Konzepte für eine bessere Welt
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WOR 4 Der nachhaltige Umgang mit unseren Meeren – von der Idee zur Strategie | 2015

Was ist Nachhaltigkeit?

Was ist Nachhaltigkeit? © Massimo Ripani/SIME/Schapowalow

Was ist Nachhaltigkeit?

> Der Begriff „Nachhaltigkeit“ stammt aus der Forstwirtschaft und bedeutete ursprünglich so viel wie: natürliche Ressourcen mit Bedacht zu nutzen, sodass sie langfristig zur Verfügung stehen. Heute allerdings ist der Begriff unscharf, zum einen, weil es verschiedene Nachhaltigkeitstheorien gibt, zum anderen, weil das Wort inflationär verwendet wird. Deshalb diskutieren Wissenschaftler, was mit „Nachhaltigkeit“ eigentlich gemeint ist, und versuchen, konkrete Regeln für nachhaltiges Handeln und Wirtschaften zu entwickeln.

Ein schwieriger Begriff

Der Begriff „Nachhaltigkeit“ ist heute aus keiner öffentlichen Diskussion mehr wegzudenken und wird geradezu inflationär verwendet. Da das Wort „Nachhaltigkeit“ positiv besetzt ist – ähnlich wie „Frieden“, „Gerechtigkeit“ und „Naturschutz“ –, wird es gern in allen möglichen Zusammenhängen benutzt. Die Industrie spricht von „nach­haltiger Produktion“, die Finanzdienstleister von „nachhaltiger Wertentwicklung“. Verbraucher sollen „nachhaltig genießen“, Musikförderung dient der „nachhaltigen Entwicklung von Kindern“ und selbst die Einführung eines Warmbadetages für Senioren wird als „nachhaltig“ beworben. Jeder versteht unter „Nachhaltigkeit“ etwas anderes.
Abb. 1.1: Den Begriff „nachhaltend“ führte der sächsische Oberberghauptmann Hans Carl von Carlowitz 1713 in seinem Werk „Sylvicultura oeconomica“ ein. Darin propagierte er die schonende Waldwirtschaft. © bpk/Staatliche Kunstsammlungen Dresden/Herbert Boswank 1.1 > Den Begriff „nachhaltend“ führte der sächsische Oberberghauptmann Hans Carl von Carlowitz 1713 in seinem Werk „Sylvicultura oeconomica“ ein. Darin propagierte er die schonende Waldwirtschaft.
Der Begriff stiftet mehr Verwirrung als Nutzen. Je nach Definition, Projekt oder Kontext bekommt er eine unterschiedliche Bedeutung. Doch die verwirrende Mehrdeutigkeit verdankt sich nicht nur dem inflationären Gebrauch heute. Es mischen sich in dem Begriff tatsächlich verschiedene Faktoren. Nachhaltigkeit ist nun mal eine komplexe Angelegenheit. Ökonomische Entwicklungsmodelle, die Welternährung, der Natur­schutz, die Armutsbekämpfung oder die Verteilungsgerechtigkeit – alle Aspekte spielen heute in der Nachhaltigkeitsdiskussion eine Rolle. Schaut man allerdings in die Vergangenheit, stellt man fest, dass die einzelnen Themen oftmals unabhängig voneinander betrachtet und getrennt untersucht wurden. Je nach historischer Situation waren bestimmte Fragen von Vorrang. Andere mussten zurücktreten, bis wiederum ihre Zeit gekommen war. Experten bemühen sich heute, nachvollziehbare Theorien und Modelle zu entwickeln, um das Verständnis dafür, was Nachhaltigkeit alles umfasst, zu verbessern. Die Herausforderung für die Zukunft besteht hierbei vor allem darin, die weithin anerkannten Erkenntnisse der Nachhaltigkeitstheoretiker in konkrete gesellschaftliche, politische oder wirtschaftliche Konzepte umzusetzen.

Angst vor Holzknappheit

Der Ausdruck „nachhaltig“ oder „Nachhalt“ stammt aus der deutschen Forst­wirt­schaftslehre des 18. Jahrhunderts. Bereits 1713 veröffentlichte der Ober­berg­haupt­mann Hans Carl von Carlowitz aus Freiberg im damaligen Fürs­tentum Sachsen die forst­wirt­schaftliche Schrift „Sylvicultura oeconomica“, in der erstmals von einer „continuirlich beständigen und nachhaltenden Nutzung“ die Rede war. Als von Carlowitz den Begriff aufbrachte, benötigte man in vielen Gegenden Europas für den Bergbau und die Verhüttung von Erzen große Mengen an Holz. So wurde nach und nach die Umgebung vieler Bergbaustädte entwaldet. Es drohte eine Holzknappheit. Bereits Anfang des 18. Jahrhunderts musste das Holz aus großer Entfernung über die Flüsse herangeschafft werden. Von Carlowitz warnte, dass man ohne Holz „große Noth leiden“ würde. In seiner „Sylvicultura oeconomica“ forderte er, die Wälder zu bewahren. Die Menschen, schrieb er, sollten Holz sparen, Wälder durch Säen und Pflanzen erhalten und nach „Surrogata“ suchen, nach Alternativen zum Holz. Alles in allem solle der Mensch nur so viel Holz entnehmen, wie nachwachsen könne. Ziel eines Waldmanagements war es, nachhaltig – also auf Dauer – einen größtmöglichen Holzertrag zu erzielen, ohne den Wald zu übernutzen. Von Carlowitz stellte damit schon vor 300 Jahren Forderungen, die auch in der aktuellen Nachhaltigkeitsdiskussion eine wichtige Rolle spielen. Allerdings standen ökonomische Erwägungen im Fokus, nicht der Natur- und Waldschutz an sich. Das zeigte sich auch in der Gestaltung der Wälder, wie sie damals als nachhaltig galten: Es handelte sich eher um Monokulturen aus Baumarten, die für die Holzwirtschaft interessant waren, als um naturnahe Wälder. Da der Begriff der Nachhaltigkeit ursprünglich klar und eng umrissen war, ließen sich auch verbindliche Regeln ableiten. So legte man für jede Baumart Hiebsätze fest, Holzmengen, die in einem Waldstück jährlich maximal geschlagen werden durften.

Zu viele Menschen – zu wenig Essen

Nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa beschäftigten sich Gelehrte im 18. Jahrhundert mit der Endlichkeit natürlicher Ressourcen, wobei von Nachhaltigkeit in diesem Zusammenhang – anders als bei von Carlowitz – keine Rede war. Ein wichtiger Aspekt war die Versorgung der wachsenden Bevölkerung mit Lebensmitteln. Heute schätzt man, dass die Bevölkerung in ganz Europa zwischen 1750 und 1850 von 140 Millionen auf 266 Millionen zunahm. Allein in England stieg die Einwohnerzahl im selben Zeitraum von etwa 7 auf 20 Millionen Menschen.
1.2 > Waldbauern im US-Bundesstaat Minnesota Ende des 19. Jahrhunderts. Damals war Holz in den USA ein besonders gefragter Rohstoff. Der Häuserbau in den wachsenden Städten erforderte Unmengen des Rohstoffs.
Abb. 1.2: Waldbauern im US-Bundesstaat Minnesota Ende des 19. Jahrhunderts. Damals war Holz in den USA ein besonders gefragter Rohstoff. Der Häuserbau in den wachsenden Städten erforderte Unmengen des Rohstoffs. © Nixon, Harry F./Minnesota Historical Society
Der britische Ökonom Thomas Robert Malthus warnte, dass die Produktion von Lebensmitteln künftig nicht mit der Bevölkerungszunahme werde Schritt halten können. Verbesserte sich die Lage der Armen, schrieb er, würde dies zu einer weiteren Bevölkerungszunahme führen – und damit zu einem Nahrungsengpass. Am Ende würde sich die Armut insgesamt dadurch eher noch verschlimmern. Eine Lösung schien für Malthus und andere Denker darin zu bestehen, die Bevölkerungszahl konstant zu halten. Einige Gelehrte wie der norddeutsche Jurist Justus Möser hatten bereits einige Jahre zuvor die Blatternimpfung aus bevölkerungspolitischen Gründen abgelehnt. Durch die Impfung, warnte Möser, würde sich die Kindersterblichkeit derart reduzieren, dass „die Welt den Menschenkindern zu enge“ würde. Die düsteren Befürchtungen von Gelehrten wie Malthus und Möser erfüllten sich nicht. Bevor das Bevölkerungswachstum in Europa zu einem Nahrungsmangel größeren Ausmaßes führen konnte, löste ein Naturforscher das Problem: Der deutsche Chemiker Justus Liebig entwickelte Mitte des 19. Jahrhunderts den Kunstdünger. Damit ließ sich die Produktivität der Ackerbauflächen enorm steigern. Wie schon von Carlowitz für die Forstwirtschaft strebte auch Liebig dauerhaft hohe Ernten an. Dabei sollte die Bodenfruchtbarkeit allerdings nicht beeinträchtigt werden.

Abb. 1.3: Bereits 1892 erklärten US-Behörden den waldreichen Adirondack Park im US-Bundes­staat New York zum National­park. Mit einer Fläche von 24 000 Quadrat­kilo­metern ist er fast so groß wie die Insel Sizilien. © Massimo Ripani/SIME/Schapowalow 1.3 > Bereits 1892 erklärten US-Behörden den waldreichen Adirondack Park im US-Bundes­staat New York zum National­park. Mit einer Fläche von 24 000 Quadrat­kilo­metern ist er fast so groß wie die Insel Sizilien.

Naturzerstörung durch die industrielle Revolution

Ein Nahrungsmangel, wie ihn Malthus für die Zukunft prophezeit hatte, trat also dank Liebigs Erfindung nicht ein. Vielmehr drängte sich das Thema Naturzerstörung in das Bewusstsein der Denker und Wissenschaftler, denn im späten 18. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzte sich in Europa die industrielle Revolution durch: die langsame und tief greifende Umgestaltung der Agrar- in eine Indus­trie­gesell­schaft. Der Kohlenbergbau, die Metallverhüttung, die wachsenden Städte, Staudämme, Straßen- und Schienenwege veränderten die Welt radikal. Einer, der die verheerenden Auswirkungen dieses industriellen Wachstums kritisierte, war der US-amerikanische Staatsmann und Gelehrte George Perkins Marsh, der in den 1850er Jahren Europa bereiste und zwischen 1861 und 1882 Botschafter am italienischen Hof in Rom war. An vielen Orten, die er besuchte, be­­obachtete er, wie der Mensch die Natur veränderte und teilweise zerstörte. 1874 veröffentlichte er sein wichtigstes Werk „Man and Nature: The Earth as Modified by Human Action“ (Mensch und Natur: die Welt, wie der Mensch sie verändert), in dem er seine Beobachtungen beschrieb. Marshs Ideal war die dörfliche Gemeinschaft, die die Natur mit Bedacht nutzt und langfristig erhält. Er warnte, dass der Mensch im Begriff sei, „die Erde, die Heimat des Menschen, ihres ehrwürdigsten Bewohners, unbewohnbar zu machen“. Der Mensch müsse die Natur aus einem „aufgeklärten Eigennutz“ heraus schützen – dem „enlightened self-interest“. Marsh betonte aber auch, dass es möglich sei, die natürlichen Ressourcen vernünftig zu nutzen. Der Mensch habe ein Recht, die Güter der Natur zu nutzen, aber keines, sie zu missbrauchen.
Abb. 1.4: Der US-amerikanische Gelehrte George Perkins Marsh gilt als einer der Urväter der Umweltbewegung. Mitte des 19. Jahrhunderts erlebte er auf einer Reise durch Europa, wie Natur zerstört wurde. Seine drastischen Schilderungen dieses Raubbaus trugen dazu bei, dass in den USA die nachhaltige Waldwirtschaft eingeführt wurde. © Library of Congress, Prints and Photographs Division, Washington, D.C./Reproduction Number: LC-DIG-cwpbh-02223 1.4 > Der US-amerikanische Gelehrte George Perkins Marsh gilt als einer der Urväter der Umweltbewegung. Mitte des 19. Jahrhunderts erlebte er auf einer Reise durch Europa, wie Natur zerstört wurde. Seine drastischen Schilderungen dieses Raubbaus trugen dazu bei, dass in den USA die nachhaltige Waldwirtschaft eingeführt wurde.
Marshs Thesen und seine drastischen Schilderungen von der Naturzerstörung in Europa zeigten vor allem in seiner Heimat Wirkung, den USA. Um eine Entwaldung europäischen Ausmaßes zu verhindern, wurde der Entschluss gefasst, Wälder zu bewahren. Zunächst schützte man nur einzelne Gebiete. So wurde beispielsweise im Jahr 1892, 10 Jahre nach Marshs Tod, der waldreiche Adirondack Park im US-Bundesstaat New York gegründet. Dieser heute größte Nationalpark der USA ist mit einer Fläche von 24000 Quadratkilometern fast so groß wie die Insel Sizilien. Anfang des 20. Jahrhunderts schließlich gingen die Behörden dazu über, den Wald im ganzen Land vor Raubbau zu bewahren. So wurde 1905 die Forstverwaltung der Vereinigten Staaten gegründet, eine Waldbehörde, deren erster Vorsitzender Gifford Pinchot war. Pinchot, ein Forstwissenschaftler und Politiker, war von den Lehren Marshs inspiriert und etablierte in den USA die nachhaltige Waldnutzung, wie sie knapp 200 Jahre zuvor bereits durch von Carlowitz propagiert worden war.

Wohlstand statt Nachhaltigkeit?

Abgesehen von einigen wenigen positiven Beispielen konnte sich die Idee von der schonenden Nutzung der Natur aber weiterhin nicht durchsetzen. Nicht zuletzt führten die entbehrungsreichen Zeiten der Weltkriege dazu, dass die Politik in den westlichen Industrienationen Mitte des 20. Jahrhunderts vor allem ein Ziel verfolgte: Wohlstand für alle schaffen und durch ständiges Wirtschaftswachstum absolute Armut über­win­den und Klassen­gegen­sätze abmildern. Der Dualismus von Wirtschaftswachstum und Nachhaltigkeit war damit vor­pro­grammiert. Anfang der 1960er Jahre begann es jedoch, zunehmend Kritik an dieser Wachstums- und Fortschritts­gläubigkeit zu geben. Die Schäden, die das ungehemmte Wirtschafts­wachstum verursachte, nahmen immer größere Ausmaße an. Böden und Flüsse wurden vergiftet. In vielen Ballungszentren bildete sich Smog aus den Abgasen von Autos, Fabriken und Kraftwerken. Vor allem Kinder litten an Atem­wegs­er­krankungen. Schwefel­dioxidemis­sionen aus Kraftwerken und Auto­motoren führten zur Entstehung von „saurem Regen“, der Bäume und ganze Waldgebiete absterben ließ. Umwelt­schützer sprachen vom „Waldsterben“. In den 1970er Jahren begann dann die Renaissance des Begriffs „Nachhaltigkeit“. Der wurde nun weiter gefasst als früher. Befürworter der Nachhaltigkeit kritisierten die etablierten ökonomischen Modelle, die die Notwendigkeit eines fortwährenden Wirt­schafts­wachstums propagierten. 1972 veröffentlichte der Club of Rome seine viel beachtete Studie „Die Grenzen des Wachstums“, in der erstmals von einem „nach­halt­igen Weltsys­tem“ die Rede war. Der Club of Rome warnte in seinem Bericht vor den Folgen des Raubbaus. Er entwickelte eine Theorie, die besagte, dass auf jede Phase eines starken Wirtschaftswachstums unweigerlich ein großer Zusammenbruch des Systems folgen würde. Rohstoffknappheit und Umweltverschmutzung würden zu schweren Krisen und noch vor dem Jahr 2100 zum Rückfall in einfache Lebensverhältnisse führen.
1.5 > Essen führte 1966 als erste deutsche Stadt Fahrverbote ein, um die Belastung durch Smog zu verringern. Doch erst mit der Einrichtung von Abgasfiltern in Kraftwerken und Industrie­anlagen in den 1980er Jahren besserte sich die Luftqualität merklich.
Abb. 1.5: Essen führte 1966 als erste deutsche Stadt Fahrverbote ein, um die Belastung durch Smog zu verringern. Doch erst mit der Einrichtung von Abgasfiltern in Kraftwerken und Industrie­anlagen in den 1980er Jahren besserte sich die Luftqualität merklich. © ap/dpa/picture alliance/Süddeutsche Zeitung Photo
Club of Rome Der Club of Rome ist eine inter­nat­ionale Nicht­regie­rungs­organisation und Experten­runde, die von führenden Industriellen, Ingenieuren, Wirt­schafts­experten und Geistes­wissen­schaft­lern 1968 gegründet wurde, um die nega­tiven Konse­quenzen des Wirt­schafts­wachs­tums zu analysieren und Lösungen zu erarbeiten.
Gegner dieser düsteren Zukunftsvision führen bis heute immer wieder an, dass sich die nicht erneuerbaren Rohstoffe nicht verknappt hätten, weil immer wieder neue Rohstoffvorkommen entdeckt und erschlossen worden seien. Andererseits warnen viele Experten heute vor Versorgungsengpässen bei bestimmten Metallen, die nur in geringen Mengen vorhanden seien oder auf die einzelne Staaten ein Monopol hätten. Zudem würden durch den Rohstoffabbau weiterhin Naturgebiete zerstört. Ihnen zufolge sind die Mahnungen des Club of Rome durchaus berechtigt. Die Annahme des Club of Rome, dass die Umweltverschmutzung mit dem Wirtschafts­wachstum grundsätzlich immer größere Ausmaße annehmen würde, hielten manche Kritiker zwischenzeitlich für widerlegt. Vielmehr nahmen einige Ökonomen sogar an, dass mit steigendem Wohlstand verstärkt in Umweltschutz investiert werden würde. In vielen europäischen Staaten, aber auch in anderen Industrienationen auf der Welt gelang es in der Tat, durch technische Maßnahmen wie Kläranlagen, aber auch Filter in Kraftwerken und Autos die Umweltverschmutzung deutlich zu verringern – obgleich sich das Wirtschaftswachstum fortsetzte. Angesichts der massiven Umwelt­ver­schmutz­ungen und -zerstörungen in Schwellenländern wie Brasilien, China und Indien gewinnen die Mahnungen des Club of Rome heute aber wieder an Bedeutung. Vor allem im heutigen China sieht man geradezu exemplarisch, welche Umweltschäden und ökologischen Kosten das ungebremste Wirt­schafts­wachstum mit sich bringt. Die Debatte zwischen Wachs­tums­kritikern und -befürwortern hält bis heute an.

Gleiches Recht für alle?

Auch die „Unterentwicklung“ der sogenannten Dritten Welt wurde seit den 1960er Jahren intensiv diskutiert. Auf der einen Seite gab es Ökonomen, die das wirtschaftliche Wachstums- und Wirtschaftsmodell der Industrie­nationen als nachahmenswertes Vorbild betrachteten. Demnach sollten sich die Volkswirtschaften der Dritte-Welt-Staaten möglichst schnell dem Entwicklungs­stand der Indus­trieländer durch „nachholende“ Industrialisierung und Modernisierung angleichen. Dabei sollten sie durch Entwicklungshilfe unterstützt werden. Als Vorbild diente die Aufbauhilfe im Westeuropa der Nachkriegszeit, die nach dem US-amerikanischen Marshallplan organisiert worden war. Doch diese Politik war nicht überall erfolgreich. Zudem war sie kein Garant für eine umfassende Entwicklung oder dafür, dass die gesamte Bevölkerung eines Landes am Wohlstand beteiligt wurde. Daher wurden neben diesen eher kapitalistisch-westlichen Modellen auch alternative Entwicklungs­modelle entworfen. Diese zielten stärker auf mehr Eigenverantwortung der Entwicklungsländer und eine sozialistisch orientierte Politik der Umverteilung von oben nach unten, etwa durch Land­reformen. Die Entwicklung sollte nicht primär einen höheren Warenkonsum zum Ziel haben, sondern sich an Aspekten wie Bildung, Gesundheit oder der Teilhabe der Bevölkerung an politischen Entscheidungsprozessen orientieren. Ein Meilenstein war der Ecodevelopment-Ansatz der Dag Hammarskjöld Foundation in den 1970er Jahren. Diese Stiftung wurde nach dem schwedischen Diplomaten und UN-Generalsekretär Dag Hammarskjöld benannt, der 1961 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen war. Die Stiftung hat ihren Sitz in der schwedischen Stadt Uppsala und veranstaltet bis heute internationale Tagungen und Seminare, in denen Experten über politische Aspekte wie Sicherheit, Demokratie oder Entwicklung beraten. Damals legte die Dag Hammarskjöld Foundation Leitlinien zur Zukunft der Entwicklungsländer vor, die folgende Aspekte enthielten:
  • Befriedigung der Grundbedürfnisse weitgehend mithilfe eigener Ressourcen;
  • keine Kopie des westlichen Lebens- und Konsumstils;
  • Erhalt der Umwelt;
  • Respekt vor kultureller Andersartigkeit und vor lokalen Traditionen;
  • Solidarität mit zukünftigen Generationen;
  • Einsatz von Technologien, die an die Bedingungen vor Ort angepasst sind;
  • Teilhabe aller Bevölkerungsgruppen und insbesondere der Frauen an gesellschaftlichen und politischen Entscheidungen;
  • Familienplanung;
  • teilweise Abkopplung vom Weltmarkt und Entwicklung lokaler Märkte;
  • Orientierung an religiösen und kulturellen Traditionen;
  • kein Beitritt zu den militärischen Machtblöcken der NATO (North Atlantic Treaty Organization, Organisation des Nordatlantikvertrags) und des Warschauer Paktes.
Diese Leitlinien umfassen bereits wesentliche Elemente der heutigen Nachhaltigkeitsdebatte.

Weit mehr als Waldwirtschaft und Umweltschutz

Ging es bei der Nachhaltigkeit anfangs allein um die Waldwirtschaft, kamen später die Aspekte Bevölkerungswachstum, Ernährung und Umweltschutz hinzu. Seit den 1970er Jahren rückten immer stärker gesellschaftliche Aspekte in den Fokus der Nach­haltig­keits­diskussion – etwa die ­Frage, wie verschiedene Interessengruppen an gesellschaftlichen und politischen Entscheidungen teilhaben können oder inwieweit der Mensch für das Wohl künftiger Generationen verantwortlich ist. Vor diesem Hintergrund setzten die Vereinten Nationen (United Nations, UN) 1980 die World Commission on Environment and De­velopment (WCED, Weltkommission für Umwelt und Entwicklung) ein. Sie sollte Wege finden, um zugleich mehrere große Ziele zu erreichen, nämlich:
  • die Armut in den Entwicklungsländern zu bekämpfen;
  • die Entwicklungsländer bei einer an ihren Traditionen orientierten Entwicklung zu unterstützen;
  • die ökologischen Herausforderungen zu meistern;
  • den Gegensatz von westlicher Marktwirtschaft und Staatssozialismus auszugleichen.
1987 legte die Kommission ihren Bericht vor, der nach der Vorsitzenden der Kommission, der damaligen norwegischen Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtland, auch als „Brundtland-Bericht“ bezeichnet wird. Ihm liegt die Idee zugrunde, dass die Befriedigung der menschlichen Grundbedürfnisse (basic needs) Vorrang vor allen übrigen Zielen habe sollte. Dieser „basic needs“-Ansatz ging auch in die Nachhaltigkeitsdefinition des WCED-Berichts ein. Darin heißt es: „Nachhaltige Entwicklung ist eine Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können.“ Keine Nachhaltigkeitsdefinition wurde und wird so häufig zitiert wie diese. In dieser Formulierung ist die wichtige Forderung enthalten, dass die Menschen ihre Bedürfnisse innerhalb der Tragfähigkeit der natürlichen Umwelt erfüllen sollten. Die Kommission wählte die Formulierung „sustain­able development“ (nachhaltige Entwicklung) nicht zuletzt, um die verschiedenen und teilweise miteinander konkurrierenden Ziele Umweltschutz, Armutsbekämpfung und Wirtschaftswachstum miteinander verknüpfen zu können. Sie versuchte mit dieser Definition, die verschiedenen Vorstellungen davon, wie sich die Entwicklungsländer künftig entwickeln könnten, teilweise zu integrieren. Die Formulierung „sustainable development“ sollte helfen,
  • die Idee der Eigenverantwortung der Entwicklungsländer zu berücksichtigen, ohne sozialistischen Idealen allzu nahe zu rücken;
  • auf die ökologischen Grenzen des Wachstums hinzuweisen;
  • das alte UN-Ziel der Bekämpfung von Armut nicht aus den Augen zu verlieren;
  • westliche Lebensstile nicht grundlegend infrage zu stellen;
  • die Herausforderung des Bevölkerungswachstums anzusprechen.
Alles in allem wollte die Kommission den kleinsten gemeinsamen Nenner der Nachhaltigkeit definieren, den alle ihre Mitglieder akzeptieren konnten. Das Ergebnis war eine Kompromissformel. Ein weiteres Ziel des WCED-Berichts war, das Thema Nachhaltigkeit in die Öffentlichkeit zu tragen. Das ist gelungen. Der Bericht hat geradezu katalysatorisch die neue Debatte um die Bedeutung von Nachhaltigkeit angestoßen. Konkrete Handlungsanweisungen für die Politik lieferte der Bericht aber nicht. Das Problem des Begriffs „sustainable development“ und des gesamten WCED-Berichts ist, dass die darin als Kompromisslösung formulierte Definition von verschiedenen Interessengruppen, von Politikern oder der Industrie völlig unterschiedlich ausgelegt werden kann. Daher enthält der WCED-Bericht keine systematische Konzeption von Nachhaltigkeit. Das ist ein wesentlicher Grund dafür, dass der Nachhaltigkeitsbegriff bis heute im politischen Diskurs so unscharf geblieben ist. Nach der Veröffentlichung des WCED-Berichts setzte sich in vielen Ländern die Vorstellung durch, dass sich Nachhaltigkeit erreichen lässt, wenn man die von der WCED formulierten Ziele – Armutsbekämpfung, gerechtes Wirtschaftswachstum und Umweltschutz – gleichermaßen anstrebt. Theoretiker formulierten daraus das sogenannte Drei-Säulen-Modell. Nach diesem Modell wird Nachhaltigkeit von den drei Säulen Ökologie, Ökonomie und Soziales getragen, die gleichberechtigt nebeneinander stehen. Allerdings wird keine Aussage darüber getroffen, ob diese Gleichrangigkeit jetzt schon besteht oder erst noch erreicht werden muss. Kritiker werfen zudem ein, dass der Nachhaltigkeitsbegriff eine normative Dimension beinhalte. Demnach ist Nachhaltigkeit mehr als ein philosophisch-theoretisches Modell. Vielmehr müssten aus der Theorie am Ende klare Handlungsanweisungen abgeleitet und Maßnahmen umgesetzt werden.

Zusatzinfo Das klassische und das erweiterte Drei-Säulen-Modell

Verantwortung für die Nachwelt

Ressourcen langfristig mit Bedacht zu nutzen, damit diese auch in Zukunft zur Verfügung stehen, das ist eine zentrale Idee der Nachhaltigkeit. Somit ist sie sehr eng mit der Zukunftsverantwortung der heute lebenden Generationen verknüpft. Wie weit diese Verantwortung reicht, war und ist umstritten. In den 1970er Jahren vertraten einige Wissenschaftler die Auffassung, dass die heute lebende Generation keinerlei Verantwortung für die Nachgeborenen trage. Das Argument lautete: Ungeborene Personen exis­tieren nicht, sind daher keine Rechtsträger und können somit keine Rechte gleich welcher Art haben. Demnach haben die Lebenden den Ungeborenen gegenüber keine Pflichten. Diese extreme Perspektive wird heute allerdings kaum noch vertreten. Kritiker führen ins Feld, dass allein die Tatsache ausreiche, dass zukünftige Personen Rechte haben werden, um daraus Verpflichtungen für die heute lebenden Menschen abzuleiten. Diese Verpflichtungen würden sich nicht auf einzelne ungeborene Individuen beziehen, sondern allgemein auf in der Zukunft lebende Generationen von Menschen. Intergenerationelle Verteilungsgerechtigkeit ist demnach ein wesentlicher Bestandteil einer nachhaltigen Entwicklung. Strittig ist allerdings, was oder wie viel die heutige Menschheit der Nachwelt hinterlassen soll.

Auf der Suche nach dem gerechten Standard

Auf die Frage, welche Verpflichtungen heute lebende Menschen gegenüber kommenden Generationen haben, gibt es verschiedene Antworten – je nachdem, welchen Standard man zugrunde legt. So unterscheiden Wissenschaftler beispielsweise den komparativen beziehungsweise. vergleichenden Standard und den absoluten Standard. Nach dem Konzept des komparativen Standards soll es den Menschen nachfolgender Generationen alles in allem nicht schlechter gehen als den heute lebenden Menschen. Allerdings stellt sich die Frage, mit welchem Standard verglichen werden soll – dem Standard der Menschen in den Industrienationen oder dem von Menschen in Entwicklungsländern. Auch in den Industrienationen und den Schwellenländern selbst gibt es erhebliche Unterschiede im Lebensstandard der Menschen. Die Definition eines einzigen globalen komparativen Standards ist also schwierig, da jede Vergleichsbasis willkürlich anmutet. Der absolute Standard hingegen legt Mindestanforderungen fest, die grundsätzlich zu einem menschenwürdigen Leben gehören. Dieser absolute Standard soll für alle Menschen gleichermaßen gelten. Das schließt die Nachgeborenen mit ein. Allerdings ist ein absoluter Standard, mit dem lediglich die Grundbedürfnisse erfüllt werden, ein eher niedriger Standard. In der Realität existiert heute noch kein plausibler absoluter Standard für alle. Immerhin leben weltweit noch immer Millionen von Menschen unter harten Bedingungen. Ihnen fehlt es an Nahrung, sauberem Trinkwasser oder der Möglichkeit, sich zu bilden. Diese Einsicht kann dazu führen, dass die Bekämpfung der Armut durch wirtschaftliches Wachstum in den Schwellen- und Entwicklungsländern als wichtiger erachtet wird als der von der Nachhaltigkeitspolitik geforderte langfristige Schutz natürlicher Ressourcen.
1.7 > Ein Slum in Dhaka, der Hauptstadt von Bangladesch. Auf der Welt leben Millionen von Menschen ohne sauberes Wasser, sanitäre Einrichtungen oder die Chance auf Bildung.
Abb. 1.7: Ein Slum in Dhaka, der Hauptstadt von Bangladesch. Auf der Welt leben Millionen von Menschen ohne sauberes Wasser, sanitäre Einrichtungen oder die Chance auf Bildung © Andrew Biraj
Heute herrscht unter Nachhaltigkeitstheoretikern die Meinung vor, dass weder der komparative noch der absolute Standard allein eine Richtschnur für Nach­haltig­keits­konzepte sein könne, denn in der Realität seien die Lebens­be­ding­ungen in der Welt momentan zu unterschiedlich. Auch könne man nicht davon ausgehen, dass es mittelfristig gelingen werde, die Lebensstandards in armen Entwicklungsländern wie etwa Bangladesch auf das Niveau reicher Industrienationen wie beispielsweise der Schweiz zu bringen. Pragmatischer sei es deshalb, so die Experten, regional unterschiedliche Standards zu definieren. So sei es sinnvoll, einerseits einen guten absoluten Standard für Entwicklungs- und Schwellenländer anzustreben. Für die stärker entwickelten Regionen hingegen seien darüber hinaus verschiedene komparative Standards praktikabel, die sich von Land zu Land oder Region zu Region unterscheiden. Das bedeutet keineswegs, dass die jeweiligen Lebens­umstände immer so bleiben sollen, wie sie sind. Moderne Nachhaltigkeitskonzepte streben nach wie vor an, die absolute und extreme Armut zu reduzieren sowie die extremen Unterschiede zwischen armen und reichen Menschen. Diese beiden Ziele sind zu unterscheiden. Denn wie das Beispiel China zeigt, ist es möglich, dass die Armut in einem Land allgemein abnimmt, es aber dennoch große Unterschiede im Einkommen und Vermögen gibt. So schrumpft heute in China die Armut in den ländlichen Regionen, zugleich bildet sich in den Metropolen eine wohlhabende Mittelschicht heraus, deren Einkommen deutlich über dem der ländlichen Bevölkerung liegt. Nachhaltigkeitstheoretiker befürworten vor allem, die absolute Armut zu verringern. Das sei vorrangiges Ziel. Zwar gebe es eine Verantwortung für die Zukunft, doch vor allem auch eine für die Gegenwart. Sich auf die Zukunft zu konzentrieren und zugleich heutiges Elend zu ignorieren sei die falsche Prioritätensetzung. Inwieweit es aber überhaupt ökonomische Ungleichheit geben darf, darüber sind die Theoretiker bislang uneins.

Das große Ziel: lebenswertes Leben

Auf die Frage, was zu einem menschenwürdigen Leben gehört, wurde seit den 1980er Jahren der „basic needs“-Ansatz genannt. Er umfasst allerdings nur die für das Über­leben absolut notwendigen Dinge, insbesondere Nahrung, Kleidung und Unter­kunft. Weitaus anspruchsvoller ist der Fähigkeitenansatz, der vor rund 10 Jahren von der US-amerikanischen Philosophin Martha Nussbaum entwickelt wurde. Dieser enthält eine Liste von Fähigkeiten, die es einem jeden Menschen ermöglichen soll, ein Leben nach den eigenen Vorstellungen zu führen. Diese Liste bezieht sich sowohl auf die heute lebenden Menschen als auch auf künftige Generationen. Demnach soll jeder Mensch fähig sein,
  1. sein Leben bis zum natürlichen Ende leben zu können und nicht vorzeitig sterben zu müssen;
  2. sich gut ernähren, wohnen, gesund halten und frei seine Sexualität ausüben zu können;
  3. frei von unnötigem Schmerz und Leid leben zu können;
  4. frei fantasieren, denken und schlussfolgern sowie eine Religion ausüben zu können;
  5. Bindungen zu Dingen und Personen unterhalten und zwischenmenschliche Werte wie Liebe, Fürsorge, Dankbarkeit, aber auch Sehnsucht und Trauer erleben und pflegen zu können;
  6. ein nach seiner Auffassung gutes Leben führen und planen zu können;
  7. sozial interagieren zu können, Anerkennung, Gemeinschaft, Freundschaft und ein Berufsleben erfahren zu können;
  8. in einer guten Beziehung zu Tieren, Pflanzen und zur Natur leben zu können;
  9. lachen, sich erholen und genießen zu können;
  10. sich politisch engagieren, einen Beruf frei und unter fairen Arbeits­bedin­gungen ausüben und Eigentum erwerben zu können.
Diese Liste enthält Aspekte, die weit über die Definition eines absoluten materiellen Lebensstandards hinausgehen. Sie umfasst vielmehr all jene Fähigkeiten, die universell Lebensqualität und Menschenwürde ausmachen. Natürlich ist der Fähigkeitenansatz zunächst ein gerechtigkeitstheoretisches Modell, das von Philosophen entwickelt wurde. Letztlich liegt es in der Verantwortung der Staaten, dafür zu sorgen, dass die Bürger alle Fähig­keiten ausbilden und ausüben können. Angesichts der Lebens­verhältnisse in den Entwicklungs­ländern erscheint dieser Standard jedoch noch längst nicht für alle Menschen erfüllt zu sein. Dies spricht aber nicht gegen den Fähigkeiten­ansatz, sondern vielmehr gegen die politischen und wirtschaft­lichen Verhältnisse. Eine Stärke des Ansatzes liegt darin, dass er eine Aufzählung von Aspekten enthält, die auf alle Kulturkreise übertragbar sind. Der Fähigkeitenansatz wird inzwischen in vielen UN-Dokumenten berücksichtigt. Er hat sich damit als wichtige Grundlage für den politischen Diskurs um die Zukunftsverantwortung der heute Lebenden etabliert.
Abb. 1.8: Ein Weinberg in Radebeul bei Dresden. Ökonomen zählen Weinberge zum kultivierten Naturkapital. © Daniel Hohlfeld/fotolia.com 1.8 > Ein Weinberg in Radebeul bei Dresden. Ökonomen zählen Weinberge zum kultivierten Naturkapital.
Folgt man dem Fähigkeitenansatz, stellt sich die Frage, welche Dinge heute lebende Menschen künftigen Generationen hinterlassen sollten, damit auch in Zukunft Menschen die 10 Fähigkeiten erlangen und ein erfülltes Leben führen können. Experten sprechen von einem „fair bequest package“ – einer fairen Hinterlassenschaft. Für eine gute Bildung braucht man Bibliotheken, für den Transport von Gütern Straßen, für die Nahrungsproduktion fruchtbare Äcker, für reine Luft Wälder. Zum „fair bequest package“ zählen darüber hinaus Naturlandschaften. Sie sind auch deshalb von Bedeutung, weil der Mensch erst dann eine Fähigkeit zum Naturgenuss ausbilden kann, wenn er diese Landschaften selbst erlebt. Diese Fähigkeit ist für das menschliche Leben keinesfalls ein Luxus, sondern zählt zu den Grundvorstellungen eines guten Lebens. Fähigkeiten wie die Fähigkeit zum Naturgenuss mögen abstrakt erscheinen. Doch sie sind alle mit einem konkreten Gut verknüpft. Die Fähigkeit, sich zu erholen, setzt beispielsweise voraus, dass es Wälder gibt, die man durchwandern kann, Strände, an denen man baden kann, oder städtische Grünanlagen, in denen man sich entspannen kann. Ökonomen nennen solche Güter Kapitalien und unterscheiden mehrere Arten davon:
  1. Sachkapital (Maschinen, Fabriken, Infrastruktur);
  2. Naturkapital (Wälder, Meere, Flüsse, Küsten);
  3. kultiviertes Naturkapital (Forste, Herden, Weinberge, landwirtschaftliche Nutzflächen, Aquakulturen);
  4. Sozialkapital (politische Institutionen, gesellschaftlicher Zusammenhalt, Quellen sozialer Solidarität);
  5. Humankapital (Fertigkeiten, Bildung);
  6. Wissenskapital (Bibliotheken, Hochschulen).
In der Nachhaltigkeitsdiskussion spielen vor allem die Naturkapitalien eine wichtige Rolle, die folgendermaßen spezifiziert werden:
  • erneuerbare beziehungsweise sich selbst erneuernde Ressourcen (zum Beispiel Pflanzen und Tiere) sowie nicht erneuerbare Ressourcen (zum Beispiel Erze, Erdöl);
  • ursprüngliches Naturkapital (unregulierte Flüsse, ­Primärwälder) und kultiviertes, durch menschliche Tätigkeit überformtes Naturkapital;
  • Quellen (zum Beispiel Mineralien aus dem Gebirge) und Senken (zum Beispiel das Meer als Auffang­becken für Kohlendioxid) sowie Bestände (zum ­Beispiel Tierbestände).
Heute betonen Nachhaltigkeitstheoretiker verstärkt, dass Naturkapitalien nicht nur materielle Werte, sondern auch immaterielle Werte beinhalten, etwa die Erholungswirkung von Stränden und Wäldern. Die Theoretiker sprechen von der Wohlfahrtswirkung der Naturkapitalien und betonen, dass mit deren Zerstörung entsprechende Werte verloren gingen.

Schwache versus starke Nachhaltigkeit

In welchem Maß bestimmte Kapitalien, insbesondere Naturkapitalien, für die Nachwelt erhalten bleiben sollten, darüber wurde lange kontrovers diskutiert. In der Debatte stehen sich seit den 1970er Jahren die beiden folgenden Konzepte gegenüber: das Konzept der schwachen Nachhaltigkeit und das Konzept der starken Nachhaltigkeit. Nach dem Konzept der schwachen Nachhaltigkeit sollten die Kapitalbestände einer Gesellschaft lediglich in der Summe konstant gehalten werden. Demnach ist es möglich, verbrauchte Kapitalien durch andere zu ersetzen. Naturkapital kann daher prinzipiell unbegrenzt durch Sach- und Humankapital ersetzt werden. Nach dem Konzept der schwachen Nachhaltigkeit sind diese Substitu­tionsprozesse nahezu unbeschränkt zulässig. Selbst zerstörte Naturkapitalien, beispielsweise Flüsse, die aufgrund von Verschmutzung biologisch tot sind, lassen sich nach dem Konzept der schwachen Nachhaltigkeit ersetzen. Die Erholungsfunktion Flussbaden beispielsweise lässt sich entsprechend durch den Bau von Frei- oder Hallenbädern substituieren; Trinkwasser nicht nur aus Grundwasser, sondern alternativ aus entsalztem Meerwasser gewinnen; die Ästhetik natürlicher Landschaften durch künstliche, virtuelle Welten ersetzen. Dem Konzept der schwachen Nachhaltigkeit zufolge kommt es nur darauf an, dass der Mensch seinen Bedarf in der Summe befriedigt – ganz gleich, mit welcher Art von Kapital. Vor allem in den 1970er Jahren, einer Zeit großer Umweltzerstörung, glaubten viele Ökonomen an die Idee der schwachen Nachhaltigkeit. Zwar betonen manche der Befürworter, dass kritische Naturkapitalbestände – also Bestände, die nur schwer substituierbar sind – durchaus erhaltenswert seien. Allerdings ist oftmals umstritten, wann ein Naturkapital überhaupt als kritisch eingestuft werden soll.
1.9 > Das Goldene Horn, einer der beliebtesten Strände Kroatiens. Nicht nur die Adria, sondern jedes Meer der Welt hat so viele verschiedene Funktionen, dass es nicht in vollem Umfang substituierbar ist. Von Bedeutung ist beispielsweise die Erholungsfunktion.
Abb. 1.9: Das Goldene Horn, einer der beliebtesten Strände Kroatiens. Nicht nur die Adria, sondern jedes Meer der Welt hat so viele verschiedene Funktionen, dass es nicht in vollem Umfang substituierbar ist. Von Bedeutung ist beispielsweise die Erholungsfunktion. © mauritius images/Henryk Tomasz Kaiser

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Mehr Umweltschutz dank starker Nachhaltigkeit

Während manche Ökonomen heute noch immer am Konzept der schwachen Nach­haltig­keit festhalten, betrachten es Vertreter anderer Wissenschaften als gescheitert. Das liegt daran, dass man heute davon ausgeht, dass nicht jedes Naturkapital ohne Weiteres substituierbar ist. Betrachtet man, welches Ausmaß und welche Konse­quenzen die Zerstörung von Naturkapital heute haben, werden die Grenzen der Substituierbarkeit sehr viel ­deutlicher als in ökonomischen Modellen. Das gilt insbe­sondere für multifunktionale Naturkapitalien, also solche Kapitalien, die mehrere Funktionen erfüllen. Meere zum Beispiel liefern Nahrung, sind Einkom­mens­quelle für Fischer oder Aquakulturen und Erholungsgebiet für Millionen von Touristen. Den multifunktionalen Lebensraum Meer komplett zu ersetzen ist unmöglich – und damit die Idee der Substituierbarkeit obsolet. Ähnliches gilt für Wälder mit ihren vielen Funktionen. Seit einigen Jahren setzt sich deshalb langsam das Konzept der starken Nach­haltig­keit in der Nachhaltig­keitstheorie durch. Auch in der Politik findet es zunehmend Verbreitung. Starke Nachhaltigkeit hat das Ziel, das Naturkapital zu erhalten, unabhängig davon, ob und inwieweit es substituierbar ist oder wie sich andere Kapitalbestände wie etwa das Sachkapital (zum Beispiel in Form von Industrie- und Konsumgütern) entwickeln mögen. Im Sinne der starken Nachhaltigkeit ist Naturkapital wegen seiner vielen verschiedenen Funktionen zu erhalten – nicht nur seiner materiellen, sondern beispielsweise auch seiner kulturellen Werte wegen. So stellt sich nicht nur die Frage, ob Naturkapital substituiert werden kann, sondern insbesondere, ob die Menschheit jetzt und in Zukunft überhaupt eine fortwährende Substitution wünscht. Die heute lebende Genera­tion kann nicht einschätzen, welche Bedürfnisse und kulturellen Wertvorstellungen die künftigen Generationen haben werden und ob die Nachgeborenen mit unseren heutigen Substitutionen einverstanden sind. Eine Substitution von Naturkapital, also letztlich der Verlust natürlicher Lebens­räume und der Wegfall an Artenvielfalt, ist unumkehrbar und kaum zu recht­fer­tigen. Wird Naturkapital heute verbraucht, steht es den Nachgeborenen nicht mehr als Option zur Verfügung. Kommende Generationen haben damit nicht mehr die Wahl zwischen Naturkapital und Substitut, sondern müssen mit dem Substitut leben. Da nach dem Konzept starker Nachhaltigkeit das heutige Naturkapital konstant gehalten werden soll, bedeutet das, dass die Zerstörung von natürlichen Lebens­räumen und die Degradierung ökologischer Systeme gestoppt werden müssen.
Moderne Nachhaltigkeitskonzepte versuchen, wirtschaftliche Nutzung von Natur­kapi­talien und deren Schutz in Einklang zu bringen. Um dies zu ermöglichen, sind allerdings einige Regeln nötig. Ein Beispiel ist die sogenannte Constant Natural Capital Rule (CNCR), die die Menschen verpflichtet, Naturkapital in der Summe zu erhalten. Dabei geht es keineswegs um eine Art von musealem Naturschutz, der es gänzlich verbietet, naturnahe Bereiche zu verändern. Vielmehr hat die CNCR das Ziel, Naturkapitalien bewusst zu nutzen und vor allem verbrauchte Naturkapitalien durch gleichwertige Natur­kapitalien zu substituieren. Es ist wichtig zu betonen, dass es gemäß CNCR nicht nur einen einzigen Weg gibt, Naturkapitalien zu ersetzen. Starke Nachhaltigkeit zwingt politischen Entscheidern also keinen Idealweg auf, von dem sie nicht abweichen dürfen. Vielmehr fordert die CNCR, kreativ nach guten Lösungen für eine Substitution von Naturkapital zu suchen. So lässt sich ein abgeschlagener Baum möglicherweise durch einen neuen Baum einer anderen Art ersetzen. Es ist sogar denkbar, ein bestimmtes Waldbiotop durch ein anderes zu substituieren. So könnten in manchen Fällen naturnah bewirtschaftete Forste viele Funk­tionen zerstörter Urwälder erfüllen. Es kann auch sinn­­voll sein, Naturkapital beispielsweise in Form von Plantagen aufzubauen, wenn dadurch andernorts Urwälder geschützt werden. Die CNCR stellt daher eine moderne, flexible und praktikable Regel der starken Nach­haltig­keit dar, mit der sich Nutzungskonflikte lösen lassen. Der große Unterschied zur schwachen Nachhaltigkeit besteht darin, dass gemäß CNCR verbrauchtes Natur­kapital durch gleichwertiges Natur­kapital ersetzt werden muss. Eine Substitution durch Sachkapital oder ausschließlich technische Lösungen, wie bei der Substitution von sauberem Flusswasser durch Wasser aus Meerwasserentsalzungsanlagen, lässt die CNCR nicht zu. Textende