Die Explosion der schwimmenden Bohrinsel „Deepwater Horizon“ am 20. April 2010 war der größte Ölunfall aller Zeiten, bei dem rund 700 000 Tonnen Rohöl in den Golf von Mexiko flossen; nur während des Golfkriegs in Kuwait im Jahr 1990 gelangte noch mehr Öl ins Meer. 11 Arbeiter starben, 16 wurden schwer verletzt. In seinem Untersuchungsbericht kam ein US-Expertenkomitee im Dezember 2011 zu dem Schluss, dass eine ganze Reihe von technischen Defekten und Fehlentscheidungen zu dem Unglück geführt hatten. In der Folge wurde kontrovers diskutiert, wer dafür verantwortlich ist beziehungsweise wie sich derartige Unfälle künftig vermeiden lassen. Die „Deepwater Horizon“ war eine sogenannte Halbtaucheranlage, eine schwimmende Bohrplattform, mit der neue Ölfelder in großer Tiefe erschlossen werden. Derartige Anlagen werden von Dienstleistungsunternehmen betrieben, die für Ölkonzerne die Bohrarbeiten übernehmen. Zu Beginn einer Bohrung bohrt man zunächst nur wenige Meter tief in den Meeresboden hinein. Dann sichert man das Bohrloch mit einem Standrohr ab, das in das Bohrloch getrieben wird. Dieses Standrohr hat 2 Funktionen: Erstens verhindert es, dass das Bohrloch gleich wieder einstürzt. Zweitens trägt es den sogenannten Blowout-Preventer (BOP), der am Meeresboden auf das Standrohr aufgesetzt wird. Dieser BOP ist ein etwa 10 Meter hoher Aufbau, der mithilfe von Ventilen verhindern soll, dass während der Bohrung oder nach Abschluss der Bohrarbeiten unkontrolliert Erdgas und Erdöl aus dem Bohrloch schießen. Er umgibt das Bohrgestänge wie eine überdimensionale Manschette. Für den Fall, dass die Ventile versagen, ist er außerdem mit Schlagbolzen, Shear Rams, ausgestattet. Wie 2 Zähne quetschen die Shear Rams das Bohrgestänge zusammen, sodass kein Öl mehr aus dem Bohrloch beziehungsweise dem BOP austreten kann.
Abb. 1.34 > Der turmhohe Blowout-Preventer hat die Funktion eines überdimensionalen Stöpsels. Er sichert Bohrlöcher am Meeresboden mit Ventilen und Schlagbolzen, den Shear Rams. Dass es zur Katastrophe kam, lag auch daran, dass die BOP-Technik versagte. © nach The Times Picayune
Hat der Dienstleister ein Ölvorkommen erschlossen, ist seine Arbeit beendet. Das Bohrgestänge wird entfernt, die BOP-Ventile geschlossen und das Bohrloch so gesichert. Die Bohrinsel wird zur nächsten Bohrstelle gefahren oder geschleppt. Der BOP bleibt so lange verschlossen, bis über ihm eine Förderanlage installiert worden ist. Erst wenn er per Rohr oder Schlauch an die Förderanlage angeschlossen ist, werden seine Ventile geöffnet und die Förderung kann beginnen. Die Explosion der „Deepwater Horizon“ ereignete sich zum Schluss der Bohrarbeiten beim Versiegeln der Bohrung in etwa 1500 Meter Wassertiefe, also noch vor Beginn der Ölförderung. Kritisch war der Moment, in dem die Spülflüssigkeit aus dem Bohrloch gepumpt wurde. Diese Spülflüssigkeit wird beim Bohren in die Tiefe gepumpt, um das zertrümmerte Gestein aus dem Bohrloch zu fördern. Darüber hinaus stabilisiert sie das Bohrloch. Immerhin herrscht in der Lagerstätte hoher Druck, der normalerweise dazu führen würde, dass das Erdöl und das oft in ihm enthaltene Erdgas die Bohrlochwand zerreißen und aus dem Bohrloch schießen. Die Spülflüssigkeit erzeugt den erforderlichen Gegendruck. Ist der Bohrvorgang beendet, wird das Bohrgestänge mitsamt dem Bohrkopf aus dem Bohrloch gezogen und die Spülflüssigkeit durch Meerwasser ersetzt. Wasser hat allerdings eine deutlich geringere Dichte und übt damit weniger Druck auf das in der Lagerstätte anstehende Erdgas und Erdöl aus. Die Bohrung wird deshalb tief im Gestein zusätzlich mit Zement verstopft. Währenddessen testen die Bohrspezialisten an Deck durch Druckmessungen, ob der Zement in der Tiefe tatsächlich dicht hält. Auch diese Zementierungsarbeiten werden von spezialisierten Dienstleistern übernommen. Das heißt also, dass auf einer Bohrinsel wie auf einer gewöhnlichen Baustelle auch stets Arbeiter von mehreren Firmen aktiv sind, zwischen denen die Arbeit genau abgestimmt werden muss.
Im Fall der „Deepwater Horizon“ wiesen die Tests auf Druckprobleme und unsachgemäße Zementierungen hin. Die Ingenieure an Bord aber interpretierten die Ergebnisse fatalerweise als Messfehler und tauschten weiter Spülflüssigkeit gegen Meerwasser aus. Dann kam es zum Unglück: Erdgas schoss aus der Lagerstätte unter hohem Druck in die Bohrung. Da der Zement versagte, konnte das Gas durch das Bohrgestänge bis zur Förderplattform aufsteigen. Es sammelte sich dort an Deck und entzündete sich vermutlich durch einen Funken im Maschinenraum. Normalerweise hätte der bereits am Meeresboden installierte Blowout-Preventer diesen Gasausbruch verhindern müssen. Doch auch die Shear Rams versagten. Durch die Explosion geriet die Bohrstelle völlig außer Kontrolle, sodass fast 3 Monate lang Öl in großen Mengen austreten konnte. Mit ferngesteuerten Unterwasserrobotern versuchte man vergeblich, die Shear Rams am BOP auszulösen.
Das Komitee zählte in seinem Untersuchungsbericht im Detail technische Mängel und Fehlentscheidungen auf, die in der Summe zum Unglück geführt haben. Es kam zu dem Schluss, dass in der Tiefseeölförderung erhebliche Verbesserungen nötig sind. Das betrifft die Technik, beispielsweise die BOP-Konstruktion, Sicherheitsmaßnahmen beim Management und vor allem auch die Kommunikation zwischen den verschiedenen Dienstleistern und dem Bohrleiter, dem Operator. Dass die Tiefseeölförderung besonders anspruchsvoll und problematisch ist, zeigte sich auch darin, dass es dem Auftraggeber BP lange nicht gelang, das Leck am Meeresboden zu schließen. Erst im Juli 2010, 3 Monate nach dem Unglück, konnten die Ingenieure einen sogenannten Capping Stack, einen Stahlaufsatz, auf den BOP montieren. Der Capping Stack fing das aus dem BOP strömende Öl auf und leitete es zu einer Förderplattform. Das Komitee schätzt die wirtschaftlichen Kosten der Katastrophe auf mehrere 10 Milliarden US-Dollar. Um zu verhindern, dass mit giftigen Kohlenwasserstoffen belastete Fische und Meeresfrüchte auf den Markt kommen, wurde im Anschluss an den Unfall im Golf von Mexiko beispielsweise ein Gebiet von rund 200 000 Quadratkilometern für die Aquakultur und den Fischfang gesperrt. Zwar wurde inzwischen ein Großteil davon wieder freigegeben, aber in manchen stark betroffenen Gebieten wie etwa im Mississippi-Delta ist die Austernzucht bis heute untersagt. Auch die Tourismusindustrie in Louisiana, Mississippi, Alabama und im Nordwesten von Florida ist stark betroffen. Der Verband der US-Tourismusbranche schätzt die Verluste allein in den 3 Jahren nach dem Unfall auf rund 23 Milliarden US-Dollar. Für die entstandenen Schäden wurde BP bereits zu einer Strafe von 4 Milliarden US-Dollar verurteilt. Hinzu kommen Entschädigungszahlungen in Höhe von rund 8 Milliarden US-Dollar aus Zehntausenden Zivilklagen, die außergerichtlich beigelegt wurden. Nach Aussage von Wirtschaftsexperten hat die Explosion der „Deepwater Horizon“ das Unternehmen insgesamt rund 42 Milliarden US-Dollar gekostet.
Bislang gibt es noch keine umfassende wissenschaftliche Untersuchung darüber, wie viele und welche Maßnahmen durchgeführt wurden, um die Offshore-Ölförderung sicherer zu machen. Verschiedene Aspekte aber wurden inzwischen verbessert. Unter anderem haben die Hersteller ihre BOP-Systeme mit zuverlässigeren Ventilen und Shear Rams ausgestattet. Darüber hinaus hat die zuständige US-Behörde für Sicherheit und Umweltrecht, das Bureau of Safety and Environmental Enforcement (BSEE), die Sicherheitsauflagen verschärft. Inzwischen wurde beispielsweise das sogenannte Stoppkartenprinzip durchgesetzt. Das besagt, dass jeder Arbeiter auf einer Bohrinsel einen anderen auf seine Fehler hinweisen darf und muss – ungeachtet seiner Position. Erkennt ein Arbeiter einen Fehler, muss auch ein vorgesetzter Ingenieur entsprechend reagieren und seine Entscheidung korrigieren. Zwar gab es dieses Stoppkartenprinzip schon vor dem Unglück, doch wurden Hinweise von Untergebenen häufig ignoriert. Darüber hinaus muss heute schriftlich im Detail festgelegt werden, welche Person auf der Bohrinsel die Entscheidungsbefugnis hat. Diese Person muss künftig über jeden Arbeitsschritt informiert werden. Genau das war bei der Zusammenarbeit der verschiedenen Dienstleister früher oft nicht der Fall. Entscheidungen wurden nicht immer klar abgestimmt oder von verschiedenen Personen getroffen. Wie im Fall der „Deepwater Horizon“ blieben Fehler so mitunter unbemerkt. Unabhängige Gutachter überprüfen heute vor Ort auf den Bohrinseln, ob die Entscheidungsgewalt klar geregelt ist. Untersucht wird auch, ob das Stoppkartenprinzip umgesetzt oder die Kommunikation verbessert wurde. Ob alle diese Maßnahmen ausreichend sind, um Unfälle zu vermeiden, wird sich in Zukunft zeigen.
Bemerkenswert ist, dass sich in den vergangenen drei Jahren eine neue Industrie entwickelt hat, die auf die Produktion und den Einsatz von Capping Stacks für die Tiefsee spezialisiert ist. Zum Teil handelt es sich dabei um etablierte Offshore-Firmen, zum Teil aber auch um Neugründungen. Außerdem haben sich verschiedene Ölkonzerne zusammengeschlossen und eigene Gesellschaften gegründet, die Personal und Capping-Technologie für den Ernstfall bereithalten oder weiterentwickeln. Diese soll im Bedarfsfall nicht nur im Golf von Mexiko zum Einsatz kommen, sondern weltweit. So haben die Unternehmen inzwischen unter anderem Stützpunkte in Stavanger in Norwegen, in Kapstadt in Südafrika, in Angra dos Reis bei Rio de Janeiro und in Singapur aufgebaut, in denen jeweils zwischen 6 und 10 Capping Stacks für den Notfall lagern. Ziel ist es, ein defektes Bohrloch innerhalb weniger Stunden oder Tage zu erreichen. Die Capping Stacks werden dann von Spezialschiffen auf den fehlerhaften BOP gesetzt. Anschließend kann das Öl aus dem Capping Stack kontrolliert zu einer Förderplattform geleitet werden. Inzwischen gibt es eine Reihe von Notfallplänen für Unfälle von „Deepwater Horizon“-Dimension. Diese wurden auf Drängen der US-Regierung zum Teil von mehreren Ölkonzernen gemeinsam ausgearbeitet und sind durchaus profund. Sie sehen auch den Einsatz von Halbtaucherförderanlagen vor, die an die Unglücksstelle geschleppt werden sollen, um das Öl aus den Capping Stacks in Tanker zu pumpen. Bis heute erforschen Biologen vor Ort, welche Folgen die Verölung des Wassers und der Küste im Detail hatte. In Feldstudien wird der Zustand der verschiedenen Organismen oder Lebensräume untersucht. Diese Feldarbeit wurde in 9 Arbeitspakete aufgeteilt: die Wassersäule und die Sedimente im Golf, die Uferbereiche, die Fischerei, Schildkröten und Delfine, Lebewesen im Übergangsbereich zwischen Land und Meer, Korallen, Krebse und Muscheln, Vögel und die Meeresvegetation.
Wie stark die Organismen und Lebensräume vom Ölunfall betroffen sind, ist zum großen Teil noch unklar. Die Schwierigkeit besteht darin, festzustellen, ob bestimmte Schäden an Pflanzen und Tieren tatsächlich von Giften im Öl herrühren oder eventuell schon vorher da waren. Das Problem: Das betroffene Gebiet erstreckt sich über 5 US-Bundesstaaten und die dazugehörigen Meeresabschnitte. Das Areal ist also riesig. Außerdem wurde der Golf noch nie so intensiv untersucht wie heute. Für viele Gebiete oder auch Pflanzen- und Tierarten fehlt es schlicht an Daten, die aus der Zeit vor der Katastrophe stammen. Auch die Zahl der gestorbenen größeren Lebewesen ist bis heute unsicher. Nach Zählungen von US-Behörden sammelten Helfer an der besonders betroffenen US-Küste zwischen Louisiana und Alabama bis zum November 2010 rund 6000 Seevögel, 600 Meeresschildkröten und 100 Meeressäuger wie etwa Robben und Delfine ein, die offensichtlich durch das Öl getötet worden waren. Manche Experten gehen davon aus, dass bis zu 5-mal mehr Tiere gestorben sein könnten.
Darüber hinaus hat sich die Zahl der tot angespülten Tiere seit dem Unfall erhöht. Nach Angaben der National Wildlife Federation wurden zwischen 2007 und 2009 pro Jahr durchschnittlich 24 Meeresschildkröten tot angespült. 2011 waren es 525, 2012 354 und im Jahr 2013 mehr als 400. Die Wetter- und Ozeanografiebehörde der USA zählte an den Stränden des Golfs zwischen 2002 und 2009 jährlich durchschnittlich 63 tote Delfine. 2010 waren es 229, 2011 335, 2012 158 und 2013 mehr als 200 Delfine. Was zu der höheren Todeszahl geführt hat, weiß man noch nicht mit Sicherheit. Unklar ist auch, wie stark das in der Tiefe am Bohrloch ausgetretene Öl die Lebensräume am Meeresboden geschädigt hat. Einige Forscher gehen davon aus, dass die Vermehrung und das Wachstum vieler Bodenorganismen für lange Zeit gestört sein werden. Andere Wissenschaftler sind der Meinung, dass die Auswirkungen des Öls geringer als erwartet sind, weil große Mengen des Öls relativ schnell durch Bakterien abgebaut worden sind.
Nicht bestätigt haben sich die Befürchtungen, dass Öl mit dem Golfstrom an Florida vorbei aus dem Golf von Mexiko bis über den Atlantik und sogar nach Europa treiben könnte. Relativ schnell wurde klar, dass die Ängste unbegründet waren. Das Öl blieb im Golf von Mexiko.
Abb. 1.35 > Nach der Explosion am 20. April 2010 brannte die Bohrplattform „Deepwater Horizon“ noch mehrere Tage lang. Versuche, sie mit Wasserkanonen zu löschen, schlugen fehl. schließlich kenterte die Insel und versank im Golf von Mexiko. © Gerald Herbert/picture alliance/AP Images
Abb. 1.36 > Trotz solcher Barrieren schwappte Öl an die Küste von Louisiana. © picture alliance/dpa Erik S. Lesser
Abb. 1.37 > Auch Schutzwände konnten Dauphin Island nicht retten. © Brian Snyder/Reuters
Abb. 1.38 > Lastkähne riegelten den Pontchartrain-See bei New Orleans ab. © Lee Celano/Reuters
Abb. 1.39 > Durch Wind, Wellen und Strömungen breitete sich das Öl aus. © Dave Martin/picture alliance/AP Photo