Küsten besser schützen
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WOR 5 Die Küsten – ein wertvoller Lebensraum unter Druck | 2017

Meeresspiegelanstieg begegnen

Dem Meeresspiegelanstieg begegnen © mauritius images/Frans Lemmens/Alamy

Dem Meeresspiegelanstieg begegnen

> Deiche, Mauern und Sperrwerke schützen Küsten vor Überflutungen. Doch der Meeresspiegelanstieg erfordert zusätzlich noch andere Lösungen, die die Auswirkungen der Natur einbeziehen und sich nach und nach an das steigende Wasser anpassen lassen. Manche Küsten aber werden trotzdem künftig unbewohnbar sein. Für die Betroffenen sollte schon heute eine neue Heimat gesucht werden, denn sie werden Klimaflüchtlinge sein.

Die Entwicklung des modernen Seedeichs

Die Bewohner der Küsten waren schon immer durch Überflutungen bedroht. Waren sie diesen anfangs schutzlos ausgeliefert, so lernten sie im Laufe der Zeit, Schutzwerke gegen Sturmfluten zu bauen. In manchen Ländern wurden Gebäude auf Stelzen errichtet, unter denen das Wasser hindurchströmen konnte, anderenorts wurden Häuser auf künstlich aufgeworfenen Erdhügeln gebaut. In Nordwesteuropa begann man bereits im 12. Jahrhundert mit dem Bau von Ringdeichen, um einzelne Siedlungen zu schützen. Die Gestalt der Deiche änderte sich im Laufe der Zeit. Anfang des 16. Jahrhunderts bestanden die Deiche vielerorts aus einer gut 2 Meter hohen Wand aus Holzpfählen, die durch einen dahinter aufgeschütteten Erdwall stabilisiert wurde. Weil diese sogenannten Stackdeiche bei schweren Sturmfluten aber von der Brandung zerschlagen wurden, ging man dazu über, Deiche nicht mehr steil aufzubauen, sondern mit lang gestrecktem und flachem Profil zu errichten, wo die Wellen bei Sturmfluten auslaufen konnten. Mitte des 18. Jahrhunderts hatten diese Deiche eine Höhe von etwa 5 Metern. Zwar erwies sich das flache Profil als sinnvoll, bei hoch auflaufenden Fluten aber wurden sie überspült. Durch das überlaufende Wasser wurden sie an der Rückseite ausgehöhlt, bis sie brachen. Deshalb ging man dazu über, immer höhere und flachere Deiche zu bauen. Heute haben die großen Seedeiche in Nordwest­europa eine Höhe von etwa 9 Metern. Sie weisen flache Böschungsneigungen von mindestens 1: 6 auf und sind an ihrem Fuß etwa 100 Meter breit. Damit halten sie auch bei hoch auflaufenden Sturmfluten Stand. Durch den Klimawandel und den damit verbundenen Anstieg des Meeresspiegels aber stehen die Küstenbewohner vor neuen Herausforderungen.
4.16 > Über mehrere Jahr­hunderte setzte man in den Niederlanden beim Schutz der Region um Amsterdam auf Stackdeiche – wie hier im Jahr 1702 an der Zuiderzee. Bei schweren Sturmfluten aber brachen diese immer wieder.
Abb. 4.16: Über mehrere Jahrhunderte setzte man in den Niederlanden beim Schutz der Region um Amsterdam auf Stackdeiche – wie hier im Jahr 1702 an der Zuiderzee. Bei schweren Sturmfluten aber brachen diese immer wieder. © Archive of the Regional Public Water Authority Amstel, Gooi and Vecht, Amsterdam

Der Klimawandel als neue Herausforderung für den Küstenschutz

Sollte der Meeresspiegel bis zum Ende dieses Jahrhunderts um 1 Meter und später gar um mehrere Meter steigen, werden die heute bewährten Küstenschutzanlagen nicht mehr ausreichen. Es muss also vielerorts aufgerüstet werden. Allerdings weiß niemand, wie stark oder schnell sich der Klimawandel und der Meeresspiegelanstieg vollziehen werden. Anders als in den Jahrhunderten zuvor, in denen die Ingenieure in der Lage waren, die Bauwerke so zu entwickeln, dass sie sich bei gegebenen Beding­ungen als tauglich erwiesen, stellt sich mit dem Klimawandel genau das als Frage: Welche Bedingungen sind denn in Zukunft gegeben? Der Küstenschutz muss mit unterschiedlichen Wahrscheinlichkeiten rechnen und die verschiedenen Szenarien des IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change, Weltklimarat) bei der Planung und Auslegung von Schutzsystemen berücksichtigen.
4.17 > Im Laufe der Zeit änderte sich das Profil der Deiche an der Nordseeküste Schleswig-Holsteins. Man ging dazu über, Deiche nicht mehr steil auf­zu­bauen, sondern mit lang gestrecktem und flachem Profil zu errichten, sodass die Wellen bei Sturmfluten auslaufen konnten.
Abb. 4.17: Im Laufe der Zeit änderte sich das Profil der Deiche an der Nordseeküste Schleswig-Holsteins. Man ging dazu über, Deiche nicht mehr steil aufzubauen, sondern mit lang gestrecktem und flachem Profil zu errichten, sodass die Wellen bei Sturmfluten auslaufen konnten. © LKN-SH

Dem Meeresspiegelanstieg stets einen Schritt voraus

Für Küsteningenieure stellt sich insbesondere die Frage, wie hoch oder stark Küsten­schutz­bauwerke heute schon ausgelegt werden sollten. Weil die künftige globale Entwicklung des Meeresspiegelanstiegs unsicher ist und man für einzelne Regionen sogar einen schnelleren Anstieg als im weltweiten Durchschnitt erwartet, wird angeregt, den Küstenschutz künftig flexibler zu gestalten. Gefordert wird für den Küsten­schutz ein sogenanntes Adaptive Pathways Design (angepasste Entwicklungs- und Auslegungsplanung). Damit bezeichnet man eine Planung von Küsten­schutz­maß­nahmen, welche den Veränderungen folgend kurzfristig angepasst und eben nicht auf ein unsicheres Bemessungsszenario für das Ende des Jahr­hunderts angelegt werden. Damit kann man quasi mit dem steigenden Wasser Schritt halten. Ein großes Sperr­werk, das bei Sturmfluten eine Flussmündung abriegelt, müsste komplett neu gebaut werden, wenn es aufgrund des steigenden Meeres­spiegels keinen aus­reich­enden Schutz mehr böte. Damit wäre die anfängliche Investition verloren. Sinnvoller ist es, kleinere Maßnahmen vorzusehen, die auf­einander aufbauen. Der Küstenschutz steht damit vor einem Paradigmenwechsel. Galt bislang die Devise, eine Küstenlinie allein durch große, starre Bauwerke zu halten, so sieht das Adaptive Path­ways Design auch ein Bündel verschiedener Konzepte und Maßnahmen vor, zu denen die gezielte Öffnung von Deichen und die Schaffung von Überflutungsflächen, von Poldern, zählen. Im Hinblick auf den Küstenschutz unterscheiden Experten heute folgende konventionelle und adaptive Küsten­schutz­prinzipien:

Konventioneller Küstenschutz

  • Resistance (Widerstand): Planung und Bau von Küstenschutzmaßnahmen mit großen Investitionen, die auf heutige Extremereignisse wie zum Beispiel Jahr­hundert­fluten ausgelegt sind. Dieser Ansatz entspricht der klassischen Methodik der Auslegung von Küstenschutzbauwerken. Der Nachteil besteht darin, dass es zu großen Schäden kommt, wenn diese Systeme doch einmal versagen, etwa bei einem Deichbruch.
  • Static Robustness (Statische Robustheit): Planung und Umsetzung von Küsten­schutz­maßnahmen, die schon heute auf das Worst-Case-Klimaszenario ausgelegt sind. Dieses Prinzip hat Nachteile. Zum einen müss­ten heute enorme Investitionen getätigt werden. Zum anderen werden die Baumaßnahmen nach dem heutigen Wissen über den Klimawandel ausgelegt. Das birgt die Gefahr, dass die Schutzmaßnahmen nicht ausreichend sind, wenn sich der Klimawandel noch stärker ausprägen sollte als heute erwartet.

 

Abb. 4.18: In den Niederlanden bereitet man sich auf künftige Überflutungen vor: Ingenieure haben schwimmende Siedlungen errichtet wie hier bei Maasbommel. Die amphibischen Häuser sind an Pfosten verankert und reagieren flexibel auf Hochwasser. © Swart/Hollandse Hoogte/laif

4.18 > In den Niederlanden bereitet man sich auf künftige Überflutungen vor: Ingenieure haben schwimmende Siedlungen errichtet wie hier bei Maasbommel. Die amphibischen Häuser sind an Pfosten verankert und reagieren flexibel auf Hochwasser.

Adaptiver Küstenschutz

  • Resilience (Belastbarkeit): Planung und Bau von Küstenschutzmaßnahmen, die so ausgelegt sind, dass ein Versagen nicht zu Verlusten und großen Schäden an Infrastruktur, Bauten oder Ökosystemen führt, sondern eine schnelle Erholung oder Wiederherstellung möglich ist. Das kann etwa durch den Bau schwimmender Häuser erreicht werden. Auch lassen sich beispielsweise Straßen und Schienen höher legen und auf Dämmen errichten. In einem solchen Fall bleiben die Schäden begrenzt. Im Idealfall lassen sich Schäden gänzlich vermeiden.
  • Dynamic Robustness (dynamische Robustheit): Küstenschutzmaßnahmen werden nacheinander umgesetzt, in dem Maße, wie es neue Erkenntnisse über die Entwicklung des Klimawandels gibt. Dieses Prinzip folgt dem Konzept der No-Regret-Strategie (englisch „no regret“ = ohne Bedauern). Damit werden Maß­nahmen bezeichnet, die auch dann noch einen gesellschaftlichen Nutzen haben, wenn der Klimawandel stärker oder schwächer ausfällt als erwartet, und mit denen im Fall von Fehlannahmen in den Szenarien kein irreparabler Schaden entsteht. Ein Beispiel für eine No-Regret-Maßnahme ist die Schaffung eines Polders, der nicht nur dem Küstenschutz dient, sondern zugleich als Naher­ho­lungs- oder Naturschutzgebiet fungiert – und daher einen gesell­schaft­lichen oder ökolo­gischen Mehrwert hat. Der Nachteil besteht darin, dass anders als beim Konzept der statischen Robustheit der Küstenschutz nicht mit einer Maßnahme in kurzer Zeit hergestellt, sondern über längere Zeit durch ergänzende und aufein­ander aufbauende Maßnahmen immer wieder erweitert werden muss. Dafür bedarf es einer langfris­tigen und sich stetig anpassenden Planung, aber auch eines Manage­ments, das sich auf einen Zeitraum von vielen Jahrzehnten bezieht oder sogar mehr als ein ganzes Jahrhundert im Blick hat.

London geht mit gutem Beispiel voran

Das Gros der Küstenschutzmaßnahmen weltweit folgt auch heute noch dem klas­sischen Resistance-Prinzip, doch gibt es in mehreren Ländern erste Konzepte, die der Idee des Adaptive Pathways Design folgen. Ein aktuelles Beispiel ist der Schutz der Themsemündung in England. Um London vor Überschwemmungen bei Sturm­fluten zu schützen, wurde 1984 ein großes Flutsperrwerk, die Thames Barrier, fertiggestellt. Es ist mit großen beweglichen Fluttoren ausgestattet, die bei Sturmfluten geschlossen werden und verhindern sollen, dass die Hochwasserwelle London von der Seeseite her erreicht. Anfang dieses Jahrhunderts begann eine Diskussion darüber, ob dieses Sperrwerk durch ein neues und noch größeres, weiter flussabwärts in der Themse­mündung gelegenes Sperrwerk ersetzt werden sollte, weil man befürchtete, dass das alte den höher auflaufenden Sturmfluten in der Zukunft keinen aus­reich­venden Widerstand bieten wird. Die Konsequenzen für die Bewohner Londons und die zu erwartenden Schäden wären immens. Die infolge des Klimawandels und Meeres­spiegel­anstiegs angenommenen Sturmfluten könnten die Kapazitäten von Thames Barrier übersteigen. Sie würden 1,25 Millionen Menschen akut bedrohen, die in den überflutungsgefährdeten Gebieten leben und arbeiten; ferner etwa 500 000 Wohnun­gen, 40 000 gewerbliche und industrielle Objekte, wichtige Regierungs­gebäude,
400 Schulen und 16 Hospitäler.

Polder
Der Begriff „Polder“ stammt aus dem Nieder­län­dischen und bezeichnete ursprünglich ein Stück Land, das durch Deiche vor Hochwasser geschützt wird. Im Kontext des Küstenschutzes werden mit „Polder“ Flächen bezeichnet, die bei Hochwasser gezielt überflutet werden, um die Spitze einer Flutwelle zu verringern.

Küstenschutzfahrplan für die Zukunft

Der Neubau des bis zu 5 Milliarden Pfund teuren neuen Sperrwerks in der Themse wurde als alleinige Lösung abgelehnt. Stattdessen erstellten die Behörden in Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern eine Art Fahrplan eines zukünftigen Küstenschutzes, der entsprechend dem Adaptive Pathways Design verschiedene Maßnahmen vorsieht, die mit fortschreitendem und beschleunigtem Meeres­spiegel­anstieg verwirklicht werden sollen. Mit dem Thames-Estuary-2100-Plan ist ein Maßnahmenkatalog entstanden, der trotz großer Unsicherheiten über die Entwicklung des Klimawandels klare Handlungsoptionen für den adäquaten Umgang mit der dann anstehenden Gefährdungslage gibt. Zudem werden die finanziellen Belastungen, die sich durch die Investitionen für einen Neubau des Sperrwerks ergäben, damit so lange wie möglich vermieden. Im Detail wurden in diesem Entwick­lungs­plan kritische Zeitpunkte ausgewiesen, zu denen künftig über geplante Maßnahmen entschieden werden soll – beziehungsweise zu denen die Maßnahmen durchgeführt sein müssen. Zudem wurde in Abstimmung mit den umliegenden Graf­schaften festgelegt, welche Maßnahmen an den verschiedenen Flussabschnitten zwischen London und der Nordsee durchgeführt werden sollen. Zu den Maßnahmen zählen in chronologischer Reihenfolge
Option 1: Klassische Schutzanlagen
  • Erhöhung bestehender Schutzanlagen (Schutzwände, Deiche etc.);
  • alte Schutzanlagen, die ersetzt werden müssen, durch höhere ersetzen;
  • neue Schutzanlagen so konstruieren, dass sie sich leicht reparieren, ersetzen oder erhöhen lassen.
Option 2: Überflutungsflächen schaffen
  • Errichtung von Poldern, wofür bereits im Mündungsgebiet der Themse vier große Gebiete festgelegt worden sind.
Option 3: Neues Sperrwerk
  • Bau eines neuen Sperrwerks, für das schon mögliche Bauplätze festgelegt und die rechtlichen Rahmenbedingungen geschaffen worden sind, sodass bei Bedarf ohne aufwendige Abstimmung schnell mit dem Bau begonnen werden kann.
Option 4: Massives Sperrwerk
  • Bau eines Sperrwerks, das im Gegensatz zu dem heutigen ständig geschlossen ist, um bei erhöhtem Meeresspiegel das Wasser permanent abzuhalten. Dieses Sperrwerk wird mit Schleusen für den Schiffsverkehr ausgestattet.

Abb. 4.19: Stahlkoloss gegen Sturmfluten: Nach den verheerenden Überschwemmungen von 1953, der sogenannten Hollandsturmflut, begann man in den Niederlanden große Teile der Flussmündungen mit Deichen und Sperrwerken zu schützen. Hier zu sehen ist das Maeslant-Sperrwerk, das einen Teil der Rheinmündung und den Hafen bei Rotterdam schützt. © mauritius images/Frans Lemmens/Alamy

4.19 > Stahlkoloss gegen Sturm­fluten: Nach den verhee­renden Überschwem­mungen von 1953, der sogenannten Holland­sturmflut, begann man in den Niederlanden große Teile der Flussmündungen mit Deichen und Sperrwerken zu schützen. Hier zu sehen ist das Maeslant-Sperrwerk, das einen Teil der Rheinmündung und den Hafen bei Rotterdam schützt.

Die Niederlande unter Druck

Weil weite Teile des Landes unter dem Meeresspiegel liegen, sind künftig die Nieder­lande und das niederländisch-belgische Grenzgebiet, das im flachen Mündungs­bereich des Flusses Schelde liegt, bedroht. Der Meeresspiegel­anstieg und die damit ausgelösten Prozesse stellen für ­diese Regionen eine doppelte Gefahr dar. Zum einen wird befürchtet, dass Deiche und Schutzbauwerke bei steigendem Meeresspiegel und entsprechend höher auflaufenden Sturmfluten überspült oder beschädigt werden. Zum anderen wird für Westeuropa erwartet, dass mit dem Klimawandel künftig die Nieder­schläge zunehmen, sodass Flüsse im Binnenland häufiger über die Ufer treten könnten. Wenn beides zusammenkommt – hohe Wasserstände vor der Küste und starke Regenfälle im Binnenland –, kann das Flusswasser nicht ins Meer ablaufen, sodass es sich im Binnenland staut.
Insgesamt leben in den tief liegenden Gebieten der Niederlande etwa 9 Millionen Menschen. Zudem konzentrieren sich hier hohe ökonomische Werte wie Infra­struk­turen und Gewerbe- und Industrie­unternehmen. Die Stadt Rotterdam zum Beispiel liegt mitsamt ihrem Hafen, dem größten Europas, schon heute durch­schnitt­lich 2 Meter unter Normalnull. Die tief liegenden Gebiete werden seit vielen Jahren durch massive Strukturen wie Deiche, Dämme oder Hoch­wasser­schutzwände gesichert. Zudem wurden seit den 1950er-Jahren Hochwasserschutzsysteme mit großen Sperrwerken errichtet, die viele ehemalige Meeresbuchten und auch die Flüsse permanent oder bei Sturmflut zur Nordsee hin abriegeln. Um dieses System für den Meeresspiegelanstieg aufzurüsten, rechnet man in den Niederlanden bis zum Jahr 2050 mit Ausgaben von bis zu 1,6 Milliarden Euro jährlich. Sollten die massiven Küstenschutzeinrichtungen trotz dieser Investitionen versagen und die Region über­flutet werden, könnten die Schäden nach derzeitigen Schätzungen eine Höhe von bis zu 3700 Milliarden Euro erreichen.

Dem Wasser Raum geben

Angesichts der enormen Kosten für den Unterhalt der Küstenschutzbauten und des enormen Risikos, das ein Versagen der Küstenschutzeinrichtungen bedeutet, geht man in den Niederlanden seit 2012 mit dem „Ruimte voor de Rivier“-Projekt (Raum für den Fluss) einen zusätzlichen Weg. Sind bis heute viele Flüsse durch Deiche und Schutzwände geradezu kanalisiert worden, so werden jetzt bis zum Projektende im Jahr 2019 mehr als 30 einzelne Maßnahmen an den niederländischen Flüssen Maas, Rhein und Waal durchgeführt, um die Hochwassergefahr zu verringern. Dazu zählen:
  • Verbreiterung von Flussbetten, damit diese mehr Wasser aufnehmen können;
  • Vertiefung von Flüssen;
  • Neubau separater Kanäle, die den Hauptstrom entlas­ten und ein wesentliches landschaftsgestalterisches Element für neue Wohngebiete sein sollen, die zeitgleich realisiert werden;
  • Rückverlegung von Deichen und Schaffung breiter Polder, um dem Hochwasser mehr Raum zu geben.
Mit diesen Maßnahmen folgt das „Ruimte voor de Rivier“-Projekt teils auch der Initia­tive „Building with Nature“ (Bauen mit der Natur), die in den vergangenen Jahren von niederländischen Küstenschutzexperten, Ingenieurbüros, Behörden und Forschern gemeinsam gestartet wurde und inzwischen in mehreren Pilotprojekten umgesetzt worden ist. „Bauen mit der Natur“ bedeutet, dass Küsten- und Hoch­wasser­schutz­maßnahmen so gestaltet werden, dass sie sich an die natürlichen Gegebenheiten anpassen und zugleich neue Flächen für die Entwicklung von Natur­räumen bieten. Ein Beispiel ist die Rückverlegung von Deichen und die Schaffung von Flutpoldern, in denen sich artenreiche Feuchtgebiete entwickeln können. Das „Bauen mit der Natur“-Prinzip ergänzt den klassischen Küstenschutz, der sich eher mit dem Prinzip „Bauen in der Natur“ beschreiben lässt. Mit diesen klassischen Maßnahmen werden starre, künstliche Strukturen in die Landschaft gesetzt, die wie ein Fremdkörper wirken und Naturräume oftmals eher zerschneiden.

Großprojekt Scheldemündung

Eines der ersten Großprojekte, das dem „Bauen mit der Natur“-Gedanken folgt, ist die Schaffung mehrerer Polder entlang der Scheldemündung auf belgischer und nieder­län­discher Seite. Dafür wird die alte Deichlinie jeweils zu einem flachen Über­flutungs­deich abgetragen und der neue Deich zurückverlegt, sodass ein Polder entsteht. Dieser wird zum Fluss hin durch den Überflutungsdeich begrenzt, der nur bei hohem Wasserstand überspült wird. Zusätzlich wird der Wasserstand im Polder durch ein im Über­flutungs­deich installiertes Siel reguliert. Der Sinn der flachen Über­flutungs­deiche besteht darin, das Wasser im Polder zurückzuhalten, damit sich dort Feucht­gebiete bilden. Insgesamt werden die Polder eine Fläche von 40 Quadrat­kilometern haben. Im Fall eines Hochwassers können sie große Wasser­mengen zusätzlich aufnehmen und das Hinterland künftig vor Überflutungen schützen.
4.20 > An der Scheldemündung werden neue Polder gebaut. Dazu wird der ehemalige Hauptdeich (A) abgetragen und zu einem Überflutungsdeich umfunktioniert. Der Wasserstand im Polder wird über ein Siel (B) reguliert, sodass sich ein Feucht­gebiet (C) bildet. Gegen hoch auflaufendes Hochwasser schützt der neue Hauptdeich (D), der weiter hinten liegt.
Abb. 4.20: An der Scheldemündung werden neue Polder gebaut. Dazu wird der ehemalige Hauptdeich (A) abgetragen und zu einem Überflutungsdeich umfunktioniert. Der Wasserstand im Polder wird über ein Siel (B) reguliert, sodass sich ein Feuchtgebiet (C) bildet. Gegen hoch auflaufendes Hochwasser schützt der neue Hauptdeich (D), der weiter hinten liegt. © Yves Adams/vildaphoto
Auf etwa 60 Prozent der Polderfläche sollen sich Feuchtgebiete natürlich entwickeln, die unter anderem als Brutgebiete für Vögel dienen werden. 2006 wurde der erste Polder angelegt. 2030 soll das Projekt abgeschlossen sein. Die Gesamtkosten betra­gen rund 600 Millionen Euro. Im Vergleich dazu wären die Hochwasserschäden, die sich ergeben würden, wenn man die Polder nicht ­baute, deutlich größer. Diese könnten sich bis zum Jahr 2100 auf bis zu 1 Milliarde Euro jährlich belaufen.

Andere Küsten, andere Maßnahmen

Wie die belgischen und niederländischen Experten betonen, ist das „Bauen mit der Natur“ sowohl in Flussmündungen oder Deltas als auch an Sandküsten möglich. Letztere sind vor allem durch die Erosion betroffen, die sich im Zuge des Klima­wandels durch häufigere oder höhere Sturmfluten noch verstärken könnte. Liegt Bebauung vor, können Gebäude beschädigt oder auf Dauer zerstört werden. Viele Sandküsten werden deshalb mit massiven Schutzbauten geschützt. Dazu gehören insbesondere Steinbuhnen, die wie lange Finger vom Ufer ins Meer hinausragen und die Wasserströmung am Ufer deutlich verringern. Diese Buhnen verhindern, dass bei starkem Wellengang Material von der Küste erodiert wird. Das birgt aber zugleich ein Problem, sofern die Hauptströmung parallel zur Küste verläuft. Normalerweise lagert sich Sediment, das an einem Ort abgetragen wird, an anderer Stelle wieder an. Es steht also dem Schutz der sandigen Küste an anderer Stelle wieder zur Verfügung. Wird dieser natürliche Sedimenttransport durch Buhnen unterbunden, können andere Küstenabschnitte ihrerseits stärker erodieren, weil der Nachschub ausbleibt. Durch den Bau von Buhnen kann es also an anderer Stelle zu einem Mangel an Sediment und zu einem langsamen Verlust von Stränden und Schutzdünen kommen.

Künstliche Insel als Sedimentspender

An vielen Küsten weltweit müssen Strände nach der Sturmsaison durch künstliche Aufspülungen wiederhergestellt werden. Dabei wird meist über Rohrleitungen Sand vom tieferen Meeresboden ans Land gepumpt oder der Sand mit Schiffen heran­trans­portiert. Diese regel­mäßigen Strandaufspülungen sind eine akzeptierte, aber aufwen­dige und teure Küstenschutzmaßnahme. In den ­Flächen, in denen der Sand abgebaut beziehungsweise aufgespült wird, kann es zudem zu Störungen der Lebens­ge­mein­schaften kommen. Im Rahmen der „Bauen mit der Natur“-Initiative wurde deshalb ein Pilotprojekt gestartet, das die Erosionsproblematik an einem 17 Kilometer langen Küstenstreifen der Niederlande auf andere Weise lösen soll. Dazu wurde eine hakenförmige Halbinsel mit einem Volumen von 21 Millionen Kubikmetern aufgespült. Mit einer solchen Menge Sand könnte man etwa 60 Fuß­ballfelder 50 Meter hoch bedecken. Die künstliche Insel fungiert als natürliches Sanddepot, das durch Wellen, Ge­zeitenströme und den Wind über mehrere Jahrzehnte abgetragen wird und den Stränden an dem 17 Kilometer langen Küstenabschnitt permanent frisches Sediment zum Ausgleichen der Erosion liefert. Diese Maßnahme erspart nicht nur den Bau neuer massiver Buhnen, sondern auch jährliche Aufspülungen an vielen Orten entlang der Küste. Dank dieser einmaligen Aufspülung entfallen zudem über einen langen Zeitraum die ständigen Störungen des Ökosystems durch jährlichen Sandab­bau.
4.21 > Seit 2013 wird bei New Orleans Sand aus dem Missis­sippi über eine mehr als 20 Kilometer lange Rohrleitung in das Delta gepumpt. So entstehen Sandbänke, auf denen sich mehrere Quadratkilometer große Salzwiesen entwickeln. Diese wirken als natürlicher Küstenschutz.
Abb. 4.21: Seit 2013 wird bei New Orleans Sand aus dem Mississippi über eine mehr als 20 Kilometer lange Rohrleitung in das Delta gepumpt. So entstehen Sandbänke, auf denen sich mehrere Quadratkilometer große Salzwiesen entwickeln. Diese wirken als natürlicher Küstenschutz. © Patrick M. Quigley/www.gulf coastalairphoto.com/Coastal Protection and Restoration Authority
Im Mississippidelta vor der Küste des US-Bundesstaats Louisiana sind natürliche Küstenschutzmaßnahmen von noch größeren Dimensionen geplant. Das Delta ist stark von Überschwemmungen und Erosion betroffen, weil aufgrund von Staustufen entlang des Flusses heute kaum mehr Sediment aus dem Fluss ins Delta gelangt. In einem Großprojekt, das mehr als 100 Einzelmaßnahmen vorsieht, soll das Delta wieder wachsen und die Gefahr von Überflutungen verringert werden.
Seit 2013 wird zum Beispiel über eine mehr als 20 Kilometer lange Pipeline Sand hinaus ins Delta transportiert. Dieser wird mit Baggerschiffen im Mississippi gewonnen und von Bord der Schiffe direkt in die Pipeline gepumpt. Dadurch werden ökologisch wertvolle Sandbänke geschaffen, auf denen sich in den kommenden Jahrzehnten mehrere Quadratkilometer große Salz­wiesen entwickeln, die als natürlicher Küsten­schutz wirken. Konkret sollen somit Orte südlich von New Orleans vor Über­flu­tungen geschützt werden. An anderen Stellen entlang der Küste Louisianas werden derzeit durch Baggerarbeiten Dünen wiederhergestellt und Strände verbreitert.

Muscheln schützen Küsten

Eine weitere ökosystembasierte Küstenschutzmaßnahme, die in Louisiana, in den Niederlanden und auch an anderen Küsten zum Einsatz kommt, ist die Schaffung von Austernbänken vor der Küste. Diese wirken wie ein natürlicher Wellenbrecher, der der Brandung bei Sturmfluten einen großen Teil der Energie nimmt, ehe diese das Ufer erreicht. Der Vorteil der Austernbänke besteht darin, dass sich diese von selbst erhalten, weil sich in jedem Jahr junge Muschellarven ansiedeln. Künstliche Wellen­brecher hingegen müssen regelmäßig gewartet und ausgebessert werden. Für die Ansiedlung der Austernbänke werden in vielen Fällen Drahtkörbe mit leeren Musch­el­schalen auf den Meeresboden gesetzt. Diese Muscheln bieten frei­schwim­menden Muschellarven einen festen Untergrund, auf dem sie sich ansiedeln und zu ausge­wachsenen Muscheln entwickeln. Da sich von Jahr zu Jahr neue Larven ansiedeln, entsteht nach und nach ein Riff.

Der ökosystembasierte Ansatz – ein Trend mit Zukunft

Das niederländische „Bauen mit der Natur“-Konzept gilt inzwischen in vielen Ländern als Vorbild für einen naturnahen Schutz vor Sturmfluten und Binnenhochwasser. International spricht man heute von Ecosystem-based Coastal Defence (öko­sys­tem­basierter Küstenschutz). In Deutschland beispielsweise hat man an der Elbe im Süden der Stadt Hamburg in einem großen Pilotprojekt einen Deich zurückverlegt, um dort den Kreetsand-Polder zu schaffen. Dieser Polder soll das Umland vor Überflutungen durch Binnenhochwasser schützen, die nach lang anhaltenden Regenfällen auftreten. Dieses Projekt ist bemerkenswert, denn in Deutschland und auch vielen anderen Ländern gibt es trotz der Großprojekte in den Nieder­landen durchaus Vorbehalte gegen einen ökosystem­basierten Küstenschutz. Denn noch haben Fachleute erst relativ wenig Erfahrung mit solchen alternativen Maßnahmen. Noch ist zu wenig über die Schutzwirkung und Dauerhaftigkeit bekannt. Zudem fehlt es an Standards zum Bau und Management ökosystembasierter Alter­nativen. Daher vertraut man bislang eher dem klassischen Küstenschutzansatz mit starren Schutzbauten. Schließlich ist das Wissen über das Design und den Bau klassischer Küstenschutzanlagen wie etwa Deichen oder Flutwehren über viele Jahrzehnte gewachsen. Man hat aus Flut­katas­tro­phen gelernt, wie diese Bauwerke gestaltet sein müssen, damit sie auch bei schweren Sturmfluten einen ausreichenden Schutz bieten.

Alternativer Küstenschutz im Praxistest

Um die Zuverlässigkeit von ökosystembasierten Lösungen in der Praxis besser ein­schät­zen zu können, gibt es aktuell mehrere Testprojekte. Auf der indonesischen Insel Bali beispielsweise wird eine ökosystembasierte Konstruktion mit einem klas­sischen, „harten“ Küstenschutzbau ver­glichen. Bali ist für Touristen aus aller Welt ein beliebtes Ferienziel, das sich vor allem durch seine weiten Strände und das klare Wasser auszeichnet. Der Erhalt der Schönheit und Unversehrtheit der Küsten ist daher von hoher wirtschaftlicher und sozialer Bedeutung.
Im konkreten Projekt geht es darum, einen Küsten­abschnitt an der von Erosion betrof­fenen Südseite Balis zu schützen. Hier trägt starker Wellengang viel Sediment fort, und an frischem Sediment herrscht Mangel, weil die Region von felsigen Halbinseln eingerahmt ist, die den Transport von Sediment verhindern. In einer Kooperation von Küstenvingenieuren aus Europa, lokalen Behörden und der Bevöl­kerung vor Ort wird nun eine neu geschaffene Schutz­konstruktion aus Bambus­pfählen und Kokos­faser­matten mit der Wirkung einer vor Kurzem erbauten, knapp 2 Meter hohen Schutz­mauer aus Beton verglichen. Da von anderen Küsten­abschnitten Balis bekannt ist, dass starre Schutzwände die Erosion verstärken können, weil sie die Brandung und den Wellenablauf verändern, will man jetzt herausfinden, ob die Konstruktion aus natürlichen Materialien besser geeignet ist, den Strand vor weiterem Abbruch bei starker Brandung zu schützen. Die Konstruktion besteht aus einer Reihe von Bambuspfählen, hinter die Kokosmatten auf dem Strand ausgerollt werden. Damit sie nicht fortgespült werden, werden die Matten hinter den Pfählen in den Sand einge­gra­ben und anschließend mit kleinen Setzlingen eines einheimischen Dünen­grases bepflanzt, die im Laufe der Zeit ein dichtes Wurzel­geflecht bilden und die Konstruktion stabilisieren sollen.
4.22 > Während man beim klassischen Küstenschutz Deiche oder andere künstliche Bauwerke im Zuge des Klimawandels erhöhen muss, schöpft man beim ökosystembasierten Küsten­schutz das ­natürliche Potenzial des Küstenraums aus. Statt mit immer höheren Deichen (A) dem Wasser Grenzen zu setzen, kann man in Mündungs­gebieten dem Meer durch den Bau von Poldern mehr Raum gegeben (B). Sandküsten können statt durch Buhnen und Strandmauern (C) zukünftig durch das Aufspülen von Depots (D) geschützt werden, die Küstengebiete über Jahrzehnte mit Sand versorgen.
Abb. 4.22: Während man beim klassischen Küstenschutz Deiche oder andere künstliche Bauwerke im Zuge des Klimawandels erhöhen muss, schöpft man beim ökosystembasierten Küstenschutz das ­natürliche Potenzial des Küstenraums aus. Statt mit immer höheren Deichen (A) dem Wasser Grenzen zu setzen, kann man in Mündungsgebieten dem Meer durch den Bau von Poldern mehr Raum gegeben (B). Sandküsten können statt durch Buhnen und Strandmauern (C) zukünftig durch das Aufspülen von Depots (D) geschützt werden, die Küstengebiete über Jahrzehnte mit Sand versorgen. © nach Temmermann

Ein solcher direkter Vergleich zwischen einer klassischen und einer öko­system­ba­sier­ten Konstruktion bezüglich Leistungsfähigkeit und Schutzwirkung ist für die Insel Bali neu. Da die Bambus-Kokosfaser-Konstruk­tion erst in jüngster Zeit fertiggestellt worden ist, liegen noch keine Erkenntnisse darüber vor, wie leistungsfähig sie ist. Sollte sich der Schutz aus Bambus und Kokosfasermatten allerdings bewähren, hätte das folgende Vorteile:
  • Kostenersparnis: In der Vergangenheit wurden für den Bau von Küsten­schutz­anlagen aus Beton Spezialisten und Arbeiter nach Bali eingeflogen. Das verur­sachte sehr hohe Kosten. Die Konstruktion aus Bambus und Kokos­fasern ist günstiger als ein Bauwerk aus Beton.
  • Expertise vor Ort: Bislang fehlte es an Spezialisten vor Ort, die die Betonbauwerke regelmäßig prüfen und warten, weshalb diese an vielen Stellen schadhaft sind. Beim Bau der Anlagen aus Bambuspfählen und Kokosfasermatten hingegen helfen Einheimische mit. Diese verfügen damit auch über das nötige Wissen, um die Anlagen instand zu halten.
  • Nutzung einheimischer und nachwachsender Ressourcen: Bambus und Kokos­fasern sind traditionelle, nachwachsende Materialien, die vor Ort gewonnen werden. Lange Transportwege entfallen.
  • Schaffung von Arbeitsplätzen: Durch den Bau und die Wartung der natürlichen Küstenschutzanlagen entstehen vor Ort Arbeitsplätze.
  • Identifikation mit dem Küstenschutz: Da die Einheimischen den Küstenschutz selbst errichten, entsteht eine andere Beziehung zum Bauwerk und ein Gefühl der Verantwortung für dessen Erhalt. Bei Konstruk­tionen, die von Fremdfirmen errichtet werden, wird die Pflege des Bauwerks oft vernachlässigt.
Weltweit gibt es inzwischen eine ganze Reihe weiterer Projekte für einen öko­system­basierten, „weichen“ Küstenschutz, die bereits umgesetzt wurden oder aktuell in der Planung sind. Experten für ökosystembasierten Küstenschutz empfehlen, neue Projekte zunächst in kleinen Pilotmaßnahmen zu testen und deren Eignung und Auswirkungen von interdisziplinären Teams aus Ingenieuren, Landschaftsplanern und Sozialwissenschaftlern zu prüfen. Insbesondere ist vorab zu untersuchen, inwieweit die Bevölkerung den Küstenschutz akzeptiert. Vor der Schaffung von Poldern etwa müssen vor allem die Besitzer und Nutzer der Flächen einbezogen werden. Wenn die Pilotprojekte erfolgreich sind, sollten die neuen Ideen dann Schritt für Schritt in größere Projekte überführt werden.

Seegras – eine Pflanze mit Potenzial

Eine neue Idee für den Küstenschutz, die in den nächsten Jahren in Pilotprojekte münden soll, ist die Ansiedlung von Seegraswiesen. Seegräser wachsen länglich und krautartig und ähneln damit den Gräsern an Land. Zudem bilden sie – anders als Tange, die sich zumeist am festen Untergrund anheften – Wurzeln aus, dank derer sie starken Wellenbewegungen widerstehen und das Sediment vor Belastungen und sukzessivem Abtrag schützen können. Sind Korallenriffe und Mangroven seit Langem als natürliche Wellenbrecher bekannt, so wurde die Bedeutung von Seegraswiesen für den Küstenschutz hingegen erst in den letzten Jahren deutlich, nachdem sie in vielen Küstenregionen abgestorben waren. Gründe dafür sind die Wasserverschmutzung und in überdüngten Gebieten das starke Algenwachstum, das zur Trübung des Wassers führt. Wo heute das Seegras fehlt, wird jetzt häufig verstärkt Sediment abgetragen. Neues Seegras siedelt sich kaum wieder an. Keimlinge finden keinen Halt mehr, weil in den kahlen Bereichen die Strömung zu stark ist.
Ein internationales Forscherteam aus Küsteningenieuren, Geoökologen und Materialwissenschaftlern arbeitet deshalb an Methoden, um die Ansiedlung von Seegras zu erleichtern. Sie entwickeln Kunststoffmatten aus künstlichem Seegras, die sie künftig am Meeresboden auslegen wollen. Das künstliche Seegras soll die Wasserströmung so weit reduzieren, dass sich wieder Seegraskeimlinge ansiedeln können. Zudem sind diese Matten so luftig gewebt, dass der Meeresboden darunter nicht hermetisch abgeriegelt wird und keine Organismen absterben. Während die Materialforscher die geeignete Kunststoffrezeptur für den Einsatz im Meerwasser entwickeln, führen die Ingenieure aktuell Experimente im Strömungskanal einer Hochschule durch. Mit diesen Experimenten wird man erstmals exakt quantifizieren können, wie stark die dämpfende Wirkung von Seegraswiesen im Hinblick auf den Küstenschutz ist. Auch will man herausfinden, wie schnell sich Seegraskeimlinge ansiedeln.

Salzwiese und Deich im Wellenkanal

Wie beim Seegraskonzept ist heute auch bei einigen an­deren ökosystembasierten Küstenschutzlösungen noch nicht genau ermittelt, wie stark deren Schutzwirkung ist. Eine solche Quantifizierung ist wichtig, um einschätzen zu können, inwieweit sie künftig in der Lage sind, den klassischen Küstenschutz zu ergänzen oder gar zu ersetzen. So sind Salzwiesen, die an vielen Stellen entlang der Nordseeküste vor den Deichen liegen, zwar bekannt dafür, dass sie bei Sturmflut auflaufende Wellen bremsen. In welchem Maße dies allerdings geschieht, weiß man nicht genau. So hat man noch nicht ermessen können, wie groß die Schutzwirkung dicht bewachsener Salz­wiesen ist, wenn die Halme der Gräser durch die Wellen brechen. Für entsprech­ende Messungen wurde nun vor Kurzem ein echtes Stück Salzwiese im Wattenmeer abgetragen und in einem 300 Meter langen Wellenkanal starker Bran­dung ausgesetzt. Wie sich zeigte, verringerte sich die Schutzwirkung kaum, wenn die Halme brachen.
4.23 > In einem Wellenkanal wurde erstmals genau vermes­sen, wie gut Salzwiesen mit hohem Bewuchs die Brandung dämpfen können.
Abb. 4.23: In einem Wellenkanal wurde erstmals genau vermessen, wie gut Salzwiesen mit hohem Bewuchs die Brandung dämpfen können. © Dr. Iris Möller, Cambridge Coastal Research Unit, Department of Geography, University of Cambridge
Bis heute gilt als Regel im Küstenschutz, die Grasnarbe von Deichen durch Schaf­be­wei­dung möglichst kurz zu halten. Zum einen wird durch den Tritt der Hufe der Boden verfestigt, sodass die Deiche bei Überflutung nicht aufweichen. Zum anderen soll durch die Beweidung verhindert werden, dass krautige Pflanzen in die Höhe wachsen. Wellen könnten sonst Pflanzenbüschel ausreißen, wodurch Löcher im Deich entstünden, die durch den Wellenschlag vergrößert würden. Im Extremfall könnte dies zu Deichbrüchen führen.
Erstmals untersuchen Küsten­ingenieure, inwieweit Deiche künftig mit verschiedenen Blütenpflanzen begrünt werden könnten, um damit artenreiche Wiesenbiotope zu schaffen. In einem Wellenbecken wird daher jetzt ein Deich in Originalgröße nach­ge­baut, der mit verschiedenen Mischungen aus Wildblumen begrünt werden soll. Um herauszufinden, welche Pflanzenmischung ein dichtes Wurzelwerk bildet, das die Grasnarbe festigt, und welche Wildblumen dauerhaft Überflutungen mit Salzwasser ertragen, werden sogar Sturmfluten simuliert.

Eine Synthese aus Alt und Neu

Bevor ökosystembasierte Maßnahmen als Alternativen im Küstenschutz breite Akzeptanz finden, werden weiter derartige Untersuchungen nötig sein. Ungeachtet dessen wird man den Herausforderungen, die der steigende Meeresspiegel mit sich bringt, künftig am besten mit einer Kombination aus dem ökosystembasierten und dem klassischen Küstenschutz begegnen. In den Niederlanden und Deutschland wird man beispielsweise nicht vollständig auf Deiche verzichten können.
Klar ist aber auch, dass beispielsweise durch Deiche kanalisierte Flussmündungen allein künftig keinen ausreichenden Schutz mehr werden bieten können. Das zeigen auch mathematische Modellrechnungen eines Teams australischer, deutscher und US-amerikanischer Forscher, die berechneten, wie sich die Wellendynamik verändert, wenn das Wasser durch den Meeresspiegelanstieg höher aufläuft. Unter der Annahme, dass die Watten nicht proportional zum Anstieg des Meeresspiegels mitwachsen werden, stellten sie fest, dass die Wellen nicht nur um den Betrag des Meeresspiegelanstiegs an Höhe gewinnen. Vielmehr wächst ihre Höhe über­pro­por­tional. Das liegt daran, dass die Bodenreibung geringer wird, wenn das Wasser höher steht. Die bremsende Wirkung des Untergrunds lässt also nach.
Beunruhigend ist, dass dieser Effekt bereits deutlich zum Tragen kommt, wenn der Meeresspiegel nur um wenige Zentimeter höher ist. Wellen könnten aufgrund dieses Effektes um bis zu 56 Prozent höher auflaufen. Einen solchen Effekt berücksichtigt man bisher bei der Berechnung der Höhe von Küstenschutzbauten nicht. Derzeit wird lediglich der Betrag, um den der Meeresspiegel künftig voraussichtlich steigen wird, als Sicherheitsaufschlag in die Bauplanung einbezogen.

Bälle bremsen die Brandung

Anders als Buhnen, die vom Ufer ins Meer hinausgebaut werden, sind Wellenbrecher lang gestreckte Strukturen, die parallel zur Küste im Wasser versenkt werden. Sie verhindern, dass die Brandung ungebremst auf die Küste trifft, und schützen so beispielsweise Strände oder Promenaden. Klassischerweise werden sie heute aus massiven Betonklötzen oder großen Steinen im Wasser gebildet, die darüber hinaus aber keine weitere Funktion haben. Allerdings gibt es mit den sogenannten Riffbällen schon seit längerer Zeit eine ökosystembasierte Alterna­tive. Die von einer US-ameri­kanischen Nichtregierungsorganisation vertriebenen, etwa 1 Meter breiten Hohl­kugeln aus Beton haben mehrere Öffnungen und reduzieren nicht nur die Energie der Wellen, sondern bieten zugleich vielen Meeresorganismen und Fischen Unterschlupf. Sie werden im bis zu mehrere Meter tiefen Wasser versenkt und eignen sich für Orga­nis­men, die sich auf festem Untergrund ansiedeln, etwa Muscheln, See­ane­mo­nen oder Schwämme. Mit der Zeit bilden sich so dicht besiedelte Unter­wasser­lebens­räume. Auch in Deutschland wurden bereits Riffbälle versenkt, zum Beispiel in der Kieler Bucht.
4.24 > Sogenannte Riffbälle als Wellenbrecher. Die von einer
US-amerikanischen Nicht­regierungs­orga­ni­sation vertriebenen Kugeln werden für den Küstenschutz eingesetzt. Sie bilden zugleich wertvolle Unter­wasser­lebensräume.
Abb. 4.24: Sogenannte Riffbälle als Wellenbrecher. Die von einer US-amerikanischen Nicht­re­gier­ungs­organi­sation vertriebenen Kugeln werden für den Küsten­schutz eingesetzt. Sie bilden zugleich wertvolle Unterwasserlebensräume. © Helmut Corneli/imageBroker/vario images

Abb. 4.26: Der Hafen der britischen Stadt Cowes auf der Isle of Wight wird durch massive Wellenbrecher geschützt. Deren Bau ist häufig teurer als die Schaffung eines natürlichen Küstenschutzes wie etwa einer Salzwiese oder Seegraswiese. Ob sich ökosystembasierte Küstenschutzmaßnahmen tatsächlich realisieren lassen, hängt jedoch von der Gestalt und der Nutzung der Küste ab. © Cowes Harbour Commission

4.26 > Der Hafen der britischen Stadt Cowes auf der Isle of Wight wird durch massive Wellen­brecher geschützt. Deren Bau ist häufig teurer als die Schaffung eines natürlichen Küstenschutzes wie etwa einer Salzwiese oder Seegraswiese. Ob sich öko­system­basierte Küsten­schutz­maßnahmen tatsächlich realisieren lassen, hängt jedoch von der Gestalt und der Nutzung der Küste ab.

Lohnt sich ökosystembasierter Küstenschutz?

Intakte Korallenriffe und Mangrovenwälder bieten kostenlosen Küstenschutz, doch andere ökosystembasierte Maßnahmen können durchaus hohe Kosten verursachen, wie das Polderprojekt in der Scheldemündung zeigt. Es stellt sich nicht nur die Frage, wie zuverlässig oder leistungsfähig ökosystembasierte Lösungen sind, sondern auch, wie teuer diese sind und wie hoch die Kosten im Vergleich zum klassischen Küstenschutz ausfallen.
In einer aufwendigen Studie hat ein internationales Forscherteam erstmals
52 Küstenschutzprojekte analysiert, in denen Mangrovenpflanzungen und Salzwiesen angelegt beziehungsweise Korallenriffe durch junge Korallen restauriert wurden. Auch Seegraswiesen wurden betrachtet. Zum einen wurde untersucht, wie stark das Poten­zial der Flächen für die Dämpfung von Wellen ist, zum anderen wie groß die Projektkosten im Vergleich zum „harten“ Küstenschutz sind. Im Vergleich aller Projekte verringern die verschiedenen Lebensräume, je nach Situation vor Ort, die Wellenhöhe wie folgt:
  • Korallenriffe um 54 bis 81 Prozent,
  • Salzwiesen um 62 bis 79 Prozent,
  • Seegraswiesen um 25 bis 45 Prozent,
  • Mangroven zwischen 25 und 37 Prozent.

Anzumerken ist, dass die Mangrovenflächen der untersuchten Projekte nur zwischen 800 und 1500 Meter breit waren. Mangrovenwälder jedoch, die viele Kilometer breit sind, können Wellen bei Sturmflut durchaus zu 100 Prozent dämpfen, ehe diese das Ufer erreichen.
Die Salzwiesen wiederum, die analysiert wurden, hatten eine Breite von 100 bis
2800 Metern. Die Forscher weisen aber darauf hin, dass man bei der Schaffung von Salzwiesen nicht nur die Breite der Wiese, sondern auch die Höhe der Vegetation in Betracht ziehen sollte. Nach dieser Studie ist in Salz­wiesen die dämpfende Wirkung ­ am größten, wenn die Vegetation eine Höhe hat, die bis knapp unter die Wasser­ober­fläche reicht.
4.25 > Neben klassischen Küsten­schutz­methoden wie Deichen (1), Wellenbrechern (2) und Sperrwerken in Fluss­mün­dungen (3) werden heute zunehmend öko­sys­temba­sierte Maßnahmen umgesetzt. Dazu zählen die Schaffung künstlich angelegter Marschen (4), in denen sich frisches Sediment sammelt, Sandauf­spülungen (5), durch die sich entlang der Küste Sände und Dünen bilden, sowie die Errichtung naturnaher Küsten­linien (6), bei denen sich hinter Strukturen, die als Wellen­brecher dienen, artenreiche Grüngürtel entwickeln.
Abb. 4.25: Neben klassischen Küstenschutzmethoden wie Deichen (1), Wellenbrechern (2) und Sperrwerken in Flussmündungen (3) werden heute zunehmend ökosystembasierte Maßnahmen umgesetzt. Dazu zählen die Schaffung künstlich angelegter Marschen (4), in denen sich frisches Sediment sammelt, Sandaufspülungen (5), durch die sich entlang der Küste Sände und Dünen bilden, sowie die Errichtung naturnaher Küstenlinien (6), bei denen sich hinter Strukturen, die als Wellenbrecher dienen, artenreiche Grüngürtel entwickeln. © maribus

Bei Korallenriffen zeigte sich, dass diese die größte dämpfende Wirkung haben, wenn sie mindestens doppelt so lang wie die Länge der eintreffenden Welle sind und höchstens in einer Tiefe liegen, die halb so groß ist wie die Wellenhöhe.
Weil es an Vergleichszahlen für Korallenriffe und Seegraswiesen fehlte, blieb die Kostenanalyse der Projekte auf Mangroven und Salzwiesen beschränkt. Für letztere zeigte die Studie Kostenvorteile gegenüber dem klassischen Küstenschutz in Form von Wellenbrechern mit der gleichen dämpfenden Wirkung. Für die Mangroven­projekte ergab die Studie, dass diese drei- bis fünfmal billiger sein können als der Bau von Wellenbrechern. Salzwiesenprojekte, die insbesondere in Europa und den USA untersucht wurden, sind je nach Lage hingegen entweder genauso teuer wie klassische Wellenbrecher oder bis zu dreimal günstiger. Die Unterschiede kommen vor allem dadurch zustande, dass die Kosten für den Bau der Wellenbrecher mit der Wassertiefe überproportional zunehmen.
4.27 > Im niederländischen Katwijk aan Zee wurde ein Park­haus parallel zur Uferstraße gebaut und anschließend mit Sand bedeckt, sodass eine künst­liche hohe Düne entstanden ist.
Abb. 4.27: Im niederländischen Katwijk aan Zee wurde ein Parkhaus parallel zur Uferstraße gebaut und anschließend mit Sand bedeckt, sodass eine künstliche hohe Düne entstanden ist. © Luuk Kramer
Die Schaffung von Mangroven und von Salzwiesen haben neben dem Kostenaspekt auch den Vorteil, dass ­beide Habitate mit dem steigenden Meeresspiegel wachsen können. Bei häufigeren Überflutungen wird mehr Sediment in die Flächen transportiert, sodass sich das Niveau hebt und der Küstenschutz bestehen bleibt. Wellenbrecher hingegen verlieren mit steigendem Meeresspiegel an Schutzwirkung.

Die Grenzen des ökosystembasierten Ansatzes

Ökosystembasierte Küstenschutzlösungen sind nicht für jede Art von Küste geeignet. Ein entscheidendes Ausschlusskriterium ist der hohe Platzbedarf vieler Lösungen. Die Schaffung von Poldern oder Mangroven­pflanz­ungen mit einer ausreichenden Breite ist an einem eng bebauten Küstenstreifen oder vor Häfen ausgeschlossen. In einem solchen Fall können für den Schutz der Ufer künstliche Riffe gebaut oder See­gras­wiesen vor den Deichen angelegt werden. Bei großen Wassertiefen aber fallen auch diese Maßnahmen weg, und es bleibt als einzige Lösung ein starrer und klassischer Küstenschutz am Ufer nach dem Prinzip „Widerstand“. Mit steigendem Meeresspiegel müssen solche Konstruktionen entsprechend hoch ausgelegt werden.
Um der Ästhetik willen plant man in den Nieder­landen, Deiche und Hoch­wasser­schutz­wände mit anderen Funktionen zu kombinieren und gewis­ser­maßen als Multi­funk­tions­bau mit Küstenschutzcharakter optisch in das Stadtbild zu integrieren. Angedacht ist beispielsweise in Deich- oder Dünenabschnitten der Bau von Park­häusern, deren massive Wand zur See hin als Küstenschutz dient und mit einem davorliegenden Deich oder einer Düne zusätzlich geschützt wird. Auf dem Deich könnten dann Straßen oder Promenaden entlangführen. Ein entsprechendes Projekt wurde im niederländischen Katwijk aan Zee realisiert, wo ein Parkhaus parallel zur Küste gebaut, anschließend mit Sand bedeckt und mit Dünen­vegeta­tion bepflanzt wurde. Dadurch ist eine künstliche, hohe Düne entstanden, die die Stadt schützt und sich harmonisch in die Landschaft einfügt.

Dem Unausweichlichen begegnen

Selbst wenn man künftig konventionelle und ökosystembasierte Maßnahmen zu einem effektiven Küstenschutz vereint, werden sich nicht alle Küsten auf der Welt schützen lassen, wenn der Meeresspiegel im Laufe der kommenden Jahrhunderte um mehrere Meter steigen sollte. Es steht außer Frage, dass die Menschen bestimmte Küsten zwangsläufig werden verlassen müssen, weil diese auf Dauer überflutet oder durch häufige Überschwemmungen unbewohnbar sein werden. Zunächst dürfte ­dieses Schicksal manche der Inselstaaten im Südpazifik ereilen, weil diese zum Teil weniger als 1 Meter über dem Meeresspiegel liegen. Für die Regierungen der Inselstaaten stellt sich daher schon heute die Frage, wie sich dieser Rückzug so gestalten lässt, dass die Inselbevölkerung in einer neuen Heimat Fuß fassen und dort denselben Lebensstandard erreichen kann wie in der ver­lorenen Heimat.
Bemerkenswert sind in diesem Zusammenhang die Bestrebungen der Regierung des westpazifischen Inselstaats Kiribati. Einerseits treibt sie Küstenschutzmaßnahmen voran, um insbesondere wirtschaftlich wichtige Einrichtungen wie etwa den Flughafen so lange wie möglich zu schützen. Angesichts erster Anzeichen des Meer­es­spiegel­anstiegs wie häufigeren Sturmfluten, zunehmender Küstenerosion oder einer Ver­salz­ung der Süßwasserlinsen bereitet man sich andererseits dort aber auch schon jetzt auf eine künftige Auswanderung vor.
Die Regierung Kiribatis betont auf internationaler Bühne stets, dass man nicht als hilf­loser Klimaflüchtling betrachtet werden wolle, sondern vielmehr als eine Nation, die gegen die Folgen eines Klimawandels kämpft, den sie nicht zu verantworten hat und zu dem sie letztlich selbst kaum beigetragen hat.

Geordneter Rückzug statt heilloser Flucht

Unter dem Motto „Migration with Dignity“ (Auswanderung mit Würde) hat der ehe­malige Präsident von Kiribati, Anote Tong, eine Auswanderungsstrategie gestartet, mit der die Bevölkerung nach und nach dazu befähigt werden soll, sich im Ausland eine neue Existenz aufzubauen, ehe die Inseln unbewohnbar und die rund 100 000 Einwohner Kiribatis zu heimatlosen Flüchtlingen werden. Gemeinsam mit anderen pazifischen Inselstaaten werden offensiv Klimagerechtigkeit und Unterstützung durch die Industrie­nationen eingefordert – insbesondere im Hinblick darauf, den Bürgern der Inselstaaten im Ausland Perspektiven auf Arbeitsplätze zu bieten und eine perma­nente Aufenthaltsgenehmigung zu erteilen. Dieser öffentliche Druck hat dazu geführt, dass die Gefährdung der pazifischen Inselstaaten in den vergangenen Jahren weltweit in das Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt ist. Gleichwohl lässt die Unterstützung durch die Industriestaaten zu wünschen übrig – auch durch die direkten Nach­bar­staaten Australien oder Neuseeland. Neuseeland hat beispiels­weise Arbeits­pro­gramme aufgelegt, mit denen Arbeiter von den pazifischen Inselstaaten ins Land geholt werden. Als Klimahilfsprogramm aber wollen die neuseeländischen Behörden diese Programme nicht verstanden wissen. Zudem ist die Zahl der Einwanderer sehr gering. Was Kiribati betrifft, dürfen jedes Jahr nach einem Lotterieverfahren lediglich 75 ausgewählte Familien einwandern. Sofern sich die Einwanderer darum bemühen, Arbeit zu finden, erhalten sie eine permanente Aufenthaltsgenehmigung. Darüber hinaus bietet Neuseeland den Bewohnern von Kiribati seit 2007 Saisonarbeitsplätze in der Landwirtschaft an. Zwar haben sich daraus in manchen Fällen permanente Aufenthaltsgenehmigungen ergeben, von einem Klimahilfsprogramm auf breiter Basis aber kann bislang keine Rede sein. Kiribati und andere Inselstaaten fordern hier klare Zusagen der Industriestaaten.
4.28 > Die Bewohner der Insel Nukunonu im Südpazifik wollen nicht als Klimaopfer betrachtet werden, sondern als Kämpfer gegen einen steigenden Meeres­spiegel. Nach einem UN-Report könnte das Atoll, das zur Inselgruppe Tokelau gehört, im 21. Jahrhundert untergehen.
Abb. 4.28: Die Bewohner der Insel Nukunonu im Südpazifik wollen nicht als Klimaopfer betrachtet werden, sondern als Kämpfer gegen einen steigenden Meeresspiegel. Nach einem UN-Report könnte das Atoll, das zur Inselgruppe Tokelau gehört, im 21. Jahrhundert untergehen. © 350.org
Während es aus den übrigen Industrienationen bislang noch weniger Bereitschaft gibt, den Einwohnern der vom Meeresspiegelanstieg betroffenen Inselstaaten Aufent­halts­rechte für die Zukunft in Aussicht zu stellen, gibt es zwischen den pazifischen Inselstaaten selbst zum Teil eine bemerkenswerte Solidarität. Der Inselstaat Fidschi etwa hat Kiribati rund 24 Hektar Land verkauft. Viele Inseln Fidschis liegen höher als die Kiribatis, sodass diese zukünftig vom Meeresspiegelanstieg weniger betroffen sein werden. Zunächst soll diese Landfläche, die sich auf der zweitgrößten Insel Fidschis, Vanua Levu, befindet, landwirtschaftlich genutzt werden. Kiribati will hier Lebensmittel anbauen, wenn die eigene landwirtschaftliche Fläche durch Überflutungen verloren geht. Sollten Teile der Inseln Kiribatis künftig gänzlich unbewohnbar werden, sollen in dem Gebiet die betroffenen Bürger Kiribatis siedeln dürfen. Hierzu hat der Präsident Fidschis öffentlich eine mündliche Zusage gegeben.
Ein Vorteil dieser Siedlungspolitik besteht darin, dass die Auswanderer aus Kiribati auf Vanua Levu ähnliche Lebensbedingungen wie in der Heimat finden. Die Bereitschaft der Regierung Fidschis, Flüchtlinge aufzunehmen, ist umso bemerkenswerter, als einige Inseln Fidschis selbst ähnlich wie Kiribati von Überflutungen betroffen sein werden. Fidschi wird daher zusätzlich die Umsiedlung von Binnenflüchtlingen meistern müssen. Geplant ist, dass diese ebenfalls vorwiegend auf Vanua Levu siedeln sollen.

Neue Heimat für Millionen von Menschen?

Das Beispiel Kiribatis zeigt, dass es bei frühzeitiger Planung möglich sein kann, sich rechtzeitig aus bedrohten Küstengebieten zurückziehen zu können, um sich mit Würde anderenorts eine neue Existenz aufzubauen. Kritiker geben aber zu bedenken, dass sichergestellt sein müsse, dass nicht nur eine gebildete Minderheit, sondern die gesamte Bevölkerung die Möglichkeit zum Auswandern habe. Zudem sei fraglich, inwieweit man das Beispiel Kiribatis auf andere Länder übertragen könne. Die rund 100 000 Einwohner Kiribatis etwa werden möglicher­weise vollständig von anderen Nationen aufgenommen. Hingegen werden die vielen Millionen Menschen, die beispielsweise in Bangladesch in überflutungsgefährdeten Gebieten leben, nicht ohne Weiteres in den dicht besiedelten Nachbarstaaten unterkommen können. Viele Experten fordern daher im Hinblick auf den Meeresspiegelanstieg eine größere internationale Solidarität insbesondere von Seiten der Industrienationen.
Ein erstes positives Beispiel ist die von Norwegen und der Schweiz 2011 ins Leben gerufene Nansen-Initiative, die nach dem ersten Flüchtlingskommissar des früheren Völkerbundes, Fridtjof Nansen, benannt wurde. Die Arbeit der Initiative besteht darin, verschiedene Nationen im Hinblick auf die Problematik der Klimaflüchtlinge zu beraten und in die Beratungsprozesse politische Vertreter der Industrienationen und der zumeist betroffenen Entwicklungs- und Schwellenländer einzubinden. Dabei geht es vor allem auch darum, zwischen Staaten zu vermitteln – jenen, aus denen die Menschen fliehen, und jenen, die ein potenzielles Ziel der Flüchtlinge sind. Die Initiative ist weltweit sowohl im Binnenland aktiv, wo Menschen zum Beispiel vor Dürren fliehen, als auch an den Küsten. Sie hat in der Vergangenheit in verschiedenen Regionen große Diskussionsrunden initiiert, in denen Vertreter von Behörden und betroffene Menschen an einem Tisch saßen. Die Nansen-Initiative wurde inzwischen in die Platform on Disaster Displacement (Plattform für die Vertreibung durch Katastrophen) umbenannt, die die Arbeit weiterführt und unter anderem von staatlichen Institu­tionen wie der Schweizerischen Eidgenossenschaft und dem Außenministerium der Bundesrepublik Deutschland unterstützt wird. Textende