Marine CDR-Verfahren: Forschung unter Zeit- und Erwartungsdruck
4
WOR 8 Klimaretter Ozean? Wie das Meer (noch) mehr Kohlendioxid aufnehmen soll | 2024

Ein Ozean der Möglichkeiten oder gefährlicher Hype?

Ein Ozean der Möglichkeiten oder gefährlicher Hype? Abb. 4.2: © Woods Hole Oceanographic Institution/Paul Caiger

Ein Ozean der Möglichkeiten oder gefährlicher Hype?

> Der Klimawandel verursacht zunehmende Schäden und Verluste rund um den Globus. Politik und Unternehmen suchen einerseits nach Wegen, Emissionen einzusparen, scheuen sich andererseits aber, tiefgreifende Maßnahmen umzusetzen. Die junge Forschung zu marinen Methoden der Kohlendioxid-Entnahme steht derweil vor der schwierigen Aufgabe, das facettenreiche Thema in kurzer Zeit umfassend zu bearbeiten. Ob dies gelingen kann, ohne dass kommerzielle Interessen in den Vordergrund treten? Ein Verhaltenskodex soll Fehlentwicklungen verhindern.

Ein spannungsgeladenes Forschungsfeld

Während Politik und Wissenschaft seit mehr als 15 Jahren die Potenziale und Machbarkeit landbasierter Verfahren zur Kohlendioxid-Entnahme (Carbon Dioxide Removal, CDR) diskutieren, hat sich die Ansicht, dass auch der Ozean Möglichkeiten für gezielte Maßnahmen zur Minderung des Klimawandels bietet, erst vor Kurzem durchgesetzt. Forschungsexperimente zur sogenannten Ozeandüngung fanden zwar schon in den späten 1990ern und in den 2000er-Jahren statt. Intensiviert wurde die Forschung zu meeresbasierten CDR-Methoden jedoch erst nach der Unterzeichnung des Pariser Klimaabkommens im Dezember 2015.
Kritischen Stimmen zufolge liegt diese Entwicklung darin begründet, dass landbasierte Klima-Interventionsansätze auf immer mehr Umsetzungshürden treffen (Flächenkonkurrenz, Proteste der lokalen Bevölkerung etc.) und daher von der Gesellschaft mit zunehmender Skepsis betrachtet werden. Im Klartext heißt das: Sie sind politisch kaum noch oder nur mit großen Anstrengungen durchzusetzen. Eingriffe in das Meer würden in der Bevölkerung hingegen auf weniger Widerstand treffen, so die Hoffnung – vor allem jene Verfahren, die natürliche Prozesse der Kohlendioxidaufnahme und -speicherung verstärken. Die klimapolitische Fokusverschiebung auf das Meer passe zudem in das Narrativ der „Blue Economy“, argumentieren Kritiker. Dieses besagt, dass die Rohstoff- und Entwicklungsgrenzen an Land dadurch umgangen werden können, indem Nahrung, Rohstoffe und Energie künftig im größeren Maß dem Meer entnommen werden. Der Ausbau der Fischzucht in mariner Aquakultur sowie Bestrebungen, mit dem Tiefseebergbau zu beginnen, seien Belege für diese Entwicklung.
Zusatzinfo Ozeandüngung Zusatzinfo öffnen

Viel stärker noch aber wiegt der Vorwurf, sämtliche Überlegungen zu CDR-Verfahren seien nur darauf angelegt, Zeit zu schinden und echte, lebensverändernde Maßnahmen zur Emissionsreduktion in die Zukunft zu verlagern – stets mit dem Argument begründet, dass es ja technische Möglichkeiten gäbe, die Kohlendioxidkonzentration in der Atmosphäre eines Tages zu regulieren. Die politische Diskussion um CDR-Verfahren sei deshalb nicht mehr als ein klimapolitischer Hype, verbunden mit vielen leeren Versprechen, sagen die Kritiker.
Andere Stimmen entgegnen, dass die immer drastischer werdenden Auswirkungen des Klimawandels die Dringlichkeit wirksamer Klimaschutzmaßnahmen verstärken und deshalb auch marine Verfahren zur Kohlendioxid-Entnahme nicht mehr ausgeschlossen werden könnten. Ebenso dringlich sei es aber, die vielen Wissens- und Regulierungslücken hinsichtlich mariner CDR-Verfahren zu schließen. Abgesehen von der Wiederherstellung zerstörter Küstenökosysteme seien die meisten marinen Methoden zur Entnahme von Kohlendioxid vergleichsweise neu. Sie wurden bislang kaum getestet, sodass Detailwissen zu ihrer Wirksamkeit, möglichen Kosten sowie Risiken und Folgen für Umwelt und Gesellschaft größtenteils fehle. Auf rechtlicher Ebene sei zudem absehbar, dass die bestehenden internationalen Meeresübereinkommen sowie nationalen Gesetze zum Umgang mit dem Meer weder ausreichten, eine sichere und transparente Forschung an marinen CDR-Verfahren sicherzustellen, noch, deren Einsatz im industriellen Maßstab zufriedenstellend zu regulieren.
4.1 > Auf der jährlich stattfindenden Weltklimakonferenz wird auch gefragt, welche konkreten Klimaschutzmaßnahmen die Staaten planen und umsetzen. Seitdem steigt der Druck auf die Wissenschaft, herauszufinden, welche Verfahren zur Entnahme von Kohlendioxid besonders wirkungsvoll sind und sich auf umwelt- und sozialverträgliche Weise umsetzen lassen.
Abb. 4.1 © REUTERS/Mohamed Abd El Ghany

Vor allem Investoren treiben die Forschung voran

Aus diesen Gründen und aller Kritik zum Trotz wächst die Zahl der Forschungsvorhaben zu meeresbasierten Verfahren der Kohlendioxid-Entnahme stetig. Eine treibende Kraft sind US-amerikanische Investoren, die ein kommerzielles Interesse an marinen Klima-Interventionsansätzen haben und entsprechende Studien in Auftrag geben. Die erste von der deutschen Bundesregierung finanzierte Forschungsmission zu den bislang vielversprechendsten marinen Methoden der Kohlendioxid-Entnahme begann im August 2021. Auf EU-Ebene werden seit dem Jahr 2020 ausgesuchte meeresbasierte CDR-Verfahren von verschiedenen Forschungsinstitutionen gemeinsam untersucht – ebenfalls finanziert aus öffentlichen Mitteln.
Das bislang angehäufte Fachwissen reicht allerdings nicht aus, um grundlegende Faktoren umfassend zu bewerten – etwa das Kohlendioxid-Speicherpotenzial, technische Machbarkeit, Effektivität sowie Kosten, Risiken und mögliche positive Nebeneffekte der Verfahren. Fachleute und Umweltschützer treibt deshalb die Sorge um, dass der hohe Handlungsdruck sowie die wachsenden wirtschaftlichen Interessen Entscheidungsträger veranlassen könnten, einem Einsatz meeresbasierter CDR-Verfahren zuzustimmen, bevor die vielen Wissenslücken geschlossen wurden. Finanzieren Unternehmen Auftragsforschung, kann zudem nicht ausgeschlossen werden, dass die Investoren Einfluss auf die Interpretation und Bewertung der gesammelten Daten nehmen.

Ein Verhaltenskodex für die Klima-Interventionsforschung

Führende US-amerikanische Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen haben deshalb einen Verhaltenskodex für die Erforschung meeres- und landbasierter Verfahren der Kohlendioxid-Entnahme entwickelt. Dieser umfasst fünf Punkte, die nach Aussage der Experten von jedem Forschungsprojekt als ethischer Handlungsrahmen angenommen und umgesetzt werden sollten. Diese fünf Punkte lauten:
  • Vorrang des kollektiven Nutzens: Der kollektive Nutzen für die Menschheit und die Umwelt muss das Hauptziel einer jeden Forschungsarbeit sein, die durchgeführt wird, um das Potenzial von Klima-Interventionstechnologien zur Abschwächung oder Umkehr des vom Menschen verursachten Klimawandels zu entwickeln und zu bewerten.
  • Verantwortung festlegen: Regierungen und Behörden müssen die Zuständigkeiten klären und gegebenenfalls neue Mechanismen schaffen, um groß angelegte Forschungsaktivitäten im Bereich des Klimawandels, die das Potenzial oder die Absicht haben, die Umwelt oder die Gesellschaft erheblich zu verän-dern, zu regeln und zu überwachen. Diese Mechanismen sollten auf den bestehenden Strukturen und Normen zur Regelung der wissenschaftlichen Forschung aufbauen und diese erweitern und im Falle schädlicher Folgen oder Ergebnisse festlegen, wer deren Kosten trägt.
  • Verpflichtung zu offener und kooperativer Forschung: Die Forschung sollte offen und kooperativ durchgeführt werden, vorzugsweise in einem Rahmen, der breite internationale Unterstützung genießt. Forschungstätigkeiten, die das Potenzial haben, die Umwelt in erheblichem Maße zu beeinträchtigen, sollten einer Risikobewertung unterzogen werden. Bei dieser sollten sowohl die Risiken und ihre Verteilung im Zusammenhang mit der Tätigkeit selbst berücksichtigt werden als auch die möglichen Folgen und weiterhin bestehende Wissenslücken, wenn das Experiment nicht durchgeführt würde.
  • Evaluierung und Bewertung durchführen: Um die gesellschaftlichen Ziele zu erreichen, sind iterative, unabhängige technische Bewertungen des Forschungsfortschritts bei Klima-Interventionsansätzen erforderlich. Die Bewertung aller beabsichtigten und unbeabsichtigten Folgen, Auswirkungen und Risiken ist von entscheidender Bedeutung, um den politischen Entscheidungsträgern und der Öffentlichkeit jene Informationen zur Verfügung zu stellen, die sie benötigen, um das Potenzial von Klimainterventionen zu bewerten.
  • Öffentlichkeit einbinden: Die Öffentlichkeit muss bei der Forschungsplanung und -bewertung sowie bei der Entwicklung von Entscheidungsmechanismen und -prozessen eingebunden werden. Ziel ist es, sicherzustellen, dass die internationalen und generationenübergreifenden Auswirkungen von Klimaschutzstrategien und -maßnahmen berücksichtigt werden.
4.2 > In einer Großalgenfarm vor der US-amerikanischen Ostküste sammelt ein Taucher Probenmaterial für Forschungszwecke ein. Die Wissenschaftler untersuchen, welche Großalgenarten schnell wachsen und obendrein robust und unempfindlich sind.
Abb. 4.2: © Woods Hole Oceanographic Institution/Paul Caiger
Gegnern mariner Verfahren der Kohlendioxid-Entnahme reicht dieser Verhaltenskodex nicht aus. Sie lehnen weitere Eingriffe des Menschen in den Weltozean grundsätzlich ab und fragen mit Blick auf den Klimawandel, die Überfischung und die Verschmutzung der Meere, ob die Menschheit dem Ozean nicht schon zu viel angetan hat.
Angesichts der erwartbaren kontroversen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen über das Für und Wider eines Einsatzes mariner Klima-Interventionstechnologien arbeiten Forschende daran, die vielen Fragestellungen zu sortieren und das facettenreiche Thema durch trans- und interdisziplinäre Forschung ganzheitlich anzugehen. Eine Rolle spielen dabei nicht nur technologische, ökologische, wirtschaftliche, rechtliche und regulatorische Aspekte, sondern auch die Frage, ob die Bevölkerung eines Staates oder einer von möglichen Maßnahmen betroffenen Region überhaupt einverstanden wäre und entsprechende Einsätze zum Ausgleich von Restemissionen unterstützen würde. Eines steht nämlich heute schon fest: Maßnahmen im kleinen Maßstab werden nicht ausreichen, um den Klimawandel wirkungsvoll zu bremsen. Soll der Ozean einen entscheidenden Anteil am Ausgleich der Restemissionen leisten (für ein Erreichen des 1,5-Grad-Ziels: 420 bis 1100 Milliarden Tonnen Kohlendioxid), wird eine neue Kohlendioxid-Entnahme-Industrie entstehen müssen und das Landschaftsbild in den betroffenen Meeres- und Küstenregionen entsprechend verändern. Anders gesagt: Ein wirksamer Ausgleich der anfallenden Restemissionen durch marine Kohlendioxid-Entnahme-verfahren bedeutet, massiv in die natürlichen Prozesse des Ozeans einzugreifen – und zwar über große Regionen hinweg und für einen langen Zeitraum.

Viele Parallelen und zusätzliche Herausforderungen

Vergleicht man land- und meeresbasierte Klima-Interventionstechnologien, werden viele Parallelen deutlich. Fachleute unterscheiden in beiden Sphären zwischen biologischen, chemischen und geochemischen CDR-Methoden, wobei Hybridformen durchaus möglich sind. Die Schlüsselverfahren ähneln sich ebenfalls. Die Wiederherstellung und Erweiterung vegetationsreicher Küstenökosysteme wie Mangrovenwälder, Seegras- und Salzwiesen beispielsweise sind im Grunde Spiegelbilder landbasierter Maßnahmen zur (Wieder-)Aufforstung und Wiederherstellung kohlenstoffreicher Wälder, Moore und Graslandschaften. Methoden zur Alkalinitätserhöhung des Meerwassers beruhen auf Verfahren zur beschleunigten Gesteinsverwitterung – und Verfahren zum großflächigen Algenanbau für die Bioenergiegewinnung benötigen ebenso wie BECCS eine Komponente der Kohlendioxid-abscheidung und -speicherung.
Dennoch stellt der Ozean eine besondere Herausforderung dar: Seine schiere Größe und erdumspannenden Meeresströmungen sowie die komplexen Wechselwirkungen innerhalb des Systems Meer erschweren es dem Menschen heute schon, den Umfang und die Dauer seiner natürlichen Aufnahme und Speicherung von Kohlendioxid zu messen. Sollten marine CDR-Methoden zum Einsatz kommen, stellen sich obendrein die Aufgaben, die vom Menschen initiierte zusätzliche Aufnahme von Kohlendioxid zu messen und zu verifizieren, sie bestimmten Prozessen oder Maßnahmen zuzuschreiben und die Dauer der Einlagerung von Kohlenstoff sowie mögliche Umweltauswirkungen für jede individuelle Maßnahme über lange Zeiträume hinweg zu überwachen. Wie das gelingen soll, ist eine der zentralen Forschungsfragen, denn funktionierende und bestenfalls standardisierte Mess- und Beobachtungssysteme fehlen bislang für die meisten Methoden.
Dasselbe gilt für Lösungen, mit denen sich mögliche negative Auswirkungen bestimmter CDR-Methoden auf eine kleine Meeresregion begrenzen ließen. Da die Meeresströmungen alle Teile des Weltozeans miteinander verbinden, kann nicht ausgeschlossen werden, dass CDR-Verfahren, die im Küstengewässer eines Staates durchgeführt werden, Auswirkungen auf Gebiete haben, die Tausende Kilometer entfernt liegen.
Aktuell wird eine Vielzahl mariner CDR-Methoden erforscht. Die meisten von ihnen setzen entweder auf die Biologie des Meeres – das heißt auf die fotosynthetische Umwandlung von Kohlendioxid in Biomasse und deren Einlagerung in großen Meerestiefen – oder aber auf chemisch-physikalische Prozesse, im Zuge derer mehr Kohlendioxid im Oberflächenwasser gelöst und über die Strömungen ebenfalls in die Tiefe verfrachtet wird.
Die in Wissenschaft und Klimapolitik am häufigsten oder aber am intensivsten diskutierten Verfahren zur Kohlendioxid-Entnahme werden auf den folgenden Seiten vorgestellt. Im Mittelpunkt stehen dabei: die Funktionsweise der jeweiligen Methode, ihr Kohlendioxid-Entnahmepotenzial und dessen Langlebigkeit, ihr technischer Entwicklungsstand und die Frage, ob sie im großen Maßstab anwendbar wäre, ihre Wirksamkeit im Verhältnis zu den dabei anfallenden Kosten – sofern diese schon bekannt ist –, ihre Vor- und Nachteile für Mensch und Umwelt sowie wichtige soziale, rechtliche und politische Rahmenbedingungen. Textende