WOR 2 kompakt
WOR 2 Die Zukunft der Fische - die Fischerei der Zukunft | 2013

WOR 2 kompakt

> Der erste „World Ocean Review“ hatte das Ziel, einen möglichst umfas­senden Überblick über den Zustand des Meeres zu geben. Diese zweite Ausgabe befasst sich vertiefend mit einem einzigen Aspekt – der Zukunft der Fische und der Fischerei. Fisch und Mensch sind seit Jahrtausenden aufs Engste miteinander verbunden. Fisch ist ein wichtiges Nahrungsmittel, er ist mythische Figur und in manchen Kulturen und im Christentum sogar ein göttliches Symbol. Doch geht der Mensch wenig pfleglich mit der geschätzten Ressource im Meer um. Nie zuvor hat er die Fischbestände der Welt so stark ausgebeutet wie in den vergangenen 50 Jahren – für uns ein wichtiger Grund, diesen Band ganz diesem Thema zu widmen.

Die Zukunft der Fische – die Fischerei der Zukunft

Fische sind weit verbreitet. Etwa 30 000 Arten gibt es weltweit. Rund 15 000 leben im Meer. Sie sind ein wichtiger Bestandteil der verschiedenen Meereslebensräume. Die Fische und alle anderen Lebewesen im Meer sind in komplexen Nahrungsnetzen miteinander verbunden. Durch die Fischerei greift der Mensch in dieses Beziehungsgeflecht ein. Entnimmt er Fische einer Art in großen Mengen, hat das auch Konsequenzen für andere mit dieser Art vergesellschaftete Lebewesen. Erst langsam beginnen wir zu begreifen, wie stark die Fischerei das riesige System Meer beeinflusst und welche Veränderungen der Mensch den marinen Ökosystemen bereits zugefügt hat. Fachleute wissen heute, dass es künftig nicht mehr reicht, nur einzelne kommerziell interessante Fischarten zu betrachten. Viele Experten entwickeln deshalb neue ökosystemare Fischereimanagementkonzepte, die die Interaktionen zwischen den verschiedenen Arten künftig berücksichtigen. Erfreulicherweise arbeiten heutzutage viele Länder zusammen, um gemeinsam genutzte Bestände oder große Meeresökosysteme, sogenannte Large Marine Ecosystems, zu schützen – etwa an der südwest-afrikanischen Küste. Gerade in den Entwicklungsländern ist eine nachhaltige Fischerei, die die Bestände erhält, besonders wichtig. Denn dort ist die Fischerei vor allem in den Küstengebieten Haupterwerbszweig und Fisch die wichtigste Quelle tierischen Proteins. In Staaten wie Bangladesch oder Ghana trägt Fisch zu mehr als 50 Prozent zur Versorgung mit tierischem Protein bei.
In den Entwicklungsländern herrscht heute häufig noch die handwerkliche Fischerei mit kleinen Booten vor. Man schätzt die Zahl dieser sogenannten artisanalen Fischer weltweit auf rund 12 Millionen. Im Gegensatz dazu fischen die Industrienationen heute mit modernen Schiffen. Die größten von ihnen, sogenannte Fabrikschiffe, können ungeheure Mengen Fisch aus dem Meer ziehen. Der Fisch wird an Bord sofort verarbeitet, verpackt und tiefgefroren. In der industriell betriebenen Fischerei arbeiten nur etwa 500 000 Menschen weltweit. Pro Kopf fangen sie ein Vielfaches dessen, was artisanale Fischer mit ihren Netzen aus dem Meer holen. Die Fabrikschiffe machen es möglich, fern der Küsten auf allen Ozeanen zu fischen, da der an Bord tiefgefrorene Fisch auf den langen Seereisen nicht mehr verdirbt wie früher. Damit ist der Mensch seit den 1960er Jahren in der Lage, die Fischbestände weltweit bis über die Belastungsgrenzen hinaus auszubeuten. Die Folge: Heute ist, nach Angaben der Welternährungsorganisation FAO, mehr als ein Viertel der Fischbestände überfischt. Seit 1950 hat sich die Menge des jährlich gefangenen Fischs weltweit verfünffacht. 78,9 Millionen Tonnen Fisch und Meeresfrüchte wurden allein im Jahr 2011 aus dem Meer geholt. Um über viele Jahre so viel fangen zu können, hat sich die Fischerei im Laufe der Zeit von den großen traditionellen Fanggebieten der Nordhalbkugel immer weiter nach Süden in alle Meeresregionen ausgebreitet. Hatte man die Bestände ausgebeutet, zogen die Flotten weiter zu neuen Fischgründen. Überfischte Arten wurden durch andere, bislang kaum genutzte ersetzt. Selbst in die Tiefsee ist die Fischerei vorgedrungen. Heute reichen die Schleppnetze einiger Trawler 2000 Meter tief hinab. Dabei können so wichtige unterseeische Gebiete wie etwa Kaltwasserkorallen und Lebensräume an Seebergen ganz oder teilweise zerstört werden.
Trotz aller schlechten Nachrichten ist die Situation nicht ausweglos. Es gibt gute Beispiele für eine bessere Fischerei vor allem in Regionen oder Nationen, die relativ spät in die industrielle Fischerei eingestiegen sind und bereit waren, aus den Fehlern anderer zu lernen, Alaska, Australien und Neuseeland etwa. Die meisten Nationen haben den Fischfang lange Zeit an einzelnen Grenzwerten ausgerichtet, die von Fischereiwissenschaftlern errechnet werden. Die Forscher geben damit Empfehlungen, wie viele Tonnen Fisch in einem Jahr in einem Gebiet höchs­tens gefangen werden sollten. Dennoch wurde zu viel gefischt. Zum einen, weil diese Werte unsicher sind, zum anderen, weil Politiker und Fischereiunternehmen die Grenzwerte regelmäßig überschritten. Alaska, Australien und Neuseeland verfolgen hingegen das Konzept eines langfristig nachhaltigen Fischereiertrags, der sich am Zustand der Bestände orientiert. Die Einsicht: Geht es den Beständen gut, kann man auf Dauer mehr fangen und mehr Ertrag erwirtschaften. Dieses Konzept des maximalen nachhaltigen Ertrags (maximum sustainable yield, MSY) war lange Zeit durchaus umstritten, weil es ursprünglich nur die Maximierung des Ertrags zum Ziel hatte – nicht in erster Linie den Schutz der Ressource Fisch. Die aktuellen Beispiele aber machen deutlich, dass sich das Konzept an die Gegebenheiten vor Ort anpassen und um ökologische sowie soziale Aspekte wie etwa die Situation der Fischer erweitern lässt. Insofern halten viele Experten es für erfreulich und sinnvoll, dass sich die MSY-Idee langsam international durchsetzt. Wie sich zeigt, lässt sich Überfischung damit tatsächlich verhindern.
Ein großes Problem ist heute die illegale Fischerei, die IUU-Fischerei. Illegal gefischt wird vor allem in den Hoheitsgebieten von Entwicklungsländern, da sich diese Staaten keine Fischereiaufsicht leisten können. Man schätzt, dass jährlich zwischen 11 und 26 Millionen Tonnen Fisch illegal gefangen werden. Ohnehin überfischte Bestände werden dadurch zusätzlich geschwächt. Doch auch hier gibt es ermutigende Beispiele. In internationalen Kooperationsprojekten wurden beispielsweise in West­afrika Überwachungssysteme aufgebaut, die eine abschreckende Wirkung haben und IUU-Fischer fernhalten. Andererseits dürfte die illegale Fischerei für die Schwarzhändler auch weiterhin attraktiv bleiben, denn mit dem schnellen Wachstum der Weltbevölkerung wird die Nachfrage nach Fisch weiter steigen. Aus ernährungsphysiologischer Sicht ist es durchaus sinnvoll, regelmäßig Fisch zu verzehren, denn Wildfisch ist ein natürlich gewachsenes und gesundes Nahrungsmittel. Er enthält hochwertige Eiweiße, wertvolle Fettsäuren und viele Mineralstoffe. In den Industrieländern ist der jährliche Pro-Kopf-Verbrauch heute mit 28,7 Kilogramm am höchsten. In Afrika ist er mit 9,1 Kilogramm am gerings­ten. Experten gehen davon aus, dass der Fischverbrauch künftig weltweit zunehmen wird. Will man die Fischbestände im Meer nicht noch weiter ausbeuten, bleibt nur ein Ausweg: die Aquakultur, die Fischzucht, die heute bereits große Mengen an Fisch und Meeresfrüchten liefert. 2010 stammten bereits 60 Millionen Tonnen Fisch, Muscheln und Krebse aus Aquakultur. Um jährlich 8,4 Prozent hat sich die weltweite Produktion der Aquakultur in den vergangenen Jahrzehnten erhöht. Keine andere Lebensmittelbranche legte derart zu. Vor allem in Asien, auf das 89 Prozent der weltweiten Aquakulturproduktion entfallen, ist das Wachstum ungebrochen. Wichtig ist es, die Fischzucht umweltfreundlicher zu machen. Antibiotika im Fisch, überdüngte Gewässer und die Ab-holzung von Mangrovenwäldern für neue Aquakulturflächen haben die Branche in Verruf gebracht. In zahlreichen internationalen Projekten ist es inzwischen gelungen, die Produktion ökologisch auszurichten. Erste Produkte, die aus ökologisch wirtschaftenden Betrieben stammen, sind bereits auf dem Markt. Entsprechende Ökosiegel etablieren sich derzeit. Vor allem die Konsumenten in den Industrie­nationen, insbesondere in Europa und den USA, den wichtigsten Fischimportregionen weltweit, sind aufgefordert, ihren Einfluss geltend zu machen.
In der Kritik steht die Aquakultur auch, weil Fische aus dem Meer zu Fischmehl und Fischöl verarbeitet werden, das in der Fischzucht verfüttert wird. Das Problem: Für die Produktion von 1 Kilogramm Zuchtfisch muss man meist deutlich mehr als 1 Kilogramm Meeresfisch auf-wenden. Kritiker betrachten das als Verschwendung der Wildfische, die man besser direkt verzehren sollte. Dem wird entgegnet, dass in der Aquakultur vorwiegend kleine Fischarten verfüttert werden, die als Speisefisch kaum gefragt sind. Da die Fischmehl- und Fischölpreise in den vergangenen Jahren wegen der hohen Nachfrage in China stark gestiegen sind, versuchen Forscher seit geraumer Zeit aber ohnehin, den Fischanteil im Futter zu verringern – durch pflanzliche Zusätze und besser verdauliche Futtermischungen.
Ob Wildfischfang oder Aquakultur: Wie man die Fi-schereiwirtschaft künftig verbessern kann, weiß man längst. Jetzt ist es an der Zeit, die Weichen richtig zu stellen. Das gilt vor allem für Europa, wo derzeit Lösungen für die neue Gemeinsame Fischereipolitik diskutiert werden. Wichtig ist es, die völlig überdimensionierten Fischereiflotten in Portugal oder Spanien abzubauen, denn aus Angst vor hoher Arbeitslosigkeit hatte die Politik die Fischerei jahrelang durch Subventionen gefördert und modernisiert und damit den Ausverkauf der Fischbestände beschleunigt. Ungelöst ist bislang auch das Problem des Beifangs. Fischer werfen heute Fische über Bord, die zu klein sind oder für die sie keine Lizenz besitzen. Diese Tiere sterben meist. In manchen Fällen macht der Rückwurf 70 Prozent des Fangs aus – eine ungeheure Verschwendung. Durch eine Verbesserung der Lizenzvergabe und Kontrolle der Fischer durch Kameras oder staatliche Beobachter an Bord will man das Problem jetzt in den Griff bekommen. Ob sich die Politik, insbesondere die Fischereiminister der EU, zu einem nachhaltigen Fischereimanagement durchringen können, wird sich im Laufe der kommenden Monate zeigen. Vielleicht kann diese Veröffentlichung dazu beitragen. Textende
Nikolaus Gelpke, Awni Behnam, Martin Visbeck