Politik und Wirtschaft in den Polarregionen
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WOR 6 Arktis und Antarktis – extrem, klimarelevant, gefährdet | 2019

Die Arktis und die Antarktis als politische Arenen

Die Arktis und die Antarktis als politische Arenen © Gatto Images/Getty Images

Die Arktis und die Antarktis als politische Arenen

> Kooperation und Kompromissbereitschaft waren bislang die Devise, wenn es um die politische Agenda der Polarregionen geht. Während das Südpolargebiet bereits seit Unterzeichnung des Antarktisvertrags 1959 gemeinschaftlich verwaltet wird, stimmen die Arktisanrainer die Leitlinien ihrer Politik seit 1996 im Arktischen Rat ab. Beide Dialogforen aber stehen angesichts des Klimawandels und der geopolitischen Gesamtentwicklung vor Herausforderungen. Je weiter das Eis weicht, desto lauter werden die Rufe nach einer kommerziellen Nutzung der Polargebiete.

Paradigmenwechsel und neue geopolitische Interessen

Die Polarregionen erleben derzeit einen grundlegenden Bedeutungswandel. Je weiter der Klimawandel voranschreitet und je ausgefeilter die Technik von Schiffen, Flugzeugen, Gebäuden, Informations- und Kommunikations­kanälen wird, desto besser gelingt es den Menschen, ihren Aktionsradius in der Arktis und Antarktis auszuweiten. In beiden Regionen sind heute deutlich mehr Staaten und Akteure aktiv als noch zur Jahrtausendwende – und jeder einzelne von ihnen verfolgt individuelle Interessen. Der Klimawandel hat gewissermaßen eine geopolitische Kettenreaktion in Gang gesetzt, welche sowohl die Anrainerstaaten der Arktis als auch die Mitgliedsstaaten des Antarktisvertragssystems vor neue Herausforderungen stellt.
5.1 > Ein Eis­brecher eskor­tiert Tank- und Fracht­schiffe durch die arktischen Gewäs­ser Russlands. Dieser Begleit­service ist teuer, von russischen Behörden vor­ge­schrieben und für Reeder­eien bislang einer von mehreren Gründen, die Nordost­pas­sage gar nicht oder nur selten für Trans­porte von Europa nach Asien zu nutzen.
Abb. 5.1 © PAO Sovcomflot, http://sovcomflot.ru

Leichterer Zugang durch Meereisrückgang

Der Rückgang des Meereises erleichtert Menschen und Schiffen den Zugang zu den arktischen und antarktischen Regionen. Im August 2014 beispielsweise konnte das deutsche Kreuzfahrtschiff „Hanseatic“ aufgrund ungewöhnlicher Eisbedingungen in der östlichen zentralen Arktis die Position 85° 41'  Nord erreichen. Es setzte damit eine neue Rekordmarke für Passagierschiffe. Auch weite Teile der Antarktis kann man nach Ansicht von Beob­achtern nicht mehr als entlegene und unberührte Re­gionen bezeichnen. Jahrzehntelanger Wal- und Robbenfang, das vom Menschen verursachte Ozonloch sowie die vielen Spuren, welche Forschende, Fischer und Touristen mittlerweile in der Antarktis hinterließen, sprächen eindeutig dagegen.

Wirtschaftliche Interessen

Je mehr Wasser- und Landflächen die schrumpfenden Eismassen in der Arktis und Antarktis freigeben, desto eher wecken diese auch wirtschaftliche Begehrlichkeiten bei ganz unterschiedlichen Akteurs- und Interessengruppen wie Reiseunternehmen, Fischereiflotten, rohstoffexplorierende Unternehmen und Reedereien. Nach Angaben des United States Geological Survey (USGS, Geologischer Dienst der Vereinigten Staaten) lagern allein 22 Prozent der bislang unentdeckten Erdöl- und Erdgasvorkommen nördlich des arktischen Polarkreises. Reedereien wie das dänische Unternehmen Mærsk schicken bereits zu Testzwecken Frachtschiffe von Nordeuropa über die Nordostpassage in den indopazifischen Raum – in der Hoffnung, eines Tages über diese Strecke viel Transportzeit und somit Kosten zu sparen.

Sicherheitsbedenken

Mit dem Meereis schmilzt für die arktischen Küstenstaaten eine natürliche Barriere, welche sie nach Ansicht einiger Beobachter bislang auch vor einer militärischen Invasion aus dem Norden geschützt hat. Diese neue sicherheitspolitische Ausgangslage verunsichere die nordischen Länder, heißt es, vor allem weil sich mit dem zunehmenden ökonomischen Engagement im arktischen Raum auch die militärischen Aktivitäten häuften und latente Konflikte wieder aufbrechen könnten. So stellte die Arktis in der Ära des Kalten Krieges eine Schlüsselregion der militärischen Konfrontation zwischen den beiden damaligen Großmächten USA und Sowjetunion dar. Beide Seiten unterhielten damals große Militärbasen und Raketenabschussrampen nördlich des Polarkreises. Nahezu alle diese Standorte aber wurden im Zuge der Entspannungspolitik der 1990er-Jahre geschlossen. Mit dem Klimawandel und der aktuellen Debatte um Seewege und Durchfahrtsrechte aber könnte auch die Militärpräsenz in den nördlichen Regionen der Anrainerstaaten der Arktis wieder zunehmen.
5.2 > Auf Stelzen stehen die Gebäude einer neuen Militär­basis, welche Russland auf der zu Franz-Josef-Land zählenden ark­tischen Insel Alex­andra­land errichtet hat. In dem 14 000 Quadrat­meter großen Komplex sind Luft­abwehr­einheiten unter­gebracht.
Abb. 5.2 © picture alliance/Tass/TASS/dpa

Im Fokus der internationalen Öffentlichkeit und Forschung

Gleichzeitig ruft das Ausmaß des Klimawandels in den Polarregionen Forscher und Umweltschützer auf den Plan. Erstere lenken durch stetig neue Forschungsergebnisse den Blick der Öffentlichkeit immer häufiger auf die Polargebiete. Letztere kämpfen mit weltweiten Kampagnen für deren Schutz. In der Arktis und Antarktis, so die Kernbotschaft, entscheide sich die Zukunft unseres Planeten.
Alle diese Entwicklungen deuten darauf hin, dass die Polarregionen – und hier insbesondere die Arktis – zunehmend zu geopolitischen Arenen werden, in denen eine steigende Zahl von Akteuren Begehrlichkeiten und Sorgen anmeldet. Zur gleichen Zeit konkurrieren die Großmächte auch in diesen Regionen wieder intensiver um Macht und Einfluss, was die bislang sehr gut funktionierende inter­nationale Zusammenarbeit in beiden Regionen zuweilen erschwert.

Münchner Sicherheitskonferenz
Die Münchner ­Sicher­heits­konferenz (Munich Security Conference, MSC) findet jedes Jahr im Februar in München statt und ist ein weltweit bedeutendes Forum für Debatten zur inter­na­tionalen Sicher­heits­politik. Ihre Organi­satoren verfolgen das Ziel, Frieden durch Dialog zu fördern, und bieten Ent­schei­dungs­trägern aus Politik, Wirtschaft und Zivil­gesellschaft eine Plattform für offizielle und inoffi­zielle diplo­matische Initia­tiven. Zusätzlich zur Haupt­konferenz richtet die MSC Diskus­sions­veranstal­tungen zu spezifischen Themen und Regionen aus. Eine ist der Runde Tisch zur Sicher­heit in der Arktis.

Wer regiert die Arktis?

Die Antwort auf die Frage, wer politisch das Sagen hat, fällt in der Arktis anders aus als in der Antarktis, welche gemeinschaftlich verwaltet wird. Der Grund dafür ist abermals die Lage der beiden Polarregionen. Die Arktis ist geografisch durch den nördlichen Polarkreis begrenzt. Große Teile des Nordpolargebiets liegen auf dem Terri­torium von insgesamt acht Staaten. Dabei handelt es sich um Kanada, Russland, die USA mit ihrem Bundesstaat Alaska, Norwegen, Dänemark – aufgrund seiner engen Verbindungen mit dem eigentlichen Arktisanrainer Grönland –, Island, Schweden und Finnland.
Die drei letztgenannten Staaten weisen im Vergleich zu den fünf anderen eine Besonderheit auf. Sie besitzen keinen unmittelbaren Zugang zum Nordpolarmeer. Arktische Staaten in einem engeren geografischen Sinn, das heißt mit direktem Zugang zum Arktischen Ozean, sind deshalb nur Dänemark (Grönland), Kanada, Norwegen (Spitzbergen), Russland und die USA (Alaska). Sie werden aus diesem Grund auch als die Arktischen Fünf bezeichnet – in Abgrenzung zu den acht Staaten mit Hoheits­gebieten innerhalb des Polarkreises.
Obwohl sich die Arktisanrainer auf drei Kontinente verteilen, sind alle acht Nationen Teil einer Kultur-, Norm- und Wertegemeinschaft und auf unterschiedliche Weise miteinander verknüpft – sei es aufgrund klima- und umweltpolitischer Belange, aufgrund wirtschaftlicher, sicherheitspolitischer und gesellschaftlicher Fragen oder aber aufgrund ihrer indigenen Bevölkerung in den arkti-schen Territorien. Wichtige gemeinschaftliche Fragen debattieren die Nationen deshalb im Arktischen Rat, der seit der Erklärung von Ottawa im Jahr 1996 als führendes staatenübergreifendes Forum für die Arktis die Zusammenarbeit zwischen den Anrainerstaaten, der indigenen Bevölkerung und anderen Bewohnern der Arktis fördert und koordiniert. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen dabei vor allem auf einer nachhaltigen Entwicklung des Nord­polargebiets sowie auf dem Umweltschutz. Sicherheits­politische oder militärische Themen sind von der Agenda des Arktischen Rates explizit ausgeschlossen. Sie werden stattdessen in Foren wie dem halbjährlich stattfindenden Treffen des Arctic Security Forces Roundtable (ASFR) ­diskutiert, auf Veranstaltungen des Arctic Coast Guard ­Forum (ACGF) oder beim Runden Tisch zur Arktischen Sicherheit, welchen die Münchner Sicherheitskonferenz (Munich Security Conference, MSC) gemeinsam mit wechselnden Partnern organisiert.
Dem Arktischen Rat gehören neben den acht Mitgliedsstaaten auch sechs Organisationen an, welche die Interessen der indigenen Völker der Arktis vertreten. Sie werden als sogenannte Permanente Teilnehmer des Rates bezeichnet. Entscheidungen des Gremiums bedürfen der Zustimmung aller Mitglieder und werden in enger Abstimmung mit den Permanenten Teilnehmern getroffen. Rechtsverbindlich sind die Richtlinien und Empfehlungen des Rates allerdings nicht. Ob die Beschlüsse umgesetzt werden, liegt einzig und allein im Ermessen der einzelnen Mitgliedsstaaten.
Dieser rechtsunverbindliche Charakter des Arktischen Rates ist nach Ansicht vieler Beobachter jedoch eine ­Stärke und keine Schwäche. Erlaubt er doch flexible und zeitnahe Anpassungsmaßnahmen in einer sich rasant verändernden Umwelt. Außerdem hat der Arktische Rat in der Vergangenheit schon dreimal die Unterzeichnung rechtsverbindlicher multilateraler Abkommen initiiert. Im Jahr 2011 unterzeichneten die Arktisstaaten das Abkommen über die Zusammenarbeit im Such- und Rettungsdienst; zwei Jahre später folgte das Abkommen über die Zusammenarbeit bei der Behandlung mariner Ölverschmutzung, und im Jahr 2017 wurde das Abkommen zur Verbesserung der internationalen wissenschaftlichen Zusammenarbeit auf den Weg gebracht.
An den Sitzungen des Arktischen Rates nehmen neben den Vertretern der Mitgliedsstaaten und den Permanenten Teilnehmern auch Sprecher der mittlerweile sechs Arbeitsgruppen des Rates teil. Deren Mitglieder erstellen regelmäßig umfangreiche und wegbereitende Zustandsberichte zu verschiedenen Aspekten der arktischen Umwelt und Gesellschaft. Diese dienen den ­Anrainerstaaten der Arktis als Handlungsempfehlung und werden darüber hinaus weltweit als wichtige Informationsquelle genutzt.

Zusatzinfo Eine Zone des Friedens

Als Beobachter der Ratssitzungen sind außerdem die Vertreter von 13 Nichtanrainerstaaten, von 14 zwischenstaatlichen Organisationen und von zwölf internationalen Nichtregierungsorganisationen zugelassen. Zu den Nationen mit Beobachterstatus zählen derzeit unter anderem Deutschland, China, Frankreich, Indien, Polen, Japan und Großbritannien. Diese Beobachterstaaten erhoffen sich von ihrer Mitgliedschaft internationale Sichtbarkeit und direkten Zugang zu arktisrelevanten Informationen. Als Gegenleistung sind sie vom Arktischen Rat dazu aufgefordert, sich in den verschiedenen Arbeitsgruppen zu engagieren und deren Arbeit zu unterstützen.
Deutschland zum Beispiel entsendet mittlerweile Wissenschaftler und Experten in alle sechs Arbeitsgruppen des Rates und finanziert gemeinsam mit den Niederlanden die Stelle eines Koordinators im Vogelschutzprogramm der Arbeitsgruppe Erhalt der Arktischen Flora und Fauna (Conservation of Arctic Flora and Fauna, CAFF). Über ihr Engagement müssen die Beobachter regelmäßig Bericht ablegen. Auf Basis dessen entscheiden die acht Mitglieder des Arktischen Rates dann, ob der Beobachterstatus einer Nation aufrechterhalten bleibt oder nicht. Bislang ist jedoch noch keinem Staat dieser Status wieder entzogen worden.
Welche Themen der Arktische Rat in den Mittelpunkt rückt, hängt vor allem vom Programm jenes Mitgliedsstaats ab, der den Ratsvorsitz innehat. Dieser wechselt alle zwei Jahre unter den acht Arktisstaaten. Im Mai 2019 übergab Finnland die Leitung des Forums an Island, welches die Phase seines bis 2021 andauernden Vorsitzes unter das Motto „Together Towards a Sustainable Arctic“ (Gemeinsam für eine nachhaltige Arktis) gestellt hat.
Die Grundidee des Arktischen Rates, gemeinsame Anliegen auf Basis wissenschaftlicher Empfehlungen zu diskutieren und einheitliche Handlungsempfehlungen für alle Mitgliedsländer abzustimmen, wird von einigen Experten mittlerweile als Erfolgsgeschichte gewertet. Im Januar 2018 schlug eine Gruppe von Politikwissenschaftlern und Sicherheitsexperten den Arktischen Rat sogar für den Friedensnobelpreis vor. Angesichts der weltweit zunehmenden politischen Spannungen zwischen den Großmächten sei es wichtig zu zeigen, welche Zusammenarbeit der Arktische Rat ermögliche, argumentierten die Forscher.

Grenzziehung im Arktischen Ozean

Trotz der zentralen Stellung des Arktischen Rates und ­seiner acht Mitgliedsstaaten kommt den fünf Küstenstaaten in manchen Teilbereichen arktischer Steuerung und Entscheidungsfindung eine besondere Rolle zu. Ausschlaggebend dafür ist, dass sie auf Grundlage des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen (United Nations Convention on the Law of the Sea, UNCLOS) über weitreichende Souveränitäts- und Hoheitsrechte ver­fügen, die für die Küstengewässer, die Ausschließlichen Wirtschaftszonen und weite Teile des Meeresbodens auf dem arktischen Festlandsockel gelten.
Dieses UN-Seerechtsübereinkommen wurde im Jahr 1982 geschlossen und gilt als das umfangreichste Regelwerk zur Nutzung und zum Schutz der Meere, weshalb es manchmal auch „Verfassung der Meere“ genannt wird. Von den fünf arktischen Küstenstaaten haben nur die USA dieses Übereinkommen noch nicht ratifiziert. Im Mai 2008 unterzeichnete die US-Regierung jedoch die Ilulissat-Deklaration und sicherte damit zu, alle Angelegenheiten, die den Arktischen Ozean betreffen, gemeinsam mit den übrigen Arktisanrainern friedlich auf Basis des Seevölkerrechts zu regeln.
Abb. 5.4 © maribus

5.4 > Das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen (SRÜ) teilt das Meer in verschiedene Rechtszonen auf. Die Sou­veränität eines Staates nimmt dabei mit zunehmender Entfernung von der Küste ab. An die Inneren Gewässer schließt sich das Küstenmeer an, das auch 12-Seemeilen-Zone genannt wird. Hier ist die Souveränität des Küstenstaats bereits eingeschränkt, weil es Schiffen aller Länder erlaubt ist, diese Gewässer zu durchfahren. In der sich bis zu 200 Seemeilen vor der Küste erstreckenden Ausschließlichen Wirtschaftszone (AWZ) hat ein Küstenstaat das alleinige Recht, lebende und nicht lebende Ressourcen zu explorieren und zu ernten. So darf er Erdöl und Erdgas, mineralische Rohstoffe oder auch Fischbestände ausbeuten. Im Bereich des Festlandsockels, der eine natürliche Verlängerung des Festlands darstellt und über die Ausschließliche Wirtschaftszone hinausreichen kann, darf er Ressourcen am Meeresgrund explorieren und ernten. An die Ausschließliche Wirtschaftszone schließt sich das Gebiet der Hohen See an.

Das UN-Seerechtsübereinkommen gibt die Definiton für verschiedene maritime Zonen, in denen der Umfang bestimmer souveräner Rechte der Küstenstaaten festgelegt ist. Dazu gehören:
  • die Inneren Gewässer und das Küstenmeer eines Staates,
  • die Anschlusszone,
  • die Ausschließliche Wirtschaftszone,
  • der Festlandsockel sowie
  • die Hohe See.

Innere Gewässer und Küstenmeer

Als Innere Gewässer werden diejenigen salinen Gewässer definiert, welche von der Basis- oder Niedrigwasserlinie aus betrachtet landeinwärts liegen. Das Küstenmeer ­dagegen erstreckt sich seewärts. Es hat eine Breite von maximal zwölf Seemeilen (eine Seemeile entspricht 1852 Meter). In seinen Inneren Gewässern besitzt ein Staat uneingeschränkte Hoheitsgewalt, denn sie gehören wie auch das Küstenmeer zu seinem Staatsgebiet. Die Souveränität im Küstenmeer ist ebenfalls recht um­fassend. Sie erstreckt sich auf den Luftraum, die ­Wassersäule, den Meeresboden und den darunterliegenden Untergrund. Es ist einem Küstenstaat jedoch verboten, die friedliche Durchfahrt fremder Schiffe durch sein Küstenmeer zu behindern.
Die Durchfahrt gilt als friedlich, wenn das betreffende Schiff bei seiner Fahrt durch das Küstenmeer keinerlei Gewalt ausübt, diese auch nicht androht, den Küstenstaat nicht ausspäht und zu keinem Zeitpunkt auf andere Art und Weise eine Gefahr für die Sicherheit des Küstenstaats darstellt. Wann Letzteres der Fall ist, wird im UN-Seerechtsübereinkommen im Einzelnen definiert. U-Boote beispielsweise müssen für die Durchfahrt auftauchen und ihre Flagge hissen. Verboten sind außerdem illegale Einleitungen oder andere Meeresverschmutzungen. Der Küstenstaat darf jedoch Fahrrinnen ausweisen, auf welchen die Durchfahrt erfolgen muss, und Gebühren erheben, wenn er Leistungen erbringt, welche die Sicherheit des Schiffsverkehrs erhöhen. Bei der Ausweisung von Schifffahrtswegen und Verkehrstrennungsgebieten muss er allerdings die Empfehlungen der Internationalen Seeschifffahrts-Organisation (International Maritime Organization, IMO) berücksichtigen.

Basislinie
Die Basislinie verläuft normal­erweise entlang der Niedrig­wasser­linie an der Küste und entspricht damit dem durch­schnitt­lichen Ebbe­­stand des Wassers, wie er in amtlichen See­karten verzeichnet ist.

Ist das Küstenmeer Teil einer Meerenge oder Wasserstraße, die Gebiete der Hohen See oder verschiedene Ausschließliche Wirtschaftszonen miteinander verbindet und von der internationalen Schifffahrt genutzt wird, muss der Küstenstaat laut Artikel 37 des Seerechtsübereinkommens fremden Schiffen das Recht auf eine Transitdurchfahrt gewähren. Im Vergleich zum Recht der friedlichen Durchfahrt verfügt der Küstenstaat bei Transitdurchfahrten über noch geringeren Spielraum, diese zu beschränken. Es gilt nämlich im Grunde dieselbe Freiheit der Schifffahrt wie auf Hoher See. Letztlich ist eine Aussetzung oder Beschränkung der Transitdurchfahrt nur im Fall der Androhung oder Ausübung militärischer Gewalt durch das Schiff ­möglich. U-Boote dürfen Meerengen durchtauchen.
Die Frage, ob fremde Schiffe ein Recht auf unbehelligte Transitdurchfahrt haben, löst in der Arktis regel­mäßig Streitigkeiten aus – etwa in den Hoheitsgewässern im arktischen Archipel Kanadas, durch welche die Routen der Nordwestpassage verlaufen, oder aber in den Hoheitsgewässern vor Russlands Arktisküste. Dort entlang führen die Routen der Nordostpassage. Schiffe, welche die arktischen Gewässer Russlands queren wollen, müssen Auflagen der russischen Regierung erfüllen. Besonders streng sind diese für fremde Kriegsschiffe. Militärschiffe der NATO beispielsweise sollen sich 45 Tage vor der Durchfahrt anmelden und einen russischen Lotsen an Bord lassen, was die US-Regierung aufgrund von Sicherheits­bedenken kategorisch ablehnt. Washington argumentiert, amerikanische Kriegsschiffe hätten auf Basis des Seevölkerrechts das Recht auf eine freie, unbehelligte (Transit-) Durchfahrt. Ein Ende dieses Streits ist nicht abzusehen.

Anschlusszone und Ausschließliche Wirtschaftszone

An das Küstenmeer schließt sich die sogenannte Anschlusszone an. Sie darf sich maximal 24 Seemeilen über die Niedrigwasserlinie hinaus erstrecken. In dieser Zone dürfen Küstenstaaten besondere Kontrollbefugnisse ausüben und beispielsweise Zollvorschriften gegenüber Drittstaaten durchsetzen. Auf die Anschlusszone folgt die Ausschließliche Wirtschaftszone (AWZ), die von der Niedrigwasser­­linie aus betrachtet eine Breite von 200 Seemeilen nicht überschreiten darf und nicht zum Staatsgebiet gehört. Dennoch haben die Küstenstaaten in dieser Zone das alleinige Recht, Fischfang zu betreiben oder aber künstliche Inseln und Anlagen wie etwa Ölbohrplattformen und Offshore-Windenergieanlagen zu genehmigen, zu errichten und zu betreiben. Der Küstenstaat verfügt in diesem ­Meeresgebiet zudem über Hoheitsbefugnisse in Bezug auf den Meeresschutz und die Meeresforschung. Aus diesem Grund müssen fremde Staaten grundsätzlich die Zustimmung des Küstenstaats einholen, wenn sie in dessen Ausschließlicher Wirtschaftszone wissenschaftliche Untersuchungen vornehmen wollen. Territoriale Ansprüche aber kann ein Küstenstaat in seiner Ausschließlichen Wirtschaftszone nicht erheben. Drittstaaten genießen in diesem Gebiet Schifffahrtsfreiheit und dürften hier auch unterseeische Kabel und Rohrleitungen verlegen.
Die Grenzen der Ausschließlichen Wirtschaftszonen haben die Arktisstaaten definiert und ihren Verlauf seit den 1970er-Jahren in verschiedenen bi- und trilateralen Abkommen untereinander abgestimmt. Disput gibt es nur in wenigen Regionen. Kanada und die USA beispielsweise streiten sich über den genauen Verlauf ihrer maritimen Grenzen in der Beaufortsee.

Erweiterter Festlandsockel

Spezielle Regelungen sieht das UN-Seerechtsübereinkommen für den sogenannten Festlandsockel vor, welcher größtenteils unterhalb der Ausschließlichen Wirtschaftszone verläuft. Der Festlandsockel ist wie die Ausschließliche Wirtschaftszone ein Hoheitsraum, in dem nur der Küstenstaat die natürlichen Ressourcen erforschen und ausbeuten darf. Seerechtlich kann jeder Küstenstaat den Festlandsockel in der Ausschließlichen Wirtschaftszone von bis zu 200 Seemeilen Breite proklamieren, selbst wenn der Sockel geologisch betrachtet schmaler ist. Reicht der geologische Festlandsockel jedoch über diese 200-Seemeilen-Grenze der Ausschließlichen Wirtschaftszone hinaus, kann der Küstenstaat nach Artikel 76 des Seerechtsübereinkommens die äußere Grenze dieses Sockels erweitern. Dazu muss er gegenüber der UN-Kommission zur Begrenzung des Festlandsockels (Commission on the Limits of the Continental Shelf, CLCS) wissenschaftliche Daten vorlegen, aus denen sich ergibt, dass es sich bei dem betreffenden Teil des Meeresbodens und -untergrunds um die natürliche Verlängerung seines Festlandrands handelt.
Einer solchen Erweiterung sind jedoch Grenzen gesetzt: Die neue Außengrenze des Festlandsockels darf entweder nicht weiter als 350 Seemeilen entfernt von der Basislinie des Küstenstaats verlaufen oder nicht mehr als 100 Seemeilen über die 2500-Meter-Wasser­tiefenlinie hinausgehen. Eine Kombination der beiden Methoden ist zulässig.
Verkompliziert wird die Grenzziehung in der Arktis dadurch, dass am Meeresboden des Arktischen Ozeans drei unterseeische Bergrücken verlaufen – der Lomonossowrücken, der Gakkelrücken und der Alpha-Mendelejew-Rücken – und deshalb eine Ausnahmeregelung des Seerechtsübereinkommens zum Tragen kommt. In Artikel 76 wird nämlich zwischen unterseeischen Bergrücken und unterseeischen Erhebungen unterschieden.
Abb. 5.5 © Gatto Images/Getty Images

5.5 > Territorialer Zankapfel in der Arktis: Sowohl Dänemark als auch Kanada erheben Anspruch auf die 1,3 Quadrat­kilometer große Hansinsel (Bildmitte). Sie liegt im Kennedy­kanal in der Nares­straße zwischen der kanadischen Elles­mere­insel und Grön­lands Nord­küste.
Für den Fall, dass beide mit dem Festlandsockel eines Küstenstaats verbunden sind, gelten unterschiedliche Regelungen. Verläuft der Festlandsockel in Teilen über einem unterseeischen Bergrücken, kann nur die 350-Seemeilen-Regel angewendet werden. Die Regel zur 2500-Meter-Wassertiefenlinie entfällt. Erstreckt sich der Festlandsockel jedoch über einer unterseeischen Erhebung, gelten beide Richtlinien, weil davon ausgegangen wird, dass die unterseeische Erhebung in der Regel aus dem gleichen Material besteht wie der Festlandsockel. Unterseeische Bergrücken dagegen bestehen meist aus vulkanischem Gestein und somit aus einem anderen Material als der Festlandsockel.
Diese komplexen Vorgaben des Seerechtsübereinkommens erschweren die Arbeit der UN-Kommission zur Begrenzung des Festlandsockels. Sie prüft alle eingereichten Anträge und gibt am Ende eine Empfehlung ab. Sofern der Küstenstaat die Außengrenze seiner erweiterten Wirtschaftszone der Empfehlung entsprechend anpasst, ist diese Außengrenze endgültig und verbindlich. Fraglich ist bislang, was passiert, wenn sich ein Küstenstaat der Kommissionsempfehlung widersetzt und die Außen­grenze in Widerspruch zur Empfehlung festlegt. Die Kommission ist nämlich kein Organ der Rechtskontrolle. Sie soll nur garantieren, dass die Grenzziehung wissenschaftlichen Standards entspricht.
Die Aussicht auf eine Erweiterung des Festlandsockels und damit auch der exklusive Anspruch auf die im Meeresboden lagernden Rohstoffe hat bislang alle arktischen Küstenstaaten, die dem Seerechtsübereinkommen beigetreten sind, dazu veranlasst, entsprechende Anträge zu stellen. Norwegen wurde im Jahr 2009 eine Erweiterung von Teilen seines Festlandsockels zugestanden. Russland, Dänemark und Kanada versuchen seit Jahrzehnten mit­hilfe seismologischer Studien nachzuweisen, dass der Lomonossow- und der Alpha-Mendelejew-Rücken unterseeische Erhebungen und damit natürliche geologische Fortsätze ihres jeweiligen Festlandsockels darstellen. Kanada beispielsweise hat erst am 23. Mai 2019 einen 2100 Seiten umfassenden Antrag bei der UN-Kommission eingereicht. Demnach erhebt das Land Anspruch auf eine Meeresfläche von insgesamt 1,2 Millionen Quadratkilometern, den geografischen Nordpol mit eingeschlossen. Russland und Dänemark hatten in ihren Anträgen zuvor ähnlich lautende Ansprüche erhoben. Empfehlungen der Kommission aber gibt es bislang zu keinem der Anträge, weil die Bearbeitung und Entscheidungsfindung mehrere Jahre dauern.

Zusatzinfo Über­lapp­ende Ansprüche der arktischen Küsten­staaten auf Meer­es­boden­gebiete

Hinzu kommt, dass die Kommission nicht zuständig ist, wenn zwei oder mehrere Küstenstaaten mit gegen­überliegenden oder aneinandergrenzenden Küsten um eine genaue Abgrenzung ihres jeweiligen Festlandsockels ringen oder aber sich die von ihnen beanspruchten Gebiete überlappen. In solchen Fällen verpflichtet das Seerechtsübereinkommen die beteiligten Staaten vielmehr zum Abschluss eines oder mehrerer Abgrenzungsübereinkommen. Das heißt, die beteiligten Staaten müssen diese strittigen Fragen untereinander klären. Sollte das nicht gelingen, könnte der Streit vor einem internationalen Gericht, zum Beispiel dem Internationalen Gerichtshof oder dem Internationalen Seegerichtshof, verhandelt ­werden, vorausgesetzt, die beteiligten Staaten erkennen diesen als Rechtsinstanz an.
In der Vergangenheit haben die Verhandlungs- und Kompromissbereitschaft der arktischen Küstenstaaten ausgereicht, Grenz- oder Gebietskonflikte beizulegen. So einigten sich zum Beispiel Norwegen und Russland im September 2010 auf einen Kooperationsvertrag, der einen vier Jahrzehnte andauernden Streit um die Abgrenzung ihrer nebeneinanderliegenden Wirtschaftszonen und Festlandsockel in der rohstoff- und ressourcenreichen Barentssee beendete. Der darin beschlossene Grenzverlauf trägt den Ansprüchen beider Staaten zu gleichen Teilen Rechnung. Außerdem vereinbarten beide Parteien, dass sie mögliche neue, bislang unentdeckte grenzüberschreitende Ressourcenlagerstätten gemeinsam ausbeuten wollen.

Hohe See

An der Außengrenze der Ausschließlichen Wirtschafts­zone beginnt die Hohe See. Hier gilt für alle Staaten die Freiheit der Hohen See. Das heißt, diese Meeresregion darf unter anderem frei von Schiffen durchfahren und von Flugzeugen überflogen werden. Zudem ist es jedermann in ­diesem Gebiet erlaubt, zu fischen und zu forschen. Alle Aktivitäten müssen jedoch friedlicher Natur sein. Der Meeresboden jenseits der küstenstaatlichen Festland­sockel sowie alle darin vorhandenen Ressourcen gehören hingegen zum sogenannten gemeinsamen Erbe der Menschheit, auf welches niemand – kein Mensch, kein Staat – alleinigen Anspruch erheben darf. Dieses Gebiet und seine Ressourcen werden vielmehr von der Internationalen Meeresbodenbehörde (International Seabed Authority, ISA) verwaltet. In der Arktis gilt dieser Status allerdings nur für zwei kleine Regionen im zentralen Arktischen Ozean. Alle restlichen Meeresgebiete werden von einem oder mehreren Küstenstaaten beansprucht.
Eine vertragliche Sonderrolle in der Arktis nimmt zudem Spitzbergen ein. Die Souveränität der Inselgruppe östlich Grönlands wird seit dem Jahr 1920 durch den sogenannten Spitzbergenvertrag geregelt. Formal steht Spitzbergen seitdem unter norwegischer Verwaltung. Alle Vertragsstaaten genießen jedoch das Recht, gleichberechtigt mit den Norwegern die Ressourcen des Archipels friedlich zu nutzen und dort zu arbeiten, zu handeln und Schifffahrt durchzuführen. Zudem erhalten alle Bürger der Vertragsstaaten freien Zugang zur Inselgruppe. Bislang haben 46 Staaten den Vertrag unterzeichnet. Ungelöst bleibt jedoch die völkerrechtliche Situation in Bezug auf die Seegebiete um Spitzbergen. Einerseits ist die Ausschließliche Wirtschaftszone um die Inselgruppe unstrittig norwegischer Hoheitsgewalt unterworfen. Andererseits gibt es bislang keine Antwort auf die Frage, ob der Spitzbergenvertrag und die darin beschlossene gemeinsame Ressourcennutzung durch die Unterzeichnerstaaten auch für dieses Meeresgebiet gilt. Die Frage ist entscheidend, vor allem in Hinblick auf die künftige Nutzung der prognostizierten Erdöl- und Gasvorkommen in der nördlichen Barentssee. Noch ist diese Region für die Mineralölkonzerne nicht zugänglich. Das langfristige Interesse an einer Öffnung der Region für Erdöl- und Gaserkundungen ist jedoch groß und birgt somit Konfliktpotenzial.

Der Club der Antarktisnationen

Im Gegensatz zur Arktis liegt der antarktische Kontinent fernab der Küsten und Landesgrenzen eines oder mehrerer Nationalstaaten. Oft und gern wird dieser Umstand zum Anlass genommen, den südlichen Kontinent und die ihn umgebenden Meeresgebiete als losgelöst vom internationalen Politik- und Wirtschaftsgeschehen zu betrachten. Bei genauerem Hinschauen aber wird schnell deutlich, dass das Südpolargebiet sehr wohl ein politischer Raum ist, dessen komplexe Geschichte stets vor dem Hintergrund der internationalen Weltpolitik betrachtet werden muss – damals wie heute.
Den juristischen Rahmen der politischen Arena der Antarktis bestimmt das Antarktisvertragssystem (Antarc­tic Treaty System, ATS). Es besteht aus dem Antarktis­vertrag, dem darauf aufbauenden internationalen Übereinkommen zum Umweltschutz in der Antarktis sowie zweier Abkommen zum Schutz der antarktischen Robben und der lebenden Meeresschätze. Der Antarktisvertrag wurde auf Initiative der USA hin ausgehandelt und am 1. Dezember 1959 von zwölf Staaten unterzeichnet. ­Ungefähr anderthalb Jahre später, am 23. Juni 1961, trat er in Kraft. Zu den Unterzeichnern gehörten Argentinien, ­Australien, Belgien, Chile, Frankreich, Großbritannien, Japan, Neuseeland, Norwegen, die damalige Sowjetunion, die damalige Südafrikanische Union sowie die Vereinigten Staaten.
Der Vertragsabschluss stellte zum damaligen Zeitpunkt im doppelten Sinn einen historischen Durchbruch dar. Zum einen war der Antarktisvertrag das erste inter­nationale Abkommen nach dem Zweiten Weltkrieg, für welches sich die zerstrittenen und hochmilitarisierten Ost- und Westmächte mitten im Kalten Krieg an den Verhandlungstisch setzten und sich auf die gemeinsame friedliche Nutzung und Erforschung des Gebiets südlich von 60 Grad südlicher Breite einigten. Zuvor hatten beide ­Seiten noch gedroht, Raketen und Militär in der Antarktis zu stationieren.
Zum anderen ließen Großbritannien, Norwegen, Australien, Frankreich, Neuseeland, Chile und Argentinien für ein Zustandekommen des Vertrags ihre bis dato er­hobenen Gebietsansprüche in der Antarktis ruhen. Das heißt, der damals schwelende Territorialkonflikt in der Antarktis wurde mit der Unterzeichnung des Vertrags ­eingefroren und der Weg für eine friedliche Zusammen­arbeit von Nationen mit ganz unterschiedlichen Interessen geebnet. Hinzu kommt: Der Antarktisvertrag wurde auf unbestimmte Zeit geschlossen. Auch wenn bestimmte ­Folgeabkommen nach einer gewissen Zeit erneuten ­Verhandlungen unterzogen werden können, läuft der Antarktisvertrag nicht aus. Die Unterzeichnerstaaten verpflichten sich auf Dauer dem Schutz der Antarktis und der friedlichen Nutzung des Gebiets.

Zusatzinfo Ansprüche aus Walfang- und Ent­decker­zeiten

Die Idee, die Antarktis gemeinsam und losgelöst von der restlichen Weltpolitik als Kontinent der Forschung zu verwalten, ging jahrzehntelang auf. In der Region herrscht seit der Vertragszeichnung Frieden. Mittlerweile sind 54 Nationen dem Antarktisvertragssystem beigetreten und haben sich zu einer friedlichen Nutzung des Süd­polargebiets verpflichtet. All jene Staaten, die tatsächlich auch aktiv Forschung in der Antarktis betreiben – sie ­werden Konsultativstaaten genannt –, verfolgen zwar ihre eigenen nationalen Forschungsprogramme, kooperieren aber auch auf vielen Ebenen. Sie tauschen wissenschaftliche Ergebnisse aus, planen gemeinsame Expeditionen, organisieren zusammen die immer noch sehr aufwendige Logistik für den Betrieb von Forschungsstationen auf dem südlichen Kontinent und helfen sich im Notfall gegenseitig – ungeachtet aller Konflikte, welche die Staaten mög­licherweise in der restlichen Welt miteinander austragen.
Diese überaus erfolgreiche internationale Kooperation in der Antarktisforschung täuscht jedoch darüber hinweg, dass die Territorialkonflikte von damals auch heute noch schwelen. Seit der Vertragsunterzeichnung hat keine der sieben Nationen mit Gebietsansprüchen diese aufgegeben – im Gegenteil. Länder wie Norwegen und Australien beispielsweise haben bei der UN-Kommission zur Begrenzung des Festlandsockels Anträge auf Zuschreibung der entsprechenden antarktischen Territorien gestellt. Man hat sich zwar darauf geeinigt, dass diese Anträge erst dann von der UN-Kommission bearbeitet werden, wenn der Antarktisvertrag eines Tages aufgekündigt werden sollte. Die Antragstellung allein aber zeigt, mit welcher Ernsthaftigkeit die beteiligten Parteien nationale Interessen auch im Gebiet südlich von 60 Grad Süd verfolgen.
Die Gebietsansprüche erschweren zudem die inter­nationale Zusammenarbeit in der Antarktis – so zum Beispiel die Verhandlungen zur Ausrufung von Meeresschutzgebieten im Südpolarmeer. An allen bisher ausgewiesenen Schutzgebieten und Schutzgebietsvorschlägen waren Staaten mit Gebietsansprüchen beteiligt, was von Beobachtern als ein Versuch der Konsolidierung dieser Ansprüche gesehen wird. Ausnahme hiervon ist der Vorschlag Deutschlands und der Europäischen Union, eine Schutzzone im Weddellmeer einzurichten. Dieser Vorschlag traf allerdings auf den Widerstand Norwegens, das in einigen der zu schützenden Gebiete östlich des Null­meridians (in dem Bereich, der von Norwegen in der Antarktis beansprucht wird) zusätzliche Forschungs­arbeiten durchführen und darauf aufbauend getrennte Schutzmaßnahmen erarbeiten möchte. Australische Politiker beobachten derweil mit Argwohn, dass China mittlerweile drei seiner vier Forschungsstationen in der Antarktis in jenem Teil der Ostantarktis errichtet hat, den Australien für sich beansprucht.

Wer investiert, darf mitentscheiden

Die Mitgliedsstaaten des Antarktisvertragssystems treffen sich einmal im Jahr, um Informationen auszutauschen und gemeinschaftliche Themen zu besprechen. An diesen sogenannten jährlichen Treffen der Konsultativstaaten (Antarctic Treaty Consultative Meetings, ATCM) nehmen teil:
  • Vertreter der bislang 29 Konsultativstaaten, also all jene Staaten, die den Antarktisvertrag unterzeichnet haben und nachweislich und mit erheblichem Aufwand Forschung in der Antarktis betreiben;
  • Vertreter der 25 Nichtkonsultativstaaten. Diese Staaten sind dem Antarktisvertragssystem beigetreten, betreiben aber zumeist keine eigene aktive Forschung im Südpolargebiet;
  • Beobachterorganisationen wie der Wissenschaftliche Ausschuss für Antarktisforschung (Scientific Committee on Antarctic Research, SCAR) und die Kommission zur Erhaltung der lebenden Meeresschätze der Antarktis (Commission for the Conservation of Antarctic Marine Living Resources, CCAMLR);
  • eingeladene Experten eines globalen Zusammenschlusses von Umweltschutzorganisationen (Antarctic and Southern Ocean Coalition, ASOC) oder aber der Internationale Verband der Reiseveranstalter mit dem Zielgebiet Antarktis (International Association of Antarctica Tour Operators, IAATO).
5.7 > Anfang jedes Jahres wird in der Antarktis die Position des geo­graf­ischen Südpols neu bestimmt und mit einem Pfos­ten und den Flaggen der zwölf Erst­unter­zeichner­staaten des Ant­ark­tis­vertrags markiert. Die jährliche Neu­bestim­mung ist not­wendig, weil sich das Eis dort jährlich um zehn Meter bewegt.
Abb. 5.7 © David Rootes/Arcticphoto/laif
Entscheidungen können auf den ATCM-Sitzungen nur ­einstimmig getroffen werden, wobei einzig und allein die 29 Konsultativstaaten an den Abstimmungen teilnehmen. Alle anderen Teilnehmer dürfen sich an den vorhergehenden Diskussionen beteiligen, von den Abstimmungen selbst sind sie jedoch ausgeschlossen. Kritiker werfen dem Antarktisvertragssystem deshalb fehlende Offenheit, Fairness und Transparenz vor und fordern Reformen. Die Konsultativstaaten aber geben sich selbstbewusst. Ihrer Meinung nach sollen nur jene Nationen Einfluss auf das Geschehen in der Antarktis nehmen können, die aktiv Forschung betreiben und sich finanziell an der dafür benötigten Logistik und Infrastruktur beteiligen. Aus diesem Grund sind auch internationale Organisationen wie die Europäische Union und die Vereinten Nationen nicht bei den Treffen der Antarktisvertragsstaaten vertreten. Begründet wird diese Ausgrenzung unter anderem mit dem Argument, diese Bündnisse würden auch die Inte­ressen von Ländern vertreten, die dem Antarktisvertrags­sys­tem noch nicht beigetreten sind.

Internationale Abkommen zum Schutz der Antarktis

Die zweite Säule des Antarktisvertragssystems bilden mehrere internationale Übereinkommen zum Umweltschutz in der Antarktis, deren Bestimmungen für alle ­Mitgliedsstaaten rechtlich bindend sind. Allerdings setzt jeder Mitgliedsstaat diese Abkommen durch eine eigene nationale Gesetzgebung um. Zu den Übereinkommen gehören:

Die Vereinbarten Maßnahmen zur Erhaltung der antarktischen Fauna und Flora (Agreed Measures for the Conservation of Antarctic Fauna and Flora)

Dieser erste gemeinsame Maßnahmenkatalog für den Umweltschutz in der Antarktis wurde im Jahr 1964 in Brüssel beschlossen und zielte damals darauf ab, die internationale Forschung und Zusammenarbeit zum Schutz der antarktischen Flora und Fauna zu stärken. Außerdem definierte er Rahmenrichtlinien für spezielle geschützte Gebiete innerhalb der Antarktis. Auf dem ATCM-Treffen 2011 einigten sich die Konsultativstaaten jedoch darauf, dass er durch das Umweltschutzprotokoll ersetzt wurde.

Das Übereinkommen zur Erhaltung der antarktischen Robben (Convention for the Conservation of Antarctic Seals, CCAS)

Diese Konvention zum Schutz der Robbenpopulationen in der Antarktis wurde im Jahr 1972 unterzeichnet, um den damals noch stattfindenden kommerziellen Robbenschlag im Südpolargebiet zu regulieren. Das Übereinkommen trat 1978 in Kraft, fordert mittlerweile aber wenig Mitarbeit der Vertragsparteien, weil die Jagd auf Robben in der Antarktis eingestellt wurde. Alle unter dem CCAS-Abkommen gemeldeten Aktivitäten werden von Großbritannien als CCAS-Depositarstaat gesammelt und auf den jährlichen ATCM-Treffen berichtet.

Das Übereinkommen über die Erhaltung der lebenden Meeresschätze der Antarktis (Convention on the Conservation of Antarctic Marine Living Resources, CAMLR Convention)

Die CAMLR-Konvention wurde im Jahr 1980 beschlossen, nachdem die damalige Sowjetunion den Antarktischen Marmorbarsch (Notothenia rossii) in nur zwei Fangzeiten stark überfischt hatte und das kommerzielle Interesse an Antarktischem Krill gestiegen war. Das Abkommen trat zwei Jahre später in Kraft und war das erste Meeres­übereinkommen, welches einen Ökosystemansatz zum Schutz und Management der lebenden Meeresressourcen verfolgte. Das heißt, mögliche Fischereipläne und Fangquoten werden immer auch daraufhin bewertet, welche Folgen diese Entnahme von Fisch und anderen Meeresschätzen für die daran gekoppelten Ökosysteme hätte.
Die Konvention umfasst bis heute alle im Konven­tionsgebiet lebenden marinen Organismen, einschließlich der Seevögel, und hat den Erhalt der marinen Ökosysteme der Antarktis zum Ziel. Fischerei wird dennoch nicht ausgeschlossen, sie muss allerdings auf nachhaltige Art und Weise erfolgen. Die Umsetzung des Abkommens koordiniert und überwacht die Kommission zur Erhaltung der lebenden Meeresschätze der Antarktis (Commission for the Conservation of Antarctic Marine Living Resources, CCAMLR) mit Sitz in Hobart, Australien. Sie legt auf ­Empfehlung eines wissenschaftlichen Ausschusses Fang­quoten fest, stellt Arten bei Bedarf unter Schutz und ist für die Ausweisung von Meeresschutzgebieten im Südozean zuständig. Die Kommission zählt derzeit 25 Mitglieder, darunter auch die Europäische Union. Kommissionsentscheidungen können nur einstimmig getroffen werden. Der Geltungsbereich des Übereinkommens wird durch die Südpolarfront begrenzt und reicht deshalb in einigen Bereichen bis 50 Grad Süd. Das umschlossene Gebiet beinhaltet ungefähr zehn Prozent der Weltmeere.

Das Umweltschutzprotokoll zum Antarktisvertrag (Protocol on Environmental Protection to the Antarctic Treaty)

Das Umweltschutzprotokoll wurde am 4. Oktober 1991 in Madrid, Spanien, beschlossen und wird deshalb auch Madrid-Protokoll genannt. Es setzt nach Aussage des deutschen Umweltbundesamts (German Environment Agency) die schärfsten und umfangreichsten Umweltschutzregelungen um, die jemals für eine Region der Erde in einem internationalen Übereinkommen erarbeitet wurden. Das Abkommen verbietet seit seinem Inkrafttreten im Jahr 1998 den Abbau von Rohstoffen in der Antarktis und verpflichtet die Vertragsstaaten, die Antarktis als Naturreservat zu belassen, welches allein dem Frieden und der Wissenschaft gewidmet ist (Artikel 2, Umweltschutzprotokoll).
Es reglementiert im Gebiet des Antarktisvertrags sämtliche Tätigkeiten, die Auswirkungen auf die Umwelt sowie die abhängigen und verbundenen Ökosysteme der Antarktis haben könnten. Gleichzeitig schreibt es für alle Vertragsstaaten geltende Verfahren und Regelungen vor, die vor der Erteilung einer Genehmigung für eine Tätigkeit in der Antarktis durchgeführt oder beachtet werden müs-sen. Die spezifischen Vorschriften in den fünf Anhängen des Protokolls betreffen die Durchführung von Umweltverträglichkeitsprüfungen, den Erhalt der antarktischen Flora und Fauna, die Beseitigung und Behandlung von Abfällen oder Maßnahmen zur Verhütung der Meeresverschmutzung (zum Beispiel zum Einleiten von Öl, schädlichen Stoffen und Abwasser sowie Müllbeseitigung) sowie den besonderen Schutz und die Verwaltung von ausgewählten Gebieten.
Das Umweltschutzprotokoll kann nach einer Laufzeit von 50 Jahren – also ab dem Jahr 2048 – neu verhandelt werden. Es erlischt zu diesem Zeitpunkt aber nicht automatisch, sondern gilt weiter, sofern sich die Vertragsstaaten nicht auf eine Neuverhandlung einigen. Die Aussicht, dass das Umweltschutzprotokoll im Jahr 2048 erneut verhandelt werden könnte, bereitet vor allem Umweltschutzorganisationen Sorgen. Sie befürchten, dass bei möglichen Verhandlungen das Moratorium des mineralischen Rohstoffabbaus in antarktischen Gewässern wegfallen könnte. Überlegungen zur Exploration antarktischer Rohstofflager hatte es bereits in den 1980er-Jahren gegeben. Damals beschlossen 19 Staaten im Juni 1988 – nach sechs Jahre dauernden Verhandlungen – ein entsprechendes Regelwerk für den Rohstoffabbau, das jedoch von einigen Staaten abgelehnt wurde. Das Übereinkommen trug den Titel Regelung der Tätigkeiten im Zusammenhang mit mineralischen Ressourcen der Antarktis (Convention on the Regulation of Antarctic Mineral Resource Activities, CRAMRA). Eine für Dezember 1988 geplante formelle Inkraftsetzung dieses Abkommens scheiterte am Widerstand Frankreichs und Neuseelands. Beiden Staaten ­gingen die Umweltbestimmungen im damaligen Vertrags-text nicht weit genug.
Daraufhin wurden Verhandlungen für ein umfassendes Umweltschutzabkommen für die Antarktis aufgenommen. In nur vier Jahren entstand das heute geltende Umweltschutzprotokoll. Die Gespräche fielen kurz nach dem Ende des Kalten Krieges in eine Phase der politischen Entspannung, in welcher viele Beteiligte eine neue Kompromissbereitschaft in Sachen Umweltschutz zeigten. In dieser Zeit verhandelte und beschloss die internationale Staatengemeinschaft der Vereinten Nationen nicht nur das Umwelt- und Entwicklungs-Aktionsprogramm Agenda 21, sondern auch die sogenannte Biodiversitätskonvention (Convention on Biological Diversity, CBD), die Klima­rahmenkonvention (United Nations Framework Conven­tion on Climate Change, UNFCCC) und das Übereinkommen zur Bekämpfung der ­Wüstenbildung (United Nations Convention to Combat Desertification in Those Countries Experiencing Serious Drought and/or Desertification, Particularly in Africa, UNCCD). Bei den Verhandlungen für das Umweltschutzprotokoll einigten sich die Mitglieder des Antarktis­vertragssystems darauf, den Umweltschutzgedanken in den Mittelpunkt des gemeinsamen Handelns in der Antarktis zu stellen und die Idee einer Rohstoffausbeutung ­vorerst vollständig aufzugeben. Ein bemerkenswerter Wandel, wie Beobachter heute noch sagen.
5.8 > Der Ant­arktis­vertrag trat am 23. Juni 1961 offiziell in Kraft. Nur wenige Tage später, vom 10. bis 24. Juli 1961, trafen sich im austra­lischen Canberra die Vertreter der damaligen zwölf Unter­zeich­ner­staaten zur ersten offi­ziellen Sitzung der Mitglieder des Antark­tis­vertrags. Diese Treffen finden bis heute jährlich statt, zählen aber mitt­ler­weile deutlich mehr Teilnehmer.
Abb. 5.8 © National Publicity Studios, Wellington

Zusatzinfo Chinas wachs­endes Inter­esse an den Polar­regionen

Neue Akteure, neue Wahrnehmung

Die Zeit der Entspannung ist mittlerweile vorbei. Seit Inkrafttreten des Umweltschutzprotokolls im Jahr 1998 hat nicht nur das Ausmaß menschlicher Aktivitäten in der Antarktis insgesamt zugenommen. Auch die geopolitische Weltordnung hat sich verändert. Die Großmächte konkurrieren wieder stärker um Macht und Einfluss. Frühere Entwicklungs- und Schwellenländer wie China, Indien und Südkorea sind mittlerweile wirtschaftlich stark genug, ihre wachsenden politischen und wirtschaftlichen Interessen auch durch eine verstärkte Forschungspräsenz in der Antarktis zum Ausdruck zu bringen. Außerdem engagieren sich diese Länder immer häufiger in wichtigen wissenschaftlichen und technischen Gremien wie dem Wissenschaftlichen Ausschuss für Antarktisforschung ­(Scientific Committee on Antarctic Research, SCAR) und dem Rat der Leiter der nationalen Antarktisprogramme (Council of Managers of National Antarctic Programs, COMNAP). Letzterer ist die Dachorganisation aller nationalen Verbände und Institute, die in der Antarktis Forschungen betreiben. COMNAP koordiniert die Transportlogistik und die Forschungsprojekte und nimmt als Berater an den Treffen der Konsultativstaaten teil.
So mancher der Erstunterzeichnerstaaten des Antarktisvertrags sieht in dieser Entwicklung ein geopolitisches Risiko und unterstellt den aufstrebenden Nationen, vornehmlich strategisch und aus kommerziellen Interessen zu handeln. Aber auch alle westlichen Staaten haben in der Vergangenheit Interesse an den Ressourcen und Rohstoffen der Antarktis gezeigt. Politikwissenschaftler warnen deshalb vor einer Stigmatisierung der neuen Akteure. Diese könnte langfristig die friedliche Kooperation in der Antarktis gefährden. Stattdessen schlagen Kritiker vor, das Einstimmigkeitsprinzip in wichtigen Gremien wie den ATCM-Treffen oder aber in der Kommission CCAMLR abzuschaffen und ein demokratisches Mehrheitsprinzip einzuführen. Es brächte den Vorteil, dass auch über strittige Themen (wie zum Beispiel die Einrichtung von Meeresschutzgebieten unter CCAMLR) abgestimmt werden könnte, die bislang durch das Veto einiger weniger Mitgliedsstaaten blockiert werden. Gegen eine solche Lösung spricht jedoch die Tatsache, dass die Beschlüsse von den Mitgliedsstaaten in nationales Recht umgesetzt werden müssten. Staaten, die ein Veto in den Abstimmungen einlegten, wären nicht an die getroffenen Maßnahmen gebunden und hätten vermutlich kein Interesse, entsprechende Auflagen in nationale Gesetze zu gießen. Am Ende bestünde so die Gefahr, dass sich gerade die wichtigen Akteure nicht an die Beschlüsse halten würden. Textende