischer Amtskollege Bert Koenders den niederländisch-deutschen Vertrag zur Regelung der Zuständigkeiten im Küstenmeer der Ems-Dollart-Region zwischen drei und zwölf Seemeilen.
Abb. 8.5 picture alliance/dpa/Ingo Wagner
Die Grenzziehung im Küstenmeer kann durchaus politischen Zündstoff bieten. Deutschland und die Niederlande beispielsweise streiten seit Jahrzehnten über den genauen Verlauf der Staatsgrenze innerhalb des Küstenmeeres. Beide Staaten einigten sich erst im Jahr 2014 im sogenannten Ems-Dollart-Vertrag über die Nutzung und Verwaltung des Küstenmeeres zwischen drei und zwölf Seemeilen. Dessen Bestimmungen zufolge halten beide Staaten an ihren divergierenden Rechtsstandpunkten fest, was den Verlauf der Staatsgrenze innerhalb des Küstenmeeres betrifft. Gleichzeitig aber einigten sie sich auf ein gemeinsames Verkehrsmanagementsystem für den Schiffsverkehr im Fahrwasser von und zu Häfen beider Staaten entlang der Ems.
Mit dem Vertrag wurde außerdem eine Ständige Kommission für Schifffahrtsangelegenheiten im Fahrwasser (die sogenannte Westeremskommission) eingerichtet, die unter anderem Beschlüsse über den genauen Verlauf des Fahrwassers trifft. In Hinblick auf die nicht lebenden natürlichen Ressourcen oder aber den Bau von Anlagen, beispielsweise zur Gewinnung erneuerbarer Energien, verständigten sich die Vertragsparteien auf eine Linie, mithilfe derer geregelt wird, welche nationale Rechtsordnung anwendbar ist. Westlich dieser Linie sind die Niederlande zuständig, östlich davon Deutschland.
8.6 > Der deutsch-niederländische Küstenmeerstreit geht auf unterschiedliche Ansichten zum Verlauf der Staatsgrenze in der Ems zurück. Während die Niederlande diese entlang der tiefsten Punkte des Flusses verorten, beruft sich Deutschland auf einen Lehnsbrief aus dem Jahr 1464, wonach die Grenze an der westlichen Niedrigwasserlinie der Ems verlaufen soll. Die pragmatische Lösung seit 1960: ein gemeinsam genutztes Vertragsgebiet im Küs­tenmeer bis drei Seemeilen (seit 2014 bis zwölf Seemeilen)mit klarer Mittellinie (seit 1962), welche die Zuständigkeit der beiden Länder in bestimmten Verwaltungsfragen abgrenzt.
Abb. 8.6 Netherlands Ministry of Defence, Bundes­gesetzblatt Teil II 1963, Nr. 18 vom 25.06.1963, S. 657

Anschlusszone und Ausschließliche Wirtschaftszone

An das Küstenmeer schließt sich die sogenannte Anschlusszone an. Sie darf sich maximal 24 Seemeilen über die Niedrigwasserlinie hinaus erstrecken. In dieser Zone dürfen Küstenstaaten besondere Kontrollbefugnisse aus­üben und beispielsweise Zollvorschriften gegenüber Drittstaaten durchsetzen. Auf die Anschlusszone folgt die Ausschließliche Wirtschaftszone (AWZ), die von der Niedrigwasserlinie aus betrachtet eine Breite von 200 See­meilen nicht überschreiten darf und nicht zum Staatsgebiet gehört. Dennoch haben die Küstenstaaten in dieser Zone das alleinige Recht, Fischfang zu betreiben, Rohstoffe zu fördern, Meeresbergbau zu betreiben oder künstliche Inseln und Anlagen wie etwa Ölbohrplattformen und Offshore-Windenergieanlagen zu genehmigen, zu errichten und zu betreiben. Der Küstenstaat verfügt in diesem Meeresgebiet zudem über Hoheitsbefugnisse in Bezug auf den Meeresschutz und die Meeresforschung. Aus diesem Grund müssen fremde Staaten grundsätzlich die Zustimmung des Küstenstaates einholen, wenn sie in dessen Ausschließlicher Wirtschaftszone wissenschaftliche Untersuchungen vornehmen wollen. Ansprüchen des Küstenstaates auf territoriale Aneignung, das heißt Ein­verleibung der Ausschließlichen Wirtschaftszone in das Staatsgebiet, erteilt das Seerechtsübereinkommen eine klare Absage. Drittstaaten genießen in diesem Gebiet die sogenannte Schifffahrtsfreiheit und dürfen hier auch unterseeische Kabel und Rohrleitungen verlegen. Allerdings müssen sie dabei Rücksicht auf bereits bestehende Strukturen nehmen.

Festlandsockel

Spezielle Regelungen sieht das UN-Seerechtsübereinkommen für den sogenannten Festlandsockel vor, welcher größtenteils unterhalb der Ausschließlichen Wirtschaftszone verläuft, aber dennoch als eigene marine Zone betrachtet wird. Der Küstenstaat hat im gesamten Festlandsockelbereich exklusive Rechte, solange dieser innerhalb der 200-Seemeilen-Grenze liegt. Seerechtlich kann jeder Küstenstaat den Festlandsockel von bis zu 200 Seemeilen Breite proklamieren, selbst wenn der Sockel geologisch betrachtet schmaler ist. Reicht der geologische Festlandsockel jedoch über diese 200-Seemeilen-Grenze hinaus – was bei schätzungsweise 85 Küstenstaaten der Fall ist –, kann jeder einzelne nach Artikel 76 des Seerechtsübereinkommens die äußere Grenze dieses Sockels erweitern.
Dazu muss der Küstenstaat gegenüber der UN-Kommission zur Begrenzung des Festlandsockels (Commission on the Limits of the Continental Shelf, CLCS) wissenschaftliche Daten vorlegen, aus denen sich ergibt, dass es sich bei dem betreffenden Teil des Meeresbodens und -untergrundes um die natürliche Verlängerung seines Festlandrands handelt. Diese Anforderung hat dazu geführt, dass die Kontinentalränder mittlerweile zu den am besten vermessenen Meeresregionen zählen und die Oberflächengestalt und Geologie ihres Meeresbodens weitestgehend bekannt sind. Anderswo, vor allem aber in den Tiefseeregionen, weisen die Meeresbodenkarten noch sehr viele große weiße Flecken auf. Bis zum Juni 2021 waren gerade einmal 20,6 Prozent des weltweiten Meeres­bodens kartiert.
Der erweiterte Festlandsockel ist ein Hoheitsraum, in dem nur der Küstenstaat die natürlichen Ressourcen des Meeresbodens erforschen und ausbeuten darf. Auf Gewinne aus dem Meeresbergbau in diesen Gebieten muss der Küstenstaat jedoch Abgaben an die Internatio­nale Meeresbodenbehörde zahlen. Die Fischerei in der Wassersäule über dem erweiterten Festlandsockel ist freigegeben, ebenso die Seeschifffahrt.

Basislinie
Als Basislinie fungiert meist die in amtlichen Seekarten eingetragene Niedrigwasserlinie – also jene Linie, bis zu der sich das Wasser bei Ebbe zurückzieht. Da es jedoch auf internatio­naler Ebene weder ein einheitliches Seekartennull gibt noch jemals Position und Verlauf aller Niedrigwasserlinien verbindlich festgelegt wurden, variieren die von den Küstenstaaten zugrunde gelegten Daten der Basislinie erheblich. Im Fall von Flussmündungen, bei vorgelagerten Inseln, zerklüfteten Küsten oder bei veränderlicher Küstenlinie dürfen gerade Basislinien über die äußersten natürlichen Punkte (Landzungen, Inselketten etc.) gezogen werden.

Einer Erweiterung des Festlandsockels sind jedoch rechtliche Grenzen gesetzt. Die neue Außengrenze des Festlandsockels darf entweder nicht weiter als 350 Seemeilen entfernt von der Basislinie des Küstenstaates verlaufen oder nicht mehr als 100 Seemeilen über die 2500-Meter-Wassertiefenlinie hinausgehen. Eine Kombination der beiden Methoden ist zulässig.
In der Arktis, wo die Anrainerstaaten seit Jahrzehnten sich gegenseitig überlappende Gebietsansprüche erheben, verkompliziert sich die Grenzziehung dadurch, dass am Meeresboden des Arktischen Ozeans drei unterseeische Bergrücken verlaufen – der Lomonossowrücken, der Gakkelrücken und der Alpha-Mendelejew-Rücken. Aus diesem Grund kommt eine Ausnahmeregelung des Seerechtsübereinkommens zum Tragen. In Artikel 76 wird nämlich zwischen unterseeischen Bergrücken und unterseeischen Erhebungen unterschieden.
Für den Fall, dass beide mit dem Festlandsockel eines Küstenstaats verbunden sind, gelten unterschiedliche Regelungen. Verläuft der Festlandsockel in Teilen über einem unterseeischen Bergrücken, kann nur die 350-Seemeilen-Regel angewendet werden. Die Regel zur 2500-Meter-Wassertiefenlinie entfällt. Erstreckt sich der Festlandsockel jedoch über einer unterseeischen Erhebung, gelten beide Richtlinien, weil davon ausgegangen wird, dass die unterseeische Erhebung in der Regel aus dem gleichen Material besteht wie der Festlandsockel. Unterseeische Bergrücken dagegen bestehen meist aus vulkanischem Gestein und somit aus einem anderen Material als der Festlandsockel.
Diese komplexen Vorgaben des Seerechtsübereinkommens erschweren die Arbeit der UN-Kommission zur Begrenzung des Festlandsockels. Sie prüft alle eingereichten Anträge und gibt am Ende eine Empfehlung ab. Sofern der Küstenstaat die Außengrenze seiner erweiterten Wirtschaftszone der Empfehlung entsprechend anpasst, ist diese Außengrenze endgültig und verbindlich. Fraglich ist bislang, was passiert, wenn sich ein Küstenstaat der Kommissionsempfehlung widersetzt und die Außengrenze in Widerspruch zur Empfehlung festlegt. Die Kommission ist nämlich kein Organ der Rechtskontrolle. Sie soll nur garantieren, dass die Grenzziehung wissenschaftlichen Standards entspricht.
8.7 > Ein somalischer Pirat steht vor dem Wrack eines taiwanesischen Fischkutters, den er gemeinsam mit anderen Männern überfallen hat. Der Verdacht auf Piraterie und Menschenhandel sind zwei der wenigen Anlässe, in denen das Seerechtsübereinkommen den Einsatz von Gewalt auf Hoher See gestattet.
Abb. 8.7 picture alliance/Associated Press/Farah Abdi ­Warsameh
Weil die Kommission chronisch unterfinanziert ist, dauern die Antragsbearbeitung und die Entscheidungsfindung in der Regel mehrere Jahre, mitunter auch mehrere Jahrzehnte. Hinzu kommt, dass die Kommission nicht zuständig ist, wenn zwei oder mehrere Küstenstaaten mit gegenüberliegenden oder aneinandergrenzenden Küsten um eine genaue Abgrenzung ihres jeweiligen Festland­sockels ringen oder sich die von ihnen beanspruchten Gebiete überlappen. In solchen Fällen verpflichtet das Seerechtsübereinkommen die beteiligten Staaten vielmehr zum Abschluss eines oder mehrerer Abgrenzungs­übereinkommen. Das heißt, die beteiligten Staaten müssen diese strittigen Fragen untereinander klären. Sollte das nicht gelingen, könnte der Streit vor einem internationalen Gericht, zum Beispiel dem Internationalen Gerichtshof oder dem Internationalen Seegerichtshof, verhandelt werden – vorausgesetzt, die beteiligten Staaten erkennen diesen als zuständige Rechtsinstanz an.
In der Arktis haben die Verhandlungs- und Kompromissbereitschaft der Anrainerstaaten bisher ausge­reicht, viele Grenz- oder Gebietskonflikte beizulegen. So einigten sich zum Beispiel Norwegen und Russland im September 2010 auf einen Kooperationsvertrag, der einen vier Jahrzehnte andauernden Streit um die Abgrenzung ihrer nebeneinanderliegenden Wirtschaftszonen und Festlandsockel in der rohstoff- und ressourcenreichen Barentssee beendete. Der darin beschlossene Grenzverlauf trägt den Ansprüchen beider Staaten zu gleichen Teilen Rechnung. Außerdem vereinbarten beide Parteien, dass sie mögliche neue, bislang unentdeckte grenzüberschreitende Ressourcenlagerstätten gemeinsam ausbeuten wollen.
Strittig war lange Zeit auch die Abgrenzung des Festlandsockels in der Nordsee, da sich hier das Meer fast vollständig über dem europäischen Festlandsockel befindet. Der Internationale Gerichtshof wies aus diesem Grund die Streitparteien an, sich gemeinsam auf eine brauchbare Lösung zu einigen, die sicherstellen möge, dass jeder Partei möglichst alle Teile des Festlandsockels überlassen werden sollten, die eine natürliche Verlängerung ihres Landgebietes in oder unter der See darstellten, soweit dies ohne Beeinträchtigung der natürlichen Fortsetzung des Landgebietes einer anderen Partei möglich sei. Die Bundesrepublik Deutschland schloss daraufhin im Jahr 1972 ein Abkommen mit Dänemark, Großbritannien und den Niederlanden über die Abgrenzung des Anteils am Festlandsockel.

Hohe See

An der Außengrenze der Ausschließlichen Wirtschaftszone beginnt die Hohe See, die sich über die gesamte Wassersäule erstreckt, den Meeresboden aber nicht mit einschließt. Völkerrechtler bezeichnen sie auch als Staatengemeinschaftsraum, denn die Hohe See steht allen Staaten zur gleichberechtigten Nutzung offen und niemand kann Besitzansprüche erheben oder sich Teile der Hohen See aneignen.
Innerhalb der Grenzen der Hohen See gilt für alle Staaten die sogenannte Freiheit der Hohen See. Das heißt, diese Meeresregion darf unter anderem frei von Schiffen durchfahren und von Flugzeugen überflogen werden. Zudem ist es grundsätzlich jedem erlaubt, in diesem Gebiet zu fischen und zu forschen, auch wenn mittlerweile bestimmte Aspekte der Fischereifreiheit durch zahlreiche völkerrechtliche Verträge sowie durch das Fish Stocks Agreement genauer geregelt sind.
Alle menschlichen Aktivitäten auf Hoher See müssen laut Seerechtsübereinkommen friedlicher Natur sein. Die Staaten sind jedoch verpflichtet, Piraterie und Menschenhandel zu bekämpfen. Mit der Ausnahme von Notrufen ist es allen Schiffen zudem untersagt, aus Gebieten der Hohen See frei empfängliche Radio- oder Fernsehsendungen zu verbreiten. Kriegsschiffe dürfen zudem keine anderen Schiffe aufbringen, es sei denn, es besteht der Verdacht auf Piraterie, Menschenhandel (Sklaverei) oder sonstige, nach dem Seerechtsübereinkommen strafbare Verstöße.
8.8 > Das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen teilt das Meer in verschiedene Rechtszonen auf. Die Souveränität des Staates nimmt dabei mit zunehmender Entfernung von der Basislinie ab – siehe Tabelle nächste Seite.
Abb. 8.8 maribus
S. 262/263 maribus

 

S. 262/263 maribus
Das Abkommen nimmt die Staaten außerdem in die Pflicht, beim Schutz und Erhalt der lebenden Ressourcen der Hohen See zusammenzuarbeiten – dazu zählen vor allem Fische, Meeressäuger und Seevögel. Entscheidungen zum Artenschutz oder zum Management der Ressourcen sollten auf Basis der besten wissenschaftlichen Erkenntnisse getroffen werden. Voraussetzung dafür sei aber, dass dieses Wissen auch unter allen betroffenen Staaten geteilt werde.
Diesen und anderen Meeresschutzvorgaben des Seerechtsübereinkommens kommen die Vertragsparteien jedoch nur in einem unzureichenden Maß nach. Deshalb hat sich bereits vor einiger Zeit die Erkenntnis durchgesetzt, dass das Prinzip der Freiheit der Hohen See nicht ausreicht, um die Vertragsparteien in die Verantwortung zu nehmen und zu gewährleisten, dass diese für einen ausreichenden Schutz der Meeresumwelt in internationalen Gewässern sorgen. Die Vollversammlung der Vereinten Nationen beschloss daher im Jahr 2015, die Verhandlungen zum besagten dritten Umsetzungsübereinkommen zum Schutz und Erhalt der Biodiversität in Meeresgebieten außerhalb nationaler Hoheit (BBNJ-Abkommen) aufzunehmen und somit den Handlungsspielraum und die Freiheit der Nationalstaaten zu begrenzen – vorausgesetzt, das Abkommen wird am Ende auch verabschiedet und von den Staaten ratifiziert.

Das Gebiet

Als Das Gebiet (englisch: the Area) definiert das UN-Seerechtsübereinkommen den Meeresboden und -untergrund jenseits der Festlandsockelgebiete und alle darauf oder darin lagernden Ressourcen nicht biologischen Ursprungs. Ausdrücklich ausgeschlossen von dieser Definition sind die Wassersäule und der Luftraum über dem Meer. Das Meeresbodengebiet und seine mineralischen Ressourcen werden als „gemeinsames Erbe der Menschheit“ betrachtet und dürfen nur für friedliche und nutzbringende Zwecke verwendet werden. Anders als bei der Hohen See ist eine Nutzung jedoch nicht erlaubnisfrei, sondern muss bei der Internationalen Meeresbodenbehörde beantragt werden. Diese beaufsichtigt alle menschlichen Aktivitäten innerhalb des Gebietes. Nichtsdestotrotz haben alle Staaten der Welt das gleiche Zugangs- und Teilhaberecht im Hinblick auf Das Gebiet und seine Ressourcen. Wichtig ist außerdem: Staaten haften für jegliche Aktivitäten ihrer Staatsangehörigen im Gebiet.

Abb. 8.9 Science Photo Library/GSFC-SVS/NASA

8.9 > Für Binnenmeere wie das Mittelmeer hält das UN-Seerechtsübereinkommen eine Sonderregelung vor: Sie verpflichtet alle Anrainerstaaten zur Zusammen­arbeit in Fragen des Meeresschutzes, der Fischerei, der Forschung sowie im Umgang mit anderen Staaten und internationalen Organisationen.

Eine ewige Abwägungsfrage

Die Aufteilung des Ozeans in die im Seerechtsübereinkommen definierten Zonen sorgt jedoch nur auf den ersten Blick für jene Klarheit, die sich alle Beteiligten gewünscht haben. Auf den zweiten Blick offenbart sich, dass die vom Menschen künstlich geschaffenen Zonen dazu führen, dass ein bestimmtes Meeresgebiet rechtlich unterschiedlichen Regelungen unterliegen kann – abhängig davon, wie man es nutzt. In den Gewässern der Ausschließlichen Wirtschaftszone beispielsweise gelten die exklusiven Nutzungsrechte des Küstenstaates, solange es um Fischerei und den Bau von Windkraftanlagen geht. Dieselbe Meeresfläche aber unterliegt der Freiheit der Hohen See, wenn Themen wie die Seenotrettung oder aber die Piratenabwehr in den Fokus rücken.
Verkompliziert wird die Sachlage dadurch, dass sich auch die Natur nicht an diese künstlichen Grenzen hält. Fischschwärme beispielsweise wandern zwischen den Zonen hin und her. Daraus resultiert einerseits, dass unter Umständen viele verschiedene Akteure für ein nachhaltiges Management ein und desselben Bestandes verantwortlich sind und dessen Überleben nur dann gewähr­­leis­tet werden kann, wenn all diese Akteure eng zusammenarbeiten. Andererseits zeigt dieses Beispiel, dass bei Fragen zur nachhaltigen Nutzung der Meere immer wieder die Interessen der Küstenstaaten gegen die Interessen der Freiheit der Meere abgewogen werden müssen. Und selten sind Entscheidungen einfach, vor allem dann nicht, wenn Stressfaktoren wie die Auswirkungen des Klimawandels, Verschmutzung, Lärmbelas­tung, Küstenverbauung und Rohstoffförderung ebenfalls über jede Zonengrenze hinaus ihre schädliche Wirkung entfalten.

Regionale Meeresabkommen

Eine Sonderregelung enthält das UN-Seerechtsübereinkommen für Binnenmeere (umschlossene Meere) und halb umschlossene Meere. Zu diesen gehören wichtige Gewässer wie das Schwarze Meer, die Nord- und Ostsee, das Mittelmeer, der Persische Golf und der Golf von Mexiko. Das Abkommen verpflichtet die jeweiligen Anrainerstaaten zur Zusammenarbeit in mehreren Themenfeldern. Gemeinsam verantworten sie das Fischereimanagement, den Meeresschutz und die Forschung in dem jeweiligen Gewässer sowie die Zusammenarbeit mit anderen Staaten und internationalen Organisationen.
Ein europäisches Beispiel für eine solche überregionale Kooperation ist die Helsinki-Kommission (HELCOM), in deren Rahmen alle neun Ostseeanrainer gemeinsam mit der Europäischen Union Konzepte zum Schutz der Ostsee erarbeiten. Kernthemen sind der Erhalt der Artenvielfalt, Fischerei und Schifffahrt, Schadstoffeinträge sowie die Überdüngung des Meeres mit Nährstoffen aus den Flüssen und der Atmosphäre. Die Vertreter aller Anrainerstaaten arbeiten in fünf Arbeitsgruppen und einer Vielzahl von Expertengruppen und Projekten zusammen. Sie entwickeln Empfehlungen und Strategien, mit denen das ökologische Gleichgewicht in der Ostsee wiederhergestellt werden soll. Diese sind allerdings nicht rechtlich bindend; die Umsetzung liegt in der Verantwortung der Vertragsstaaten.
Weltweit existieren mittlerweile in mindestens 18 Meeresgebieten regionale Abkommen und Aktionsprogramme. Sie gelten als eines der wichtigsten Instrumente im internationalen Meeresmanagement, das häufig auch als Ocean Governance bezeichnet wird. Der große Vorteil regionaler Übereinkünfte ist, dass Nationen auf regionaler Ebene häufig eher bereit sind, sich auf gemeinsame Ziele und Aktivitäten zu einigen und im Zuge dessen Rechte abzugeben als auf großer, globaler Bühne. Zudem erlauben regionale Abkommen den Vertragsparteien, gebietsspezifische Absprachen zu treffen, welche durchaus erfolgversprechender sein können als allgemeine, international geltende Regelungen.

Küstenmanagement neu gedacht

Regionale Meereskonventionen und Aktionsprogramme geben den beteiligten Anrainerstaaten einen gemeinsamen Rahmen vor und erleichtern ihnen die Entwicklung und Umsetzung eigener integrativer Managementprogramme für den Küstenraum und das Küstenmeer. Unter integrativem Küstenmanagement versteht man einen Regulierungs- und Verwaltungsansatz, bei dem der Küstenraum als komplexes, dynamisches System verstanden wird, in welchem es zu vielen Interaktionen zwischen Menschen und den Ökosystemen des Meeres und des Küstenraumes kommt – und zwar über Zonen- und Sektorengrenzen hinweg. Deshalb, so lautet eines der Hauptprinzipien des integrativen Ansatzes, können die Belange des Küstenraumes nicht mehr allein innerhalb der traditionellen Sektoren geregelt werden. Viel zu oft würden sich deren Zuständigkeitsbereiche überlappen. Hinzu kommt, dass Akteure in den Sektoren Fischerei, Tourismus, Energie, Schifffahrt, Rohstoffgewinnung und Umweltschutz durchaus konkurrierende oder aber gegensätzliche Interessen verfolgen können. Die Auswirkungen der daraus resultierenden Maßnahmen gehen in der Regel immer zulasten des Meeres.
Aus diesem Grund versucht integratives Meeresmanagement, zonen- und sektorenübergreifende Leitlinien für eine nachhaltige Meeresnutzung zu entwickeln. Zur Anwendung kommt der Ansatz bisher vor allem in regionalen Aktionsprogrammen, so zum Beispiel in der Europäischen Union. Dort hat die Europäische Kommission einen integrativen Meeresrahmenplan entwickelt, der die fünf großen Themenpunkte marine Wirtschaft, Meereswissen und -daten, Meeresraumplanung, Meeresaufsicht und -kontrolle sowie spezielle Strategien für ausgewählte Meeresbecken miteinander vereint. Regionale Meeresabkommen sind jedoch keine zwingende Voraussetzung für ein erfolgreiches integriertes Küstenmanagement. Gut geplant und umgesetzt, können Küstenstaaten auch im Alleingang ihre Küsten- und Meeresverwaltung durch integrative Ansätze verbessern.
Angesichts der Meereszonierung durch das See-rechtsübereinkommen und der vielen unterschiedlichen Zuständigkeiten stößt aber auch der integrative Meeresmanagementansatz schnell an Grenzen. Ein Grund, so sagen Fachleute, sei die stetig wachsende Zahl an Akteuren, die es zu beteiligen gilt. Auf lokaler Ebene mag diese noch überschaubar sein. Mit jeder weiteren Ebene (regional, national, überregional, international) aber würde die Entscheidungsfindung komplexer, langwieriger und ineffektiver. Ein weiteres Hindernis sei der fehlende Informationsaustausch zwischen den vielen beteiligten Sektoren und Institutionen und ein fehlendes Bewusstsein vieler darüber, wie sich Maßnahmen oder Veränderungen in einem Sektor auf alle anderen Sektoren auswirken. Textende
8.10 > Regionale Meeresabkommen gelten als Kronjuwelen der Umweltdiplomatie, weil sie Kooperationen und Maßnahmen auf regionaler Ebene ermöglichen, die international kaum durchsetzbar wären. Deshalb gehören sie auch zum wichtigsten Werkzeug des Umweltprogramms der Vereinten Nationen, UNEP. Diese Tabelle listet 18 regionale Meeresabkommen und -aktionsprogramme auf, an denen sich mittlerweile insgesamt mehr als 146 Nationen beteiligen.
Tab. 8.10 nach Mead, 2021