Ökosystem
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WOR 1 Mit den Meeren leben - ein Bericht über den Zustand der Weltmeere | 2010

Arteneinschleppung

Neue Arten in fremden Revieren

> Schon lange verfrachten Menschen Lebewesen von einem Teil der Welt in einen anderen – manchmal unbeabsichtigt, manchmal aber auch bewusst. Ganze Ökosysteme wurden dadurch bereits verändert. Der Klimawandel könnte diese Probleme verschärfen, denn mit der Erwärmung des Wassers könnten zuwandernde Arten häufiger gute Lebensbedingungen vorfinden.

Die Ursachen der Verschleppung von Meeresorganismen

Seit Menschen die Meere befahren, reisen mit ihnen auch andere Arten um den Globus. Dabei handelt es sich nicht nur um nützliche Pflanzen und Tiere oder Schädlinge wie Krankheitserreger oder Ratten, sondern vor allem auch um Meeresorganismen. Historische Aufzeichnungen und ar-­chä­ologische Funde belegen, dass Segelschiffe der frühen Entdecker von bis zu 150 verschiedenen Meeresorganismen besiedelt waren, die auf oder in den hölzernen Rümpfen lebten oder Metallteile wie die Anker­kette als Substrat nutzten. Störte der Bewuchs, wurden die Lebewesen unterwegs abgekratzt. In anderen Fällen blieben die Organismen auf dem verrottenden Rumpf zurück, wenn ein Schiff nicht mehr zu reparieren war. Es überrascht deshalb kaum, dass viele holzbohrende Arten wie der Schiffsbohrwurm Teredo navalis heute weltweit verbreitet sind. Ob diese Arten schon vor Beginn der europäischen Entdeckungsreisen Kosmopoliten waren, lässt sich heute allerdings nicht mehr feststellen. Wie der Mensch zur Ausbreitung vieler Arten beiträgt, weiß man aber sehr genau. Durch Globalisierung, Handel und Tourismus werden immer mehr Meeresorganismen über die Ozeane transportiert. Es wird geschätzt, dass allein in den Ballastwassertanks von Frachtern, die den Schiffen Gleichgewicht verleihen, ständig mehrere Zehntausend verschiedene Arten zwischen geographisch weit entfernten Regionen unterwegs sind. Die meisten dieser Exoten sterben während der Reise oder am Zielort, und von den Überlebenden schafft es nur ein Bruchteil, sich erfolgreich zu vermehren und eine neue Population aufzubauen. Doch, wie eine Untersuchung in sechs Häfen in Nordamerika, Australien und Neuseeland zeigte, etabliert sich trotz aller Hindernisse ein- bis zweimal pro Jahr an jedem der untersuchten Orte eine neue Art erfolgreich.

Geographische Barrieren können auch durch Kanäle überwunden werden. So sind bereits mehr als 300 Spezies durch den Suezkanal aus dem Indischen Ozean ins Mittelmeer eingewandert. Darüber hinaus werden Flüsse und andere Wasserstraßen für den Artenaustausch, wie etwa zwischen der Ostsee und dem Schwarzen Meer, verantwortlich gemacht. Eine weitere wichtige Ursache für die Verschleppung von Meeresorganismen ist der Handel mit lebenden Meeresorganismen für die Aquakultur, die Aquaristik oder die Nahrungsmittelindustrie. Fachleute teilen die Küstengewässer der Welt in insgesamt 232 Ökoregionen auf, die entweder durch geographische Barrieren wie etwa Landbrücken voneinander getrennt sind oder sich durch unterschiedliche Umweltbedingungen wie etwa den Salzgehalt deutlich voneinander unterscheiden. Wie eine Analyse aus dem Jahr 2008 er­gab, wurden durch den Menschen bereits in mindestens 84 Prozent dieser 232 Ökoregionen neue Arten eingeschleppt. Untersuchungen in Nord- und Ostsee haben ergeben, dass sich dort jeweils mindestens 80 bis 100 exotische Arten etablieren konnten. In der Bucht von San Francisco wurden bereits sogar 212 fremde Arten nachgewiesen, und für die Hawaii-Inseln geht man davon aus, dass etwa ein Viertel der ohne Mikroskop zu erkennenden Meeresorganismen eingeschleppt sind. Über die Verbreitung von Mikroorganismen und anderen Lebewesen, die sich nur schwer bestimmen lassen, weiß man aber noch relativ wenig. Lückenhaft sind die Bestandsaufnahmen auch für viele Meeresgebiete, die sich nur schwer erreichen lassen. Fachleute gehen grundsätzlich davon aus, dass sich fremde Organismen künftig durch die Klimaerwärmung in manchen Regionen noch besser etablieren können. Wärme liebende Lebewesen aus Südostasien zum Beispiel könnten dann auch in Gebieten Fuß fassen, die bislang für sie zu kalt waren.
5.9 > In bestimmten Küsten-Ökoregionen der Erde machen sich invasive Arten besonders häufig breit. Betroffen sind vor allem die gemäßigten Breiten. Regionen, in denen Einwanderer heimische Arten nicht beeinträchtigen oder verdrängen, sind grün markiert.
5.9 > In bestimmten Küsten-Ökoregionen der Erde machen sich invasive Arten besonders häufig breit. Betroffen sind vor allem die gemäßigten Breiten. Regionen, in denen Einwanderer heimische Arten nicht beeinträchtigen  oder verdrängen, sind  grün markiert. © maribus (nach Molnar et al., 2008)

Neue Arten verändern die Biodiversität

Viele Exoten fügen sich in die einheimische Flora und Fauna ein, ohne diese zu dominieren. Damit erhöhen sie die Vielfalt der Artengemeinschaft. Durch Naturkatastrophen können mitunter Lebensräume völlig zerstört werden und ganze Artengemeinschaften aussterben. In solchen Fällen entwickelt sich in den betroffenen Regionen häufig durch Neueinwanderung ein ganz neues Artengefüge. Ein Beispiel dafür ist die Ostsee, die erst nach der letzten Eiszeit – also in erdgeschichtlich jüngster Zeit – entstand und in ihrer heutigen Form als Brackwassermeer nur etwa 7000 Jahre alt ist. Dort hat sich mit der Alge Fucus radicans nur eine einzige Art evolutiv entwickelt. Alle anderen heute heimischen Arten sind aus Lebensräumen wie der Nordsee oder dem Weißen Meer eingewandert. Die Arteinwanderung ist also nicht immer problematisch oder durch den Menschen verursacht.

Seit Christoph Kolumbus 1492 Amerika erreichte, hat der Austausch zwischen weit entfernten Erdteilen ständig zugenommen. Damit wird es immer wahrscheinlicher, dass es Arten gelingt, auch solche Ökoregionen zu erreichen, die weit von ihrem natürlichen Herkunftsgebiet entfernt sind. Mitunter können neue Arten dann zum Problem werden. Sie verdrängen heimische Arten und können damit die Biodiversität, die Artenvielfalt, verringern. Das kann besonders dann passieren, wenn es am neuen Standort keine Feinde für sie gibt. Die australische Grünalge Caulerpa taxifolia zum Beispiel hatte 15 Jahre nach ihrer ersten Entdeckung bei Monaco bereits 97 Prozent aller geeigneten Böden zwischen Toulon und Genua überwachsen und sich bis in die nördliche Adria und nach Sizilien ausgebreitet. Die Alge bildet Abwehrstoffe, die sie für die meisten Pflanzenfresser ungenießbar macht. Organismen aber, die sich von Caulerpa ernähren und an die Abwehrstoffe angepasst sind, fehlen im Mittelmeer. Auch die asiatischen Algen Sargassum muticum und Gracilaria vermiculophylla bildeten nach ihrer Einschleppung nach Europa an manchen Küsten monokulturähnliche Bestände. Der nordpazifische Seestern Asterias amurensis wiederum etablierte sich Mitte der 1980er Jahre in Südostaustralien. Zwei Jahre nach seiner ersten Entdeckung in Port Philipp Bay, einer großen Bucht vor Melbourne, zählte man dort bereits mehr als 100 Millionen Exemplare. Auch für den Seestern gab es in seinem neuen Lebensraum so gut wie keine Feinde, sodass er einheimische Seesterne, Muscheln, Krebse und Schnecken stark dezimieren konnte. Die Biomasse der Seesterne übertraf schließlich sogar die Gesamtmenge aller in der Region gefischten Meeres­tiere.

In 78 Prozent der 232 Küsten-Ökoregionen der Welt wurden bereits derartige Fälle nachgewiesen, in denen neu eingeschleppte Arten einheimische Arten verdrängten. Besonders aus den gemäßigten Breiten, jenen Gebieten der Erde, in denen es weder besonders heiß noch kalt ist, sind viele Fälle bekannt. Abgesehen von Hawaii und Florida liegen die 20 am stärksten von eingeschleppten Mee­res­organismen heimgesuchten Küsten-Ökoregionen aus-­schließlich im gemäßigten Nordatlantik und Nordpazifik oder in Südaustralien, und immerhin neun dieser Regionen liegen in Europa. Standorte wie die Bucht von San Francisco werden inzwischen von eingeschleppten Arten dominiert. Dort werden die fremden Spezies immer öfter als eine Bedrohung für die marine Biodiversität betrachtet, obwohl bisher noch kein einziger Fall bekannt geworden ist, in dem eingeschleppte Arten zum Aussterben einheimischer Organismen geführt hätten.
5.10 > Anzahl ökologisch oder wirtschaftlich problematischer eingeschleppter Arten in besonders betroffenen Meeresregionen Europas.
5.10 > Anzahl ökologisch oder wirtschaftlich problematischer eingeschleppter Arten in besonders betroffenen Meeresregionen Europas. © maribus (nach Molnar et al., 2008)

Die wirtschaftlichen Folgen der Einschleppung fremder Arten

Eingeschleppte Meeresorganismen können der Fischerei wirtschaftliche Einbußen bescheren. So hat die aus Amerika stammende Rippenqualle Mnemiopsis leidyi vor 25 Jahren zum Zusammenbruch der Küstenfischerei im Schwarzen Meer geführt, das zu jener Zeit bereits durch Über­fischung und Eutrophierung ökologisch geschwächt war. 1982 wurden dort erstmals Exemplare gesichtet, die wahrscheinlich mit Ballastwasser eingeschleppt worden waren. Die Art breitete sich rasch aus und verdrängte dabei einheimische Arten, insbesondere Fische, von deren Eiern und Larven sie sich ernährte. Die Erträge der Fischerei brachen um fast 90 Prozent ein. 1989 zählte man dort mit 240 Exemplaren pro Kubikmeter Wasser die meisten M. leidyi weltweit. Erst die unbeabsichtigte Einführung der Rippenqualle Beroe ovata, eines Fressfeinds, konnte die Population zurückdrängen und eine Erholung der Fischbestände ermöglichen. Auch an der nordamerikanischen Ostküste machen eingeschleppte Arten Probleme. Dort verursachte die europäische Strandkrabbe Carcinus maenas Ertragsrückgänge in der Muschelfischerei. Gelegentlich geht von neu eingewanderten Meeresorganismen sogar eine Gefahr für die Gesundheit des Menschen aus. Ein Beispiel sind die Mikroalgen der Gattung Alexandrium, die Nervengifte bildet. Alexandrium-Arten wurden in letzter Zeit an vielen Küsten entdeckt, an denen sie vor wenigen Jahrzehnten wahrscheinlich noch nicht vorgekommen waren. Solche Phänomene können durchaus negative Folgen für den Tourismus haben.

Fremde Arten werden nicht nur im Ballastwasser von Schiffen über die Meere transportiert. Häufig siedeln Unternehmer aus anderen Ländern stammende marine Organismen für die Zucht in Aquakulturen in artfremden Lebensräumen an. Dies mag kurzfristig wirtschaftliche Gewinne bringen. Es besteht aber die Gefahr, dass die importierte Art einheimische verdrängt und so mittel- oder langfristig zu ökonomischen oder ökologischen Schäden führt. Studien haben ergeben, dass von 269 untersuchten eingeschleppten Meeresorganismen immerhin 34 Prozent bewusst für die Zucht in Aquakulturen importiert worden sind. Ein Beispiel ist die Japanische Riesen­auster Crassostrea gigas, die in mindestens 45 Ökoregionen angesiedelt wurde und in diesen heimisch geworden ist. Insbesondere zwischen 1964 und 1980 wurden große Mengen von Saataustern nach Europa importiert. Die ökologischen Auswirkungen waren in vielen Fällen verheerend. In Nordamerika und Australien bildet die Riesen­auster dichte Bestände, die die einheimischen Arten verdrängen. Häufig bewirken die Muscheln außerdem eine Eutrophierung der Küstengewässer, da sie unverdauliche Partikel mit einem selbst produzierten Schleim ausscheiden – eine zusätzliche organische Belastung des Wassers. Auch in Frankreich wurde beobachtet, dass Riesenaustern zur Verschmutzung der Gewässer führen. Außerdem wurde ein Rückgang des Zooplanktons und auch größerer Tiere beobachtet. In den Niederlanden und in Deutschland neigt die Riesenauster dazu, auf Miesmuschelbänken zu siedeln. Damit verdrängt sie eine traditionell fischereilich genutzte Art.

Man nimmt an, dass neben der Riesenauster mindes­tens 32 weitere Arten un­­beab­sichtigt in die Nordsee eingeführt wurden – darunter die Pantoffelschnecke Crepidula fornicata und die Alge Gracilaria vermiculophylla, die sich beide als ökologisch problematisch erwiesen. Um künftig derartige Schäden zu vermeiden, könnte ein einheitliches Bewertungssystem hilfreich sein. Mit diesem könnte man einschätzen, wie groß das Potenzial einer Art ist, andere Organismen zu verdrängen. Zudem könnte man damit abwägen, welche Vor- und Nachteile die Einführung einer fremden Art in einen Lebensraum hat. Seit geraumer Zeit versuchen Experten durch Vergleiche zwischen problematischen und harmlosen eingeschleppten Arten Eigenschaften zu identifizieren, die auf ein hohes Verdrängungspotenzial hinweisen. So schwimmen beispielsweise manche Algenarten auf, während andere absinken. Davon hängt ganz entscheidend ab, ob die Art verdriftet und sich ausbreiten kann. Bislang ist es aber schwierig, von einzelnen Eigenschaften einer Art auf ihr Verdrängungspotenzial zu schließen. Daher wird es vielleicht niemals möglich sein, eine sichere Vorhersage über das Verhalten einer Art an einem neuen Standort zu machen, weil zahlreiche Einflussgrößen eine Rolle spielen. Erschwert wird die Vorhersage dadurch, dass sich eine neue Art über einen längeren Zeitraum und mehrere Phasen im neuen Lebensraum etabliert: Auf eine Expansionsphase, in der sich die Art stark verbreitet, folgt meist zunächst ein Rückgang, ehe sich die Art völlig an den neuen Lebensraum angepasst hat. Will man das Verdrängungspotenzial einer Art korrekt einschätzen, muss man wissen, in welcher dieser Phasen sich die Art gerade befindet. Das aber lässt sich nur schwer feststellen.

Zusatzinfo Maßnahmen gegen die Artein­schlep­pung

Lassen sich Einschleppungen künftig vermeiden?

Beim Umgang mit exotischen Meeresorganismen ist Vorsicht geboten, denn Arteinschleppungen ins Meer sind meist irreversibel. Eine mechanische Beseitigung bereits etablierter Arten ist praktisch unmöglich. Sie würde aufwendige Taucheinsätze erfordern. Viele Arten durchleben mikroskopische Überdauerungs- oder Larvenstadien, in denen sie frei schwimmen. In solchen Phasen entziehen sich die Organismen völlig der Kontrolle. Es ist denkbar, natürliche Feinde im neuen Lebensraum anzusiedeln, aber auch diese Organismen könnten sich später als Bedrohung erweisen. Politik und Umweltmanagement werden daher verstärkt die wesentlichen Ursachen der Arteinschleppung kontrollieren müssen. Wichtig wäre dabei eine möglichst lückenlose Überwachung, etwa von Aquakulturen oder Ballastwasser. Alleingänge auf nationaler oder lokaler Ebene dürften aber kaum von Erfolg gekrönt sein. Aussichtsreicher sind internationale Strategien, die von allen Anrainern einer Ökoregion getragen werden. Textende