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WOR 1 Mit den Meeren leben - ein Bericht über den Zustand der Weltmeere | 2010

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> Mit diesem ersten „World Ocean Review“ veröffentlichen wir einen Statusbericht zum Zustand der Meere, dem künftig in regelmäßigen Abständen eine Aktualisierung folgen wird. Wir wollen damit zeigen, wie stark der Mensch in den Lebensraum Ozean eingreift – auch durch den Klimawandel. Manches davon haben wir verstanden, gleichzeitig sind viele Fragen noch offen. Sicher aber ist, dass der Mensch sein Verhalten dringend ändern muss mit dem Ziel, einen nachhaltigen Umgang mit der Umwelt und besonders den Ozeanen zu erreichen.

Mit den Meeren leben.

Der Winter 2010 war weltweit der wärmste seit 131 Jahren. Der globale Klimawandel bewirkt ein langsames Ansteigen der Durchschnittstemperatur der Erde. In den kommenden Jahren wird sich das Abschmelzen der Gletschermassen wahrscheinlich beschleunigen. Der Meeresspiegel wird schneller steigen. Nach aktuellen Berechnungen dürften es allein in diesem Jahrhundert zwischen 80 und im ungünstigsten Fall 180 Zentimeter Anstieg sein. Der riesige Wasserkörper des Ozeans wirkt wie ein Puffer, er speichert einen beträchtlichen Teil des Kohlendioxids und der Wärme aus der Atmosphäre. Klimaveränderungen werden daher nur langsam spürbar. Experten gehen davon aus, dass bei einem ungebremsten Ausstoß der Klimagase der Meeresspiegel bis zum Jahr 2300 um bis zu 5 Meter steigen könnte. Rund 75 Prozent der Megastädte mit jeweils mehr als 10 Millionen Einwohnern liegen am Meer oder in Küstennähe. Es wird Unsummen kosten, sie zu schützen – einige wird man vermutlich aufgeben müssen. Der Ozean mag derzeit noch die ärgsten Folgen des Klimawandels dämpfen. Auf lange Sicht werden sich diese aber nur dann vermeiden lassen, wenn wir heute den Ausstoß der Klimagase konsequent drosseln. Fachleute befürchten, dass sich durch die Erwärmung des Meerwassers Hunderttausende Tonnen von Methanhydraten auflösen könnten – Gasmassen, die, heute noch zu einer festen, kalten Masse erstarrt, am Meeresboden ruhen. Ein Teil des Methans, ein starkes Treibhausgas, könnte dann in die Atmosphäre aufsteigen und den Klimawandel weiter anheizen – ein Teufelskreis.
Die Ozeane schlucken jedes Jahr viele Millionen Tonnen Kohlendioxid. Sie sind die größte „Senke“ für das von uns Menschen produzierte Klimagas. Doch das Zuviel an Kohlendioxid bringt das chemische Gleichgewicht im Meer in Schieflage. Es führt zu einer Versauerung der Ozeane – wiederum mit unabsehbaren Folgen. Saures Wasser stört den Geruchssinn von Fischlarven, die Kalkbildung von Schnecken und das Wachstum von Seesternen. Auch das Phytoplankton, winzige Algen im Meer und wichtigste Nahrungsgrundlage für höhere Lebewesen, wird von der Versauerung betroffen sein. Nach wie vor wird die Meeresumwelt in Küstennähe durch Abwässer, Gifte und vor allem Nährstoffe geschädigt, die durch die Flüsse in die Ozeane gelangen. Weltweit fließen Tausende Tonnen von Stickstoff- und Phosphorverbindungen ins Meer. Algen vermehren sich dadurch explosionsartig. In vielen Küstenstreifen be­ginnt die Katastrophe mit dem Sterben der Algen. Bakterien fressen die Pflanzenreste und zehren dabei den Sauerstoff im Wasser auf. In solchen Sauerstoffminimumzonen stirbt jedes höhere Leben ab. In Westeuropa ist es gelungen, die Nährstoffmengen zu reduzieren. Weltweit aber wird der Nährstoffeintrag mehr und mehr zum Problem. Die Menschheit setzt den Ozeanen zweifellos in vielerlei Hinsicht zu, und alles in allem erhöht sich der Stress für die Meeresorganismen. Durch die Überdüngung und die Versauerung des Wassers, durch rapide Veränderungen der Wassertemperatur oder auch des Salzgehalts könnte die biologische Vielfalt im Meer weltweit mit wachsender Geschwindigkeit verloren gehen. In der Summe sind die Störungen so groß, dass Arten weiter verschwinden werden.
Völlig unklar ist bisher, wie sich die schleichende Vergiftung der Meeresumwelt mit Schadstoffen wie den polyfluorierten Verbindungen auswirken wird, die seit Jahren als Antihaftsubstanz in Pfannen oder auch in Outdoorjacken zum Einsatz kommen. Diese Substanzen reichern sich in der Nahrungskette an und sind inzwischen selbst in Eisbären nachweisbar. Es ist offensichtlich, dass die Ozeane auch heute noch Endstation für den Dreck unserer Zivilisation sind – nicht allein, was die langlebigen Chemikalien angeht, sondern auch in Sachen Müll. Weltweit landen in jedem Jahr 6 Millionen Tonnen Müll im Meer. Der Abfall wird zur Falle für Delfine, Schildkröten und Vögel. Vor allem Plastik ist langlebig und sammelt sich, getrieben von den Meeresströmungen, inmitten der Ozeane, in Hunderte Quadratkilometer großen Müllwirbeln. Ein völlig neues Problem sind die mikroskopisch kleinen Zerfallsprodukte von Plastikteilen, die die Meeresorganismen in ihren Körpern anreichern. Immerhin gibt es in Sachen Ozeanverschmutzung mittelfristig einen erfolgreichen Trend. Die Zahl der Ölunfälle hat abgenommen. Spektakuläre Tankerunfälle tragen heute nur mit etwa 10 Prozent zur Verölung der Meere bei. Die „schleichende Ölpest“ hingegen bleibt ein Problem. Allein 35 Prozent der weltweiten Ölverschmutzung stammen aus dem regulären Schiffsbetrieb. Diesen Quellen ist ungleich schwerer beizukommen. Wie die Explosion der Bohrinsel „Deepwater Horizon“ im Golf von Mexiko gezeigt hat, dämmern mit dem Trend, Öl und Gas aus immer größeren Tiefen zu fördern, möglicherweise ganz neue Probleme herauf.
Die Menschheit zerstört die Meeresumwelt nicht nur durch Verschmutzungen, sondern auch durch ihre Gier. Alljährlich werden 80 Millionen Tonnen Fisch mit einem Marktwert von rund 90 Milliarden US-Dollar gefangen. Die Konsequenz: Viele Fischbestände sind heute überfischt oder sogar ganz zusammengebrochen. Schuld an der Misere ist eine verfehlte Fischereipolitik, die den Fischfang stark subventioniert. Die Sicherung von Arbeitsplätzen hat stets Vorrang vor dem Schutz der lebenden Ressourcen – eine ausgesprochen kurzsichtige Denkweise. Ein unrühmliches Beispiel ist die EU-Fischereipolitik. Der EU-Ministerrat setzte bisher die Fangquoten regelmäßig zu hoch an und setzt sich damit über die Empfehlungen von Fischereibiologen hinweg, die seit Langem vor dem Raubbau warnen. Fische sind nicht die einzige lebende Ressource, die der Mensch im Ozean erntet. So wird die Gewinnung von medizinisch oder industriell nutzbaren Wirkstoffen im Meer für Wissenschaftler und Unternehmen zunehmend interessant. In den vergangenen Jahren hat man bereits Substanzen aus Meeresorganismen extrahiert, die in der Krebstherapie oder bei der Bekämpfung von Viren eingesetzt werden. Lange zögerten Firmen, in die aufwendige Wirkstofffahndung in den Ozeanen einzusteigen. Doch mit der Gründung junger Start-up-Firmen nimmt die Kommerzialisierung der Meeresmedizin an Fahrt auf. Allerdings benötigen die meisten Neugründungen derzeit noch staatliche Fördergelder.
Nach Meeresrohstoffen ganz anderer Art suchen die großen Öl- und Bergbaukonzerne. Schon seit Jahrzehnten wird rund um den Globus in den Ozeanen nach Öl gebohrt. Der Anteil der im Meer gewonnen Gas- und Erdölmengen wächst stetig und liegt heute bei gut einem Drittel des weltweiten Fördervolumens. In den kommenden Jahren dürfte am Meeresboden außerdem der Abbau von Erzen und Manganknollen im großen Stil beginnen. Auch die Methanhydrate locken hinab. Gelänge es, das Methan industriell zu ernten, hätte man ein gigantisches Energiereservoir angezapft. Die Hydrate sollen, so der Plan, am Meeresboden kontrolliert aufgelöst und das Methan abgesaugt werden. Ob das funktioniert, weiß niemand. Kritiker fürchten, dass große Mengen von Methan unkontrolliert aus dem Sediment aufsteigen könnten. Der Mensch drängt in die Tiefe wie nie zuvor. Denn in dem Maße wie die Ressourcen an Land schrumpfen, wird der Abbau in der Tiefe interessanter und rentabler. Die Vorkrisenjahre 2007 und 2008 waren geprägt durch exorbitant hohe Rohstoffpreise. Trotz der folgenden Wirtschaftskrise wurde damit auch der Meeresbergbau wieder interessant, der nach einer ersten Hochphase in den 1970er Jahren völlig brach lag. Besonders vielversprechend erscheinen derzeit die edelmetallreichen Erze in der Nähe ehemaliger heißer untermeerischer Quellen und die Manganknollen im Zentralpazifik. Was die Erze betrifft, könnte ein Abbau schon in allernächster Zukunft beginnen. Umweltschützer fürchten allerdings, dass dadurch Tiefseelebensräume zerstört werden. Auch eine Manganknollenernte im großen Stil betrachtet man kritisch. Inzwischen wurden die ersten Claims im Pazifik an verschiedene Staaten, zum Beispiel auch an Deutschland, vergeben.
Weit weniger riskant erscheint da die Förderung einer ganz anderen Ressource: der regenerativen Energie im Meer. Zu den aktuellen Konzepten gehören Windenergie- und Wellenenergieanlagen, Gezeiten- und Strömungskraftwerke sowie Kraftwerke, die Salzgehalts- oder Temperaturunterschiede zur Stromerzeugung nutzen. Alle Technologien zusammen könnten einen beträchtlichen Teil des Weltstrombedarfs decken. Grundsätzlich aber gilt, dass vor der Errichtung der umweltfreundlichen Energiewandler die Auswirkungen auf die Meeresumwelt untersucht werden müssen. Zweifelsohne wird man manche Meeresgebiete aus ökologischen Gründen von der Bebauung ausschließen. Experten empfehlen daher Meeresenergiegebiete auszuweisen, in denen man verschiedene Technologien miteinander kombiniert – Windradmasten und Strömungsanlagen etwa.
Dass Meeresgebiete heute einfach beplant und genutzt werden können, war noch vor wenigen Jahrzehnten keineswegs selbstverständlich. Immer wieder entbrannte Streit um Seegebiete. Erst 1982 gelang es der Staatengemeinschaft mit dem internationalen Seerechtsübereinkommen einen gemeinsamen Nenner zu finden. Dieses Übereinkommen ist der umfangreichste völkerrechtliche Vertrag, der jemals in der Geschichte der Menschheit geschlossen wurde. Es regelt den Einflussbereich der Küstenstaaten, aber auch die Nutzung der Hohen See. Über den Rohstoffabbau am Meeresboden wiederum wacht eine UN-Behörde, die auch die Claims für den Manganknollenabbau gerecht zuteilen soll. Trotz dieser Regelungen ist zwischen den Arktisstaaten längst ein Streit darüber entbrannt, wer die Rohstoffe am Grund der Arktis nutzen darf, wenn das Meereis weiter schmilzt. Klar geregelt ist heute hingegen der Schiffsverkehr, der sich in den vergangenen Jahrzehnten enorm gewandelt hat. Ein Meilenstein war die Einführung des Containers, der das Laden und Löschen der Schiffe so beschleunigt hat, dass die Reedereien ihre Frachter heute wie Stadtbusse nach einem eng getakteten Fahrplan fahren lassen. Gut 53 000 Stückgutschiffe, Tanker, Massengutfrachter und Containerschiffe tragen heute Waren um den Globus. Die Tragfähigkeit der Handelsflotte beläuft sich auf über 1000 Millionen Tonnen.
Faszinierend und beunruhigend zugleich ist die Vorstellung, dass durch den Klimawandel der sagenumwobene nördliche Seeweg durch die Arktis frei wird – die Nordostpassage. Weil das Meereis in der Arktis im Sommer mittlerweile stark taut, wird sich künftig der Wasserweg von Europa an der sibirischen Küste entlang bis in den Pazifik für mehrere Wochen im Jahr öffnen. Diese Strecke ist deutlich kürzer als jene durch den Suezkanal oder vorbei am Kap der Guten Hoffnung; die Wirtschaftlichkeit in Anbetracht von Meereisresten und möglichen Passagegebühren ist noch ungeklärt. Allerdings ließe sich damit zumindest im Sommer der derzeit gefährliche Seeweg durch den Golf von Aden, vorbei an der somalischen Küste vermeiden. Hier hat die Zahl der Piratenangriffe in der vergangenen Zeit stark zugenommen. Die Situation in den ostafrikanischen Gewässern sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Piraterie weltweit seit einigen Jahren wieder abnimmt. Während der mehr als zwei Jahre langen Arbeit an diesem Bericht haben wir uns des Öfteren gefragt, ob es überhaupt möglich ist, das Meer in allen seinen Facetten darzustellen. Darauf gibt es nur eine ehrliche Antwort: nein. Die Ozeane sind zu groß und die Materie zu komplex, als dass man auch nur annähernd einen Anspruch auf Vollständigkeit erheben könnte. Zudem sind viele wissenschaftliche Fragen nach wie vor unbeantwortet. Dennoch haben wir versucht, ein möglichst umfassendes Bild vom Zustand der Meere zu zeichnen. Wir hoffen, dass dieser Bericht zumindest zu einem kleinen Teil dazu beitragen kann, die Situation zum Guten zu wenden. Textende
Nikolaus Gelpke und Martin Visbeck