Fischereipolitik
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WOR 2 Die Zukunft der Fische - die Fischerei der Zukunft | 2013

Grundlagen

Fischen am Limit

> Die Größe von Fischbeständen kann von Jahr zu Jahr stark schwanken. Fangmengen so festzulegen, dass die Bestände nachhaltig befischt werden, ist deshalb eine Herausforderung. Zwar gab es bereits gute wissenschaftliche Ansätze, doch wurden diese von der Fischereipolitik nicht umgesetzt. Mit einem neuen Fischereimanagement soll sich jetzt endlich weltweit eine Fischerei durchsetzen, die auf Dauer nachhaltig ist.

Vom Kommen und Gehen der Fische

Fischbestände wachsen und schrumpfen, ganz gleich, ob sie befischt werden oder nicht. Dieses natürliche Phänomen ist seit Jahrhunderten bekannt. Für viele Menschen war es eine Katastrophe, wenn die Fischbestände abnahmen – zum Beispiel in der armen Region Søndmør an der kargen norwegischen Westküste. Als dort der Kabeljau in den Jahren 1714 und 1715 ausblieb, mussten die Fischer, um nicht zu verhungern, ihre wichtigste Habe verkaufen – ihre Boote. Lange war es unklar, wodurch diese Schwankungen der Fischbestände ausgelöst werden. Viele Fischer und Wissenschaftler glaubten, dass die Fische in manchen Jahren einfach in andere Meeresregionen abwanderten. Schließlich legte der norwegische Fischerei­biologe Johan Hjort im Jahr 1914 eine umfassende statis­tische Untersuchung von Daten vor, die er auf zahlreichen Forschungsreisen gesammelt hatte. Eine seiner wichtigsten Erkenntnisse lautete: Es hängt vor allem von der Umwelt ab, wie viele Fische und wie viel Nachwuchs es in bestimmten Jahren gibt – unter anderem vom Salzgehalt und der Temperatur des Wassers. Hjorts Arbeit liegt fast 100 Jahre zurück. Seitdem ist das Wissen über das Anwachsen und Schrumpfen vieler Fischbestände enorm gestiegen. Man weiß heute, dass es viele Faktoren gibt, die die natürliche Bestandsentwicklung beeinflussen. Wie alles im Detail zusammenwirkt, hat man aber noch immer nicht restlos verstanden. Zu den wichtigsten natürlichen Einflussgrößen zählen die belebte Umwelt mit den Wechselwirkungen zwischen den Arten, aber auch die unbelebte Umwelt, insbesondere Salz- und Sauerstoffgehalt, Temperatur und die Wasserqualität. Letztere werden auch durch langfristige Klimaschwankungen verändert, was das Verstehen der Bestands­entwicklungen zusätzlich erschwert. Selbstverständlich beeinflusst nicht nur die Natur die Größe von Fischbeständen, sondern auch der Mensch durch den Fischfang. Der Zustand eines befischten Bestands lässt sich durch folgende 3 Größen beschreiben:

Zusatzinfo Wenn es dem Nachwuchs zu eng wird

DIE BIOMASSE (B) ist die Gesamtheit aller großen und kleinen, jungen und alten Fische eines Bestands. Sie wird anhand von Fangdaten der Fischerei und wissenschaft­lichen Probefängen mithilfe mathematischer Modelle ab­geschätzt und in Tonnen angegeben. Schon dieses mathematische Abschätzen ist mit einigen Unsicherheiten behaftet. Zudem kann die Biomasse von Jahr zu Jahr stark schwanken. Von besonderer Bedeutung ist die Zahl der geschlechtsreifen Tiere, der Laicher, weil von ihnen abhängt, wie viel Nachwuchs produziert wird. Diese Zahl wird als Laicherbiomasse bezeichnet und ebenfalls in Tonnen angegeben. Die Laicherbiomasse ist für Fischerei­wissenschaftler von besonderer Bedeutung, weil sie daraus wichtige Orientierungswerte, sogenannte Referenzpunkte, für das Fischereimanagement ableiten. Die Gesamtbiomasse eines Bestands setzt sich aus der Laicher­biomasse und der Biomasse der noch nicht geschlechtsreifen Tiere zusammen.
DIE FISCHEREILICHE STERBLICHKEIT (F) ist ein etwas abstraktes Maß für den Fischereidruck. Sie kann umgerechnet werden in einen relativen Wert, der angibt, welcher Anteil der Bestandsbiomasse durch die Fischerei entnommen wird.
DIE PRODUKTIVITÄT eines Bestands ergibt sich, indem man vom Massenzuwachs des Bestands aufgrund von Nachwuchs und natürlichem Größenwachstum der Fische die natürlich gestorbenen Tiere abzieht. Aus diesem Zusammenhang wird klar, dass die Produktivität eines Bestands wesentlich von der Laicherbiomasse abhängt. Auch lässt sich nachvollziehen, dass der Bestand schrumpft, wenn die natürliche Sterblichkeit und die fischereiliche Sterblichkeit zusammen größer sind als die Produktivität.
5.2 > Karges Land, arme Fischer: In der westnorwegischen Region Søndmør hing das Wohl der Men- schen lange Zeit fast ausschließlich vom Fischfang und vor allem der Entwicklung der Fischbestände ab.
5.2 > Karges Land, arme Fischer: In der westnorwegischen Region Søndmør hing das Wohl der Men- schen lange Zeit fast ausschließlich vom Fischfang und vor allem der Entwicklung der Fischbestände ab. © National Library of Norway/Foter/CC BY

Zusatzinfo Wann wird der Fisch zum Fisch?

Die Nachwuchsproduktion eines Fischbestands ist begrenzt. Ist die Laicherbiomasse groß, stößt der Lebensraum irgendwann an seine maximale Tragfähigkeit. Selbst wenn die Laicherbiomasse dann noch zunimmt, verharrt die Zahl der Jungfische auf einem bestimmten Niveau. Die Menge des Nachwuchses ist dann nur noch von den Umweltbedingungen abhängig. Dafür gibt es mehrere Gründe – Eier und Larven werden zum einen von Räubern gefressen, zum anderen verhungern sie, weil nicht genügend Nahrung vorhanden ist. Außerdem kann es bereits bei der Eiablage Konkurrenz um geeignete Laichplätze geben. Der Ostseehering etwa klebt seine Eier auf Wasserpflanzen. Gibt es zu viele Laicher, kleben die Tiere die Eier übereinander. Die unteren sterben aufgrund von Sauerstoffmangel. Da diese Bedingungen von Jahr zu Jahr schwanken können, schwankt auch die Zahl der Nachkommen bei hohen Laicherbeständen. Es kann star­ke, aber auch sehr schwache Nachwuchsjahrgänge geben. Befischt man einen Bestand zu stark, kann Folgendes passieren: Die Laicherbiomasse ist irgendwann so klein, dass nur noch wenig Nachwuchs produziert werden kann. In einem solchen Fall ist die Nachwuchsmenge direkt von der Menge der Laicher abhängig. Sie kann die Tragfähigkeitsgrenze nicht einmal mehr bei vorteilhaften Umweltbedingungen erreichen. Der Wert, bei dem die Laicherbiomasse derart klein ist, heißt Limitbiomasse (BLIM). Die entsprechende fischereiliche Sterblichkeit bezeichnet man als FLIM.

Das Scheitern des Vorsorgeansatzes

Mit der massiven Überfischung vieler Bestände in den 1970er, 1980er und 1990er Jahren durch die industriell betriebene Fischerei wurde deutlich, wie wichtig es ist, die Fangmengen zu begrenzen. 1995 entschied sich die Staatengemeinschaft mit der Fischbestandsvereinbarung der Vereinten Nationen (United Nations Straddling Fish Stocks Agreement, UNFSA), künftig mit mehr Bedacht zu fischen. Im selben Jahr veröffentlichte die Welternährungsorganisation (Food and Agriculture Organization of the United Nations, FAO) einen Verhaltenskodex für verantwortungsvolle Fischerei (Code of Conduct for Responsible Fisheries). Das vorrangige Ziel dieses sogenannten Vorsorgeansatzes (Precautionary Approach, PA) ist es, zu verhindern, dass ein Bestand so stark reduziert wird, dass er nicht mehr genügend Nachkommen produzieren kann und überfischt wird. Außerdem sollte die Fischerei auf Nummer sicher gehen: Je weniger man über den Bestand und seine Entwicklung weiß, desto vorsichtiger sollte der Bestand bewirtschaftet werden und desto weniger kann man fischen. Mit dem Vorsorgeansatz soll also in erster Linie Gefahr von der Ressource Fisch abgewendet werden. Deshalb wurden für viele kommerziell genutzte Fischarten Grenzwerte festgelegt, um zu verhindern, dass die fischereiliche Sterblichkeit zu hoch ist und die Biomasse eines Bestands dadurch zu stark abnimmt. Für die Bestände in Gewässern der Europäischen Union zum Beispiel bestimmt der EU-Ministerrat in jedem Jahr eine Höchstfangmenge (total allowable catch, TAC) und legt damit fest, wie viele Tonnen einer Fischart in einem Gebiet in diesem Jahr gefangen werden dürfen. Beim Vorsorgeansatz wird auch die Dynamik der Bestände berücksichtigt, denn die Größe eines Bestands ändert sich ja mit den Umweltbedingungen. Ist zum Beispiel wenig Nahrung vorhanden, sinkt die Produktivität des Bestands. Die Biomasse schrumpft. Ist viel Nahrung da, erhöht sich die Produktivität. Der Bestand wächst. Die Fischerei muss solche Bestandsschwankungen berücksichtigen. Sie darf nicht stets die gleiche Menge Fisch fangen, sondern muss die Fangmenge anpassen. Diese Anpassung sollte durch mehrere Orientierungs- und Grenzwerte erreicht werden, die bis heute für eine Fischerei gemäß Vorsorgeansatz genutzt werden:

Zusatzinfo Richtwerte gegen den Raubbau

BIOMASSE GEMÄSS VORSORGEANSATZ (BPA , Biomasse Precautionary Approach): Es ist schwierig, den Zustand eines Bestands vorherzusagen. Dafür gibt es mehrere Gründe. Zum einen sind die aktuellen Fischerei- und Forschungsdaten, mit denen man die Bestandsberechnungen durchführt, unsicher. Zum anderen hat jedes mathematische Analyseprogramm Unschärfen. Hundertprozentige Sicherheit gibt es nicht. Deshalb ist die Limitbiomasse (BLIM) als Grenzwert zu riskant. Zu groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Biomasse in einem Jahr tatsächlich unter diesen Wert fällt und das Wachstum des Bestands gefährdet ist. Gemäß dem Vorsorgeansatz wurde deshalb entschieden, einen Grenzwert festzulegen, der diese Unsicherheiten berücksichtigt. Dieser Grenzwert wird Biomasse gemäß Vorsorge­ansatz genannt, BPA (Biomasse Precautionary Approach). Er soll garantieren, dass die BLIM-Schwelle nicht versehentlich unterschritten wird; der Bereich zwischen BLIM und BPA ist also sozusagen eine Pufferzone. Er ist bis heute bei vielen Beständen der wichtigste Orientierungspunkt, um die Gesundheit eines Be-stands zu ermitteln.

Zusatzinfo Der MSY – stark kritisiert und doch bewährt

Fischereiliche Sterblichkeit gemäß Vorsorgeansatz (FPA): Da die Biomasse grundsätzlich eine unsichere und veränderliche Größe ist und nicht direkt durch menschliches Handeln beeinflusst werden kann, ist es für die Fischerei im Alltag wenig praktikabel, einen Grenzwert festzulegen, der nur die Biomasse als Vorgabe berücksichtigt. Deshalb gibt es einen zusätzlichen Grenzwert, der aus dem BPA abgeleitet wird: den FPA. Dieser gibt an, wie hoch die fischereiliche Sterblichkeit höchstens sein darf, damit BPA nicht unterschritten wird. Mithilfe des FPA berechnen die Wissenschaftler dann die jährlichen Höchstfangmengen in Tonnen für die nächste Saison. Das ist allerdings nur dann möglich, wenn man weiß, wie es dem Bestand aktuell geht. Dazu benutzen die Forscher zum einen Fangdaten vergangener Jahre, die Aufschluss über die langfristige Entwicklung des Bestands geben. Hinzu kommen aktuelle Fangdaten aus der laufenden Fangsaison sowie Daten aus Fängen, die mit Forschungsschiffen durchgeführt werden. Schließlich müssen für das laufende Jahr, für das noch keine Fischereidaten vorliegen, Annahmen getroffen werden. Mithilfe mathematischer Modelle wird daraus der Zustand eines Bestands für die nächste Fangsaison abgeschätzt und dann daraus Fangmengenempfehlungen für die Fischer. Wenn diese maximalen Fangmengen in Tonnen eingehalten werden, ist sichergestellt, dass nicht über FPA hinaus gefischt wird.

Fischen bis zum Limit

Prinzipiell war der Vorsorgeansatz eine gute Idee. Doch in der Praxis ist er gescheitert, weil die Fischereiminister die festgesetzten Grenzwerte stets als Zielwerte missverstanden haben: Statt sicherzustellen, dass die Grenzen nicht überschritten werden, haben sie die Fangmengen allzu oft so festgesetzt, dass so dicht wie möglich an der Grenze gefischt wurde. Rückblickend weiß man, dass die Grenzen – aufgrund der erwähnten Unsicherheiten – oftmals verletzt wurden, also mehr gefangen wurde, als der Bestand in bestimmten Jahren verkraften konnte. Vor allem aus politischen Gründen gestatten Behörden den Fischern außerdem bis heute, mehr zu fangen als von den Forschern empfohlen. Der BPA beziehungsweise FPA wurde von der Fischereiindustrie und der Politik also völlig falsch ausgelegt. Das Ergebnis ist bekannt: Häufig wurde zu viel Fisch entnommen, was die Bestände besonders in schwachen Jahren mit geringen Nachwuchsquoten geschwächt hat.

Zusatzinfo Warum das Fischen am MSY am meisten liefert

MSY – der neue Weg zum schonenden Fischfang?

Dass der Vorsorgeansatz nicht funktioniert, zeigte sich bereits nach wenigen Jahren. Deshalb wurde kurz nach der Jahrtausendwende ein anderes Konzept entwickelt, mit dem die Fischerei künftig besser reguliert werden soll. Es geht zurück auf den Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung (World Summit on Sustainable Development, WSSD) in Johannesburg 2002. In den Absichtserklärungen dieses Gipfels wurde festgelegt, dass die Fischbestände weltweit künftig zugleich nachhaltig und optimal befischt werden sollen. Das Ziel sollte der sogenannte maximum sustainable yield (MSY, maximaler nachhaltiger Ertrag) sein. Dieses Konzept geht weiter als der Vorsorgeansatz, der nur vor Überfischung schützen sollte. Mit dem MSY soll eine optimale Bewirtschaftung erreicht werden, die zugleich den Bestand erhält und auf Dauer die höchs­ten Erträge sichert. Damit entspricht der MSY der größtmöglichen Fangmenge, die langfristig entnommen werden kann, ohne die Produktivität des Bestands zu reduzieren. Der entscheidende Referenzpunkt ist der BMSY (BiomasseMSY). Dabei handelt es sich um jene Gesamtbiomasse, die den langfristigen Fischertrag gemäß dem MSY-Konzept ermöglicht. Sie ist so groß gewählt, dass weder starke Schwankungen der Nachwuchsproduktion oder des individuellen Fischwachstums noch Jahre mit besonders schwacher Rekrutierung den Bestand gefährden.
Inzwischen gibt es weltweit einige Fischereien, die sich am MSY-Konzept orientieren, etwa vor Australien und Neuseeland. In der Regel liegt der BMSY-Wert höher als der früher verwendete BPA-Wert – einfach deshalb, weil sich das MSY-Konzept an einem optimal genutzten, meist größeren Bestand orientiert. Der BPA hingegen war eine Untergrenze. Die Biomasse, die den MSY liefern kann, ist also oftmals größer als die Biomasse gemäß Vorsorgeansatz (BPA). Analog dazu ist FMSY kleiner als FPA. Allerdings gibt es auch hier von Fischbestand zu Fischbestand Unterschiede. Dass eine Fischerei nach dem MSY den höchsten Ertrag bringt, liegt daran, dass man in diesem Fall weder zu viel noch zu wenig fischt. Ein Fang entsprechend dem MSY ist sozusagen die goldene Mitte. Ist der Bestand hingegen sehr klein, ist auch das Bestandswachstum gering, da nur wenig Nachwuchs produziert werden kann. Ist der Bestand zu groß, wird irgendwann die Tragfähigkeit des Ökosystems erreicht: Im Mittel stirbt so viel Biomasse wie nachwachsen kann. Bei einer mittleren Bestandsgröße, wie sie das MSY-Konzept anstrebt, gibt es zwischen den Tieren viel weniger Konkurrenz ums Futter als in einem größeren Bestand mit mehr Individuen. Die Tiere finden mehr Nahrung, müssen weniger Energie für die Nahrungssuche aufwenden und nehmen stark an Gewicht zu. Die Verluste durch die Fischerei werden also dadurch wettgemacht, dass die Tiere deutlich schneller wachsen. Hinzu kommt, dass beim Fischfang nach Maßgabe des MSY mehr Eier überleben und sich mehr Fische entwickeln können, unter anderem deshalb, weil es vor allem bei Raubfischen wie dem Dorsch Kannibalismus gibt; die Alten ernähren sich teilweise von Eiern und Larven. Sind viele Altfische da, wird der Nachwuchs deutlich stärker dezimiert, als es bei einer Fischerei gemäß MSY der Fall ist. Alles zusammen führt dazu, dass beim MSY-Fischen in der Summe zusätzlich Biomasse zur Verfügung steht – die sogenannte Überschuss- oder Surplus-Produktion. Die Surplus-Produktion ist demnach beim MSY am größten.

Unschlagbares Doppel: Grenz- und Zielwert

Die Fischereiindustrie oder die Fischereiministerien haben Grenz- und Zielwerte über lange Zeit missbraucht. Hätten sie sich strikt an die Vorgaben der Wissenschaftler gehalten, wäre bereits ein einziger Orientierungspunkt ausreichend gewesen. Für ein erfolgreiches Fischereimanagement bräuchte man beim MSY-Konzept folglich nur den BMSY beziehungsweise den FMSY als Grenzwert. Das Konzept des Vorsorge­ansatzes aber hat gezeigt, dass das nicht funktioniert: BPA und FPA waren solche fixen Grenzwerte; Fischerei und Politik aber konnten damit nicht richtig – also nicht im Sinne einer nachhaltigen Fischerei – umgehen. Aus diesem Grund nutzt man beim MSY-Konzept heute einen Zielwert, an dem sich die Industrie orientieren kann, und einen Grenzwert zur Absicherung. In Australien und Neuseeland wurde eine derartige Vorgehensweise bereits umgesetzt. Hier ist der FMSY der Grenzwert. Zusätzlich gibt es einen niedrigeren Referenzwert FTarget als Zielwert. Die Fischerei ist demnach aufgefordert, nur so viel zu fischen, dass dieser Zielwert möglichst erreicht wird. Der FMSY wiederum ist in diesem Modell, analog zum alten BPA, der Grenzwert, der möglichst vermieden werden sollte. Der wesentliche Unterschied zum herkömmlichen Vorsorgeansatz besteht darin, dass die Fischerei sich nicht mehr an einem Grenzwert orientiert, sondern an einem niedrigeren Zielwert (FTarget), der den FMSY absichert. Für die Fischerei sind diese Werte besonders wichtig, da daraus klare Fangempfehlungen abgeleitet werden. Übergeordnet betrachtet wird im MSY-Konzept häufig die Bestandsbiomasse BMSY, der angestrebte Idealzustand sozusagen. Da aber auch hier die Bestimmung unsicher ist, wird BMSY häufig nicht als Zielwert, sondern als Grenzwert genommen. In Australien zum Beispiel ist das Biomasseziel mit einem entsprechend höheren BTarget-Zielwert angegeben. Die USA und Neuseeland haben vergleichbare Modelle entwickelt. Zwar werden die Grenz- und Zielwerte zum Teil anders benannt, allen modernen MSY-Ansätzen aber ist gemein, dass sie mit Grenz- und Zielwerten arbeiten und sich damit vom Vorsorgeansatz, der nur einen unteren Biomassegrenzwert nutzte, verabschiedet haben.

5.6 > Fischer sortieren an Deck des Trawlers „Messiah“ einen Fang Kabeljau, den sie bei den Aleuten aus dem Pazifik gezogen haben. © Steven 
J. Kazlowski/Alamy/Mauritius Images

5.6 > Fischer sortieren an Deck des Trawlers „Messiah“ einen Fang Kabeljau, den sie bei den Aleuten aus dem Pazifik gezogen haben.

Das MSY-Konzept im Praxistest

Das MSY-Konzept ist natürlich eine idealisierende Theorie, die zunächst einmal in die Praxis umgesetzt werden muss. Für viele Fischbestände besteht das Problem darin, dass sie lange so stark befischt wurden, dass man die optimalen Werte für Biomasse, Sterblichkeit und Ertrag gar nicht kennt. Man kennt weder die maximale Laicher­biomasse im unbefischten Zustand noch kann man mit Sicherheit den BMSY ableiten. Für jene Bestände, die bereits zusammengebrochen waren und sich durch Fangbeschränkungen erholen konnten, lässt sich allenfalls der BLIM bestimmen. Ein Beispiel ist der Dorsch in der östlichen Ostsee, der vor allem zwischen Schweden und Polen vorkommt. Der Bestand war jahrelang überfischt, konnte sich in den vergangenen Jahren aber aufgrund besserer Umweltbedingungen und einer besseren Kontrolle der Fangquoten, insbesondere in Polen, erholen. Seit 2 Jahren wächst der Bestand trotzdem kaum noch. Offenbar ist die Tragfähigkeit des Lebensraums mit derzeit zwischen 300 000 und 400 000 Tonnen Laicher­biomasse erreicht. Zwar war der Bestand Mitte der 1980er Jahre deutlich größer, aufgrund von Nahrungsknappheit derzeit ist aber offenbar kein weiteres Anwachsen möglich. Dieses Beispiel zeigt, dass sich die Tragfähigkeit von Systemen ändern kann und tatsächlich mit den Jahren stark schwankt. Daher ist eine Bestimmung des BMSY sehr unsicher. Hinzu kommt, dass in dieser Biomassebetrachtung die Altersstruktur des Fischbestands nicht berücksichtigt wird. Vom Alter der Tiere aber hängt entscheidend ab, wie viel Nachwuchs produziert wird und wie viel die Tiere an Masse zunehmen.
Auch bei vielen anderen kommerziell intensiv genutz-ten Fischbeständen ist es unmöglich, BMSY-Referenzwerte zu bestimmen. In diesen Fällen muss man sich in den kommenden Jahren weiter auf die alten PA-Werte verlassen beziehungsweise eine entsprechende fischereiliche Sterblichkeit FMSY festlegen. Diese Werte lassen sich auch dann ermitteln, wenn BMSY nicht bekannt ist. Aus rein wissenschaftlicher Sicht wären auch die PA-Werte durchaus sinnvoll. Immerhin wurden sie auf Basis langjähriger Erfahrungen festgelegt, auf Basis von Fang- und Rekrutierungsdaten sowie wissenschaftlichen Probefängen. Für das Fischereimanagement allerdings erwiesen sie sich als untauglich. Das ursprüngliche Ziel des PA-Konzepts war es, die Fischbestände durch Fangbeschränkungen langsam an-wachsen zu lassen und so wie beim Dorsch zu beob­achten, wie sich ein Bestand entwickelt. Dafür muss die Politik aber klare Vorgaben machen und den Fang entsprechend limitieren. In einem europäischen Verbundprojekt aus mehr als 10 Hochschulen und Instituten entwickeln Forscher nun Konzepte, wie sich ein nachhaltiger Fischfang gemäß dem MSY realisieren lässt, während weitergefisch wird. Fischereien vor Alaska, Australien oder Neuseeland zeigen bereits, dass Fischfang nach dem MSY schon heute möglich ist. Allerdings hatte man von Anfang an bessere Bedingungen als in Europa: Zum einen ist dort die maximale Bestandsgröße bekannt, weil man erst vor etwa 20 Jahren mit der industriellen Fischerei begonnen hat – damit ließen sich Werte wie der BMSY zuverlässig ableiten. Zum anderen ist das Fischereimanagement in Nationalstaaten wie Australien oder Neuseeland viel einfacher als in einem Staatenverbund wie der EU, in dem es viele konträre Meinungen gibt. Ziel des Weltgipfels für nachhaltige Entwicklung 2002 war es, bis zum Jahr 2015 alle Fischbestände weltweit nach dem MSY zu befischen. Dieses Ziel wird sich nicht erreichen lassen – vor allem, weil viele Staaten zu zögerlich waren und den Fischfang in den vergangenen Jahren nicht ausreichend beschränkt haben. Es wird daher noch einige Jahre dauern, bis alle europäischen Bestände dem MSY entsprechend befischt werden.

Eine Fischart kommt selten allein

Bislang hat das Fischereimanagement zumeist jede Art einzeln betrachtet. Fangmengen wurden für einzelne Arten festgelegt, ohne zu berücksichtigen, dass diese Teil eines Nahrungsnetzes sind und dass der Fang einer Art auch andere Arten und ihre Entwicklung beeinflusst. Das gilt auch für die ersten MSY-Management­ansätze. Künftig soll die Fischerei diese Zusammenhänge zwischen den Arten stärker berücksichtigen.
5.7 > Durch Mageninhalts­analysen lässt sich herausfinden, welches Meerestier was verspeist – in diesem Fall einen Krebs, Schnecken und eine Groppe, einen Knochenfisch.
5.7 > Durch Mageninhaltsanalysen lässt sich herausfinden, welches Meerestier was verspeist – in diesem Fall einen Krebs, Schnecken und eine Groppe, einen Knochenfisch.  © FISHBIO
MEHRARTENANSATZ: Beim Mehrartenansatz wird be-rücksichtigt, dass durch den Fischfang Tiere einer Art entnommen werden, die mit den anderen Arten des Ökosys-tems in Beziehung stehen – etwa als Räuber und Beute. Die Idee des Mehrartenansatzes besteht darin, all diese Zusammenhänge bei der Berechnung von Fangmengen zu berücksichtigen. So soll ein Fischbestand beispielsweise nur so stark befischt werden, dass genug Nahrung für die Räuber bleibt. Je nachdem, wie viele Arten in einem Meeresgebiet vorkommen, lässt sich dieser Mehrarten­ansatz unterschiedlich gut umsetzen. In der Ostsee zum Beispiel gibt es in der Fischerei nur 3 Protagonisten, die als Beute und Räuber miteinander verbunden sind – den Dorsch, den Hering und die Sprotte. Wissenschaftler gehen davon aus, dass in der Ostsee bereits in den kommenden Jahren ein Fischereimanagement nach dem Mehrarten­prinzip möglich ist. In der Nordsee hingegen interagieren 17 Fischarten in einem komplexen Zusammenspiel. Entsprechend schwer ist es hier, ein Mehrartenkonzept für den Fischfang zu entwickeln. Zwar haben die Wissenschaftler in den vergangenen Jahren viel darüber gelernt, wer wen frisst und wie die Arten grundsätzlich interagieren. Doch über die Mengen ist wenig bekannt. Eine Möglichkeit zu bestimmen, wie viel von einer bestimmten Fischart gefressen wird, sind Mageninhalts­analysen von Fischen oder Kotanalysen von Seevögeln und Meeressäugern. Kombiniert man diese Analysen mit Daten über Verdauungs­geschwindigkeiten, kann man in etwa abschätzen, wie viel Fisch weggefressen wird. Meist liegen aber nur Daten aus wenigen Jahren vor, die aus einzelnen, zeitlich begrenzten Forschungsprojekten stammen. So ist die Datenlage allgemein recht unsicher. Mit­hilfe von mathematischen Modellen kann man aber versuchen, diese Unsicherheiten zu reduzieren und zu einer besseren Abschätzung zu kommen. Dies wird momentan in verschiedenen Projekten erprobt. Die Forscher hoffen, in 10 bis 15 Jahren eine zuverlässigere Abschätzung machen zu können.
KONZEPTE FÜR DIE GEMISCHTE FISCHEREI: In Fischernetzen landen oftmals Fische mehrerer Arten – ganz gleich, ob sie im Ökosystem eng miteinander verknüpft sind oder nicht. Fachleute nennen das gemischte Fischerei. Ein Beispiel ist der Kabeljau- und Schellfischfang. Kabeljaue wie auch Schellfische sind Räuber, die sich nicht gegenseitig fressen. Aufgrund ihrer ähnlichen Größe und Lebensweise werden sie aber oft gemeinsam gefangen. Wenn man eine Art fängt, landet die zweite unweigerlich mit im Netz. Das macht es schwierig, die Fangmenge für eine Art zu optimieren. Kabeljau zum Beispiel ist wertvoller als Schellfisch, kommt aber in geringerer Zahl vor und gilt in der Nordsee als überfischt. Konzentriert man sich auf Kabeljau, so kann man nur recht wenig fangen, wenn man den Bestand nicht weiter gefährden will. Man verzichtet damit aber auf eine große Menge Schellfisch, den man nicht mehr fischt. Setzt man auf den billigen und in großen Mengen vorhandenen Schellfisch, landet als Beifang auch Kabeljau im Netz. Fängt man demnach intensiv Schellfisch, schrumpft der Bestand an Kabeljau. Es gibt viele solcher Abhängigkeiten, die die gemischte Fischerei vor allem in der Nordsee verkomplizieren. Obwohl noch nicht alle Details bekannt sind, wollen die Forscher in 2 bis 3 Jahren endlich ein erstes pragmatisches Konzept für die Nordsee etablieren, das die Probleme der gemischten Fischerei berücksichtigt und den Fang mehrerer Arten gleichzeitig im Sinne des MSY optimiert.
5.8 > Natürliche Schönheit vor Großstadtkulisse: Für die Bürger von Seattle sind Schwertwale im Puget Sound ein gewohnter Anblick.
5.8 > Natürliche Schönheit vor Großstadtkulisse: Für die Bürger von Seattle sind Schwertwale im Puget Sound ein gewohnter Anblick. © Mark Sears/thewhaletrail.org

Die Ökosystembetrachtung – die Königsdisziplin

Noch komplizierter wird es, wenn man das ganze Ökosystem betrachtet – die Fische mitsamt allen anderen Meeresbewohnern. Derzeit gibt es unter Fachleuten einen Streit darüber, ob es besser ist, die teuren und zeitraubenden Fischereiforschungsfahrten nur zu nutzen, um mehr über die Bestandsentwicklung einzelner Fischarten zu erfahren – oder ob nicht alle Arten des Ökosystems zur Gänze erfasst werden sollten, um das Nahrungsnetz besser verstehen zu können, als das bisher der Fall ist. Obwohl nämlich das Wissen über diese Zusammenhänge gerade in den letzten 20 Jahren enorm gewachsen ist, ist der Weg zu einem ökosystembasierten Fischereimanagement noch weit. Wie das möglicherweise funktionieren könnte, zeigen US-Forscher, die ein Konzept für ökosystembasiertes Fischereimanagement im Puget Sound vor Seattle an der US-Westküste entwickelt haben. Zwar wird es von den US-Behörden noch nicht eingesetzt, nach Einschätzung anderer Experten ist dieses Konzept aber tragfähig und könnte weltweit Schule machen. Die Forscher analysieren darin, wie intensiv bestimmte Arten befischt werden dürfen, ohne dass die Umwelt Schaden nimmt. Darüber hinaus berücksichtigen sie noch andere menschliche Einflüsse auf das Leben im Meer wie etwa Baumaßnahmen, den Schiffsverkehr oder den Tourismus. Textende