Medizin
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WOR 1 Mit den Meeren leben - ein Bericht über den Zustand der Weltmeere | 2010

Recht und Medizin

Rechtliche Fragen der marinen Medizinforschung

> Während das Interesse an den Wirkstoffen im Ozean wächst, versuchen Rechtswissenschaftler zu klären, wem die Substanzen eigentlich gehören. Eine Rolle spielt dabei, wo die Organismen vorkommen, aber auch, inwieweit der Mensch einen Naturstoff oder eine Gensequenz patentieren darf. Problematisch ist unter anderem, dass in verschiedenen Nationen unterschiedliche Patentregelungen gelten.

Was die Wirkstoffe so interessant macht

In den vergangenen Jahren ist das Interesse an den sogenannten genetischen Ressourcen des küstenfernen Tiefseebodens enorm gewachsen. Dabei handelt es sich zum Beispiel um Mikroorganismen, die in gewaltigen Mengen an heißen Quellen, den Schwarzen Rauchern (Kapitel 7), am Grund der Ozeane vorkommen. Sie bauen in völliger Finsternis organische Verbindungen, sogenannte Biomasse, aus Kohlendioxid und Wasser auf. Die für die Umwandlung des Kohlendioxids erforderliche Energie gewinnen die Mikroorganismen aus der Oxidation von Schwefelwasserstoff, der an den Schwarzen Rauchern aus dem Meeresboden austritt. Fachleute nennen diese Art der Biomassegewinnung Chemosynthese. Im Gegensatz dazu bauen Pflanzen Biomasse durch Photosynthese auf, die durch energiereiche Sonnenstrahlung angetrieben wird. Chemosynthetische Bakterien sind für die Forschung von Bedeutung, da sie über einzigartige genetische Strukturen und besondere biochemische Wirkstoffe verfügen. Bei der Entwicklung wirksamerer Impfstoffe und Antibiotika oder für die Krebsforschung könnten sie eine Schlüsselrolle spielen. Eine Bewirtschaftung der Organismen erscheint auch aus Sicht der Industrie erstrebenswert. Immerhin sind an den Schwarzen Rauchern Bakterien aktiv, die hohe Wasserdrücke und extreme Temperaturen ertragen. Inzwischen ist es gelungen, aus diesen robusten extremophilen Bakterien hitzestabile Enzyme zu isolieren, die man künftig in der Industrie einsetzen könnte. Viele Fertigungsprozesse in der Nahrungsmittel- oder Kosmetikaherstellung etwa laufen bei hohen Temperaturen ab. Hier wären hitzebeständige Enzyme eine echte Erleichterung. Auch die Fähigkeit, hochgiftigen Schwefelwasserstoff in weniger problematische Schwefelverbindungen umzuwandeln und somit zu entgiften, macht die chemosynthetischen Bakterien interessant.

Wem gehören die Wirkstoffe im Meer?

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wer die genetischen Ressourcen des Tiefseebodens nutzen und erforschen darf. Das Völkerrecht unterscheidet hier zunächst nur nach Staatszugehörigkeit. Beantragt ein Forschungs-institut, während einer Forschungsreise Proben von Tiefseeorganismen zu sammeln, werden die entsprechenden Aktivitäten – über die Staatsflagge des Forschungsschiffs – einer bestimmten Nation zugerechnet. Alternativ entscheidet die Staatszugehörigkeit des Konsortiums oder Biotechnologieunternehmens.

Von Bedeutung ist auch, wo die Mikrobenproben ge­­nommen werden sollen. Finden diese in der Ausschließlichen Wirtschaftszone eines Küstenstaats statt, ist nach dem UN-Seerechtsübereinkommen (United Nations Convention on the Law of the Sea, UNCLOS) (Kapitel 10) die Zustimmung des Küstenstaats zwingend erforderlich. Sofern es sich um reine Grundlagenforschung handelt, sollte der Küstenstaat gemäß UNCLOS dritten Staaten erlauben, in seinen Hoheitsgewässern Proben zu nehmen. Für den Fall, dass die Forschungsergebnisse am Ende auch der kommerziellen Nutzung (Bioprospecting) dienen könnten, hat der Küstenstaat einen Entscheidungsspielraum. Im Zweifelsfall kann er die Aktivitäten in seinen Gewässern verbieten. Dies gilt erst recht für Maßnahmen, die auf eine unmittelbare wirtschaftliche Verwertung gerichtet sind – etwa für die Exploration von Vorkommen, also die Erforschung des Meeresbodens mit der Absicht, die Vorkommen auszubeuten.
9.14 > Manche Mikroben wie die einzelligen Archaeen (links) leben in der Nähe heißer Quellen. Mitunter enthalten sie spezielle Substanzen, die sich für die industrielle Produktion eignen. Bestimmte Meeresbakterien  lassen sich sogar für die Herstellung von  Polymeren nutzen, speziellen Kunststof-fen, die man künftig möglicherweise sogar in der Krebstherapie einsetzen könnte. © Derek Lovley/Kazem Kashefi/Science Photo Library/Agentur Focus 9.14 > Manche Mikroben wie die einzelligen Archaeen (links) leben in der Nähe heißer Quellen. Mitunter enthalten sie spezielle Substanzen, die sich für die industrielle Produktion eignen. Bestimmte Meeresbakterien lassen sich sogar für die Herstellung von Polymeren nutzen, speziellen Kunststoffen, die man künftig möglicherweise sogar in der Krebstherapie einsetzen könnte.
9.14 > Manche Mikroben wie die einzelligen Archaeen (links) leben in der Nähe heißer Quellen. Mitunter enthalten sie spezielle Substanzen, die sich für die industrielle Produktion eignen. Bestimmte Meeresbakterien  lassen sich sogar für die Herstellung von  Polymeren nutzen, speziellen Kunststof-fen, die man künftig möglicherweise sogar in der Krebstherapie einsetzen könnte. © Thierry Berrod, Mona Lisa Production/Science Photo Library/Agentur Focus

Für Meeresregionen jenseits der Hoheitsgebiete einzelner Staaten ist die Rechtslage bis heute nicht so eindeutig. Seit Langem streitet die Staatengemeinschaft darüber, wer die biologischen Rohstoffe auf der Hohen See ausbeuten darf, und vor allem, welche rechtliche Regelung hier überhaupt greift. Das betrifft unter anderem jene küstenfernen Gebiete, in denen die Schwarzen Raucher vorkommen, die mittelozeanischen Bergrücken etwa. Das Problem dabei ist: In keiner der internationalen Konventionen und Abkommen gibt es bislang klare Vorschriften für den Abbau genetischer Ressourcen am Meeresboden. Ein Teil der Staatengemeinschaft vertritt aus diesem Grund die Auffassung, dass die genetischen Ressourcen gerecht unter den Staaten verteilt werden sollten. Die andere Seite aber ist davon überzeugt, dass sich jeder Einzelstaat nach Gutdünken bedienen kann. Das ist ein fundamentaler Gegensatz.
Das bereits erwähnte UN-Seerechtsübereinkommen UNCLOS schreibt für den küstenfernen Tiefseeboden vor, dass „das Gebiet und seine Ressourcen gemeinsames Erbe der Menschheit sind“. Doch diese Regelung gilt nur für mineralische Rohstoffe wie Erze oder Manganknollen. Will ein Staat am Tiefseeboden Manganknollen (Kapitel 10) abbauen, muss er bei der UN-Meeresbodenbehörde (International Seabed Authority, ISA) eine Lizenz kaufen und den Entwicklungsländern von diesem Kuchen die Hälfte abgeben. Für genetische Ressourcen am Tiefseeboden gilt diese klare Regelung aber nicht. Die im Jahr 1992 in Rio de Janeiro angenommene Biodiversitätskonvention (Convention on Biological Diversity, CBD) wiederum fordert zwar eine „ausgewogene und gerechte Aufteilung der sich aus der Nutzung der genetischen Ressourcen ergebenden Vorteile“, also eine gerechte Verteilung der biologischen Schätze der Erde zwischen Industrienationen und Entwicklungsländern. Allerdings bezieht sie sich insoweit nur auf das Hoheitsgebiet einzelner Staaten und nicht auf die küstenfernen Regionen der Ozeane.
Damit ist alles offen. Jede Seite interpretiert die Inhalte von UNCLOS und Biodiversitätskonvention aus ihrer Perspektive. Die Situation wird zusätzlich verkompliziert, weil das UNCLOS noch eine weitere Interpretation zulässt. So betrachtet das UNCLOS die küstenfernen Meeresgebiete als einen Raum, in dem Nutzungs- und Forschungsfreiheit besteht – es propagiert die „Freiheit der Hohen See“. Dazu gehört auch, dass jeder Staat die Freiheit hat, in den internationalen Gewässern Fischfang zu betreiben. Jeder Staat, so besagt das UNCLOS, ist zur „Erhaltung und Bewirtschaftung der lebenden Ressourcen der Hohen See“ berechtigt. Da sich das UNCLOS auch auf den Tiefseeboden bezieht, liegt es nahe, die biologisch-genetischen Ressourcen am Meeresgrund genauso wie die Fische als frei verfügbar zu betrachten. Demzufolge sollte es jedem Staat erlaubt sein, auch die genetischen Ressourcen des Tiefseebodens zu erforschen und zu nutzen. Diese Auffassung vertreten die meisten Mitglieder einer speziellen UN-Arbeitsgruppe. Dieses Gremium wurde 2005 von der UN-Generalversammlung eingerichtet. Es befasst sich mit dem Schutz und der nachhaltigen Nutzung der marinen biologischen Vielfalt außerhalb der küstenstaatlichen Hoheitsgebiete.
9.15 > Wie die genetischen Ressourcen am Meeresgrund ausgebeutet werden können, ist bisher nur unzureichend geregelt. In seinem Hoheitsgebiet kann ein Staat die Zustimmung verweigern. Für internationale Gewässer gibt es bislang keine klaren Vorgaben, was zu Streitigkeiten zwischen den Staaten führt.
9.15 > Wie die genetischen Ressourcen am Meeresgrund ausgebeutet werden können, ist bisher nur unzureichend geregelt. In seinem Hoheitsgebiet kann ein Staat die Zustimmung verweigern. Für internationale Gewässer gibt es bislang keine klaren Vorgaben, was zu Streitigkeiten zwischen den Staaten führt.  © maribus
Andere Mitglieder der UN-Arbeitsgruppe lehnen diese Interpretation aber ab. Sie fordern, wie oben erwähnt, die biologischen Schätze – wie mineralische Rohstoffe – paritätisch zwischen den einzelnen Staaten aufzuteilen. So entspinnen sich bislang auf den internationalen Treffen der UN-Arbeitsgruppe kontroverse Debatten, und eine Einigung ist derzeit nicht in Sicht. Dazu wäre vermutlich eine Änderung zumindest eines der beiden Übereinkommen erforderlich, was derzeit allerdings kaum erreichbar erscheint. Doch es gibt noch einen anderen Weg, denn einige Experten argumentieren, dass für die genetischen Ressourcen weder UNCLOS noch Biodiversitätskonvention gelten. Schließlich geht es hier nicht um die Ernte von Ressourcen wie etwa Fischen oder Erzen am Meeresgrund. Es geht darum, in einigen wenigen Organismen nach Wirkstoffen zu fahnden, daraus neue Medikamente zu entwickeln und diese später in industriellen Anlagen zu produzieren. Hier dreht es sich also nicht um die Meeresorganismen selbst, sondern lediglich um die in ihnen enthaltene Information. Damit handelt es sich also eher um geistiges Eigentum als um klassisches Ausbeuten natürlicher Ressourcen, und da greift am ehesten das Patentrecht. Damit spricht derzeit manches dafür, nicht das internationale See- und Umweltrecht zu reformieren, sondern auf Lockerungen der Regelungen des internationalen Patentschutzes hinzuwirken.
9.16 > Das nationale und internationale Patentrecht regelt grundsätzlich die Verwertung von Naturstoffen oder genetischen Informationen aus Lebewesen. Patentierbar sind Wirkstoffe, die aus Organismen gewonnen werden. Das Gleiche gilt für einzelne isolierte Gensequenzen und genetisch veränderte Organismen. Neu entdeckte Tierarten und deren gesamtes Erbgut hingegen lassen sich nicht patentieren.
9.16 > Das nationale und internationale Patentrecht regelt grundsätzlich die Verwertung von Naturstoffen oder genetischen Informationen aus Lebewesen. Patentierbar sind Wirkstoffe, die aus Organismen gewonnen werden. Das Gleiche gilt für einzelne isolierte Gensequenzen und genetisch veränderte Organismen. Neu entdeckte Tierarten und deren gesamtes Erbgut hingegen lassen sich nicht patentieren. © maribus
9.17 > Das Wärme liebende, extremophile Bakterium Archaeoglobus fulgidus lebt an heißen Quellen am Meeresgrund und bevorzugt Umgebungstemperaturen von etwa 80 Grad Celsius. © Pasieka/Science Photo Library/Agentur Focus 9.17 > Das Wärme liebende, extremophile Bakterium Archaeoglobus fulgidus lebt an heißen Quellen am Meeresgrund und bevorzugt Umgebungstemperaturen von etwa 80 Grad Celsius.

Die Grenzen des Patentrechts

Berührt die Suche nach Wirkstoffen im Meer rechtliche Aspekte, so muss die Frage geklärt werden, in welcher Form die wissenschaftlichen Erkenntnisse wirtschaftlich genutzt und verwertet werden dürfen. Prinzipiell richtet sich der Schutz von Nutzungs- und Verwertungsrechten bei Patenten nach den gesetzlichen Vorgaben des nationalen Rechts. In Deutschland sind diese im Patentgesetz (PatG) verankert. Das Patentgesetz schützt allgemein Er­­findungen, wozu auch Erkenntnisse aus der Genforschung gehören. Der Schutz dieses Gesetzes endet an der Staatsgrenze. Einen internationalen Schutz des geistigen Eigentums gewährleistet das „Übereinkommen über handels­bezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums“ (Agreement on Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights, TRIPS), das in den Einflussbereich der Welthandelsorganisation (WTO) fällt. Nach diesem völkerrechtlichen Vertrag erkennen die Vertragsstaaten den Schutz des geistigen Eigentums gegenseitig an, sofern es durch nationale Patente geschützt ist. Auf diese Weise ist das geistige Eigentum in allen TRIPS-Vertragsstaaten geschützt.
Zu den patentierbaren Gegenständen zählen grundsätzlich auch im Labor veränderte Mikroorganismen, Tiere und Pflanzen wie zum Beispiel gentechnisch modifizierte Maissorten. Außerdem gehören dazu durch technische Verfahren gewonnene isolierte Bestandsteile des menschlichen Körpers, insbesondere lebende Zellen, einschließlich der Sequenz oder Teilsequenz eines Gens. Die bloße Entdeckung einer Spezies gehört aber nicht dazu, denn eine Art lässt sich grundsätzlich nicht patentieren. Ein in der Natur oder im genetischen Code verborgener Stoff hingegen kann im patentrechtlichen Sinn durchaus als neu gelten, wenn er durch technische Isolierung und durch Beschreibung erstmals öffentlich zugänglich gemacht wird.
Jeder Staat hat das Recht, Tiere und Pflanzen sowie biologische Verfahren für die Züchtung von Pflanzen oder Tieren von der Patentierbarkeit auszuschließen – etwa die Züchtung neuer Tierrassen, wie dies in Deutschland mit dem Patentgesetz und in der Europäischen Union (EU) mit der Biopatentrichtlinie geschehen ist. Gleiches gilt für andere Erfindungen oder auch einzelne DNA-Sequenzen, deren wirtschaftliche Verwertung man aus Sicherheitsgründen verhindern will, beispielsweise um das Klonen menschlicher Embryonen zu verhindern. Gemäß TRIPS-Übereinkommen darf man eine kommerzielle Nutzung verhindern, wenn dies nach Ansicht des betreffenden Staats „zum Schutz der öffentlichen Ordnung oder der guten Sitten einschließlich des Schutzes des Lebens oder der Gesundheit von Menschen, Tieren oder Pflanzen oder zur Vermeidung einer ernsten Schädigung der Umwelt notwendig ist.“ Nach der von der EU im Jahr 1998 verabschiedeten Biopatentrichtlinie sind Erfindungen nicht patentierbar, wenn deren gewerbliche Verwertung gegen die öffentliche Ordnung oder die guten Sitten verstößt. Dazu gehören unter anderem Verfahren zum Klonen von menschlichen Lebewesen und die Verwendung von menschlichen Embryonen zu industriellen oder kommerziellen Zwecken.
In der Frage, wie weit der Patentschutz von DNA-Sequenzen reichen soll, sind sich die verschiedenen Institutionen uneins. In der EU ist der Schutz auf die Funktionen der Sequenz oder Teilsequenz eines Gens begrenzt, die im Patentantrag beschrieben werden. In den USA gilt hingegen das Prinzip des absoluten Stoffschutzes ohne Begrenzung auf die vom Erfinder beschriebenen Funktionen. Das heißt, dass in den USA nicht allein die Erfindung, die der Forscher explizit in seinem Antrag beschrieben hat, durch Patentrecht geschützt ist, sondern auch Entwicklungen und Produkte, die sich künftig daraus ergeben. Das US-Patentrecht reicht also deutlich weiter als das europäische. Sowohl der europäische als auch der US-amerikanische Ansatz sind mit den internationalen Vorgaben vereinbar. Die unterschiedlichen Vorstellungen führen aber immer wieder zu Kontroversen. Je nach Region wird daher das Patentrecht auch im Kontext der Medizin aus dem Meer unterschiedlich stark ausgeprägt bleiben. Bis auf Weiteres wird sich daran auch nichts ändern. Letztlich steckt hinter diesem Streit ein historisch gewachsenes und kulturell unterschiedliches Verständnis von individueller Freiheit und staatlicher Schutzpflicht. Textende