Medizin
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WOR 1 Mit den Meeren leben - ein Bericht über den Zustand der Weltmeere | 2010

Wirkstofflieferanten

Meerestiere als Wirkstofflieferanten

> Wirkstoffe aus dem Meer werden heute bereits als Krebsmedikamente oder Schmerzmittel eingesetzt. Andere Präparate befinden sich in der klinischen Erprobung. Doch die Fahndung nach neuen vielversprechenden Substanzen ist aufwendig. Mit genanalytischen Methoden versucht man jetzt, die Suche zu beschleunigen.

9.1 > Die Werke des griechischen Dramatikers Euripides (zirka 480 bis 406 vor Christus) werden auch heute noch gespielt. Das Meer hat in seinen Dramen eine geradezu schicksalhafte Bedeutung. Es ist Bedrohung, aber auch Quell des Lebens. © Bettmann/Corbis 9.1 > Die Werke des griechischen Dramatikers Euripides (zirka 480 bis 406 vor Christus) werden auch heute noch gespielt. Das Meer hat in seinen Dramen eine geradezu schicksalhafte Bedeutung. Es ist Bedrohung, aber auch Quell des Lebens

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Geschätzte Heilquelle seit der Antike

Als Quelle heilender Substanzen fasziniert das Meer die Menschheit seit Jahrtausenden. „Das Meer“, lässt der griechische Dramatiker Euripides in einem seiner Iphigenie-Dramen sagen, „reinigt uns von allen Wunden der Welt.“ Schon die Ägypter und Griechen untersuchten, wie Seewasser die Gesundheit beeinflusst. Sie sprachen dem Wasser und den darin gelösten Stoffen Heilkraft zu. Auf allen Kontinenten sind Meeresprodukte seit Jahrhunderten Bestandteil der Volksmedizin. So wird Meersalz traditionell gegen Hautkrankheiten eingesetzt. Algen werden als Wurmmittel verwendet. 1867 führte der französische Arzt La Bonnardière die klassische Thalasso- und Klimatherapie in Europa ein und trug damit dazu bei, dass das Meer dort zunehmend als Hort gesund machender Kräfte wahrgenommen wurde. Die Mystifizierung dieser Heilkraft hat allerdings auch irrationale Blüten getrieben – etwa der Glaube, dass der Verzehr von Meeresschildkröteneiern oder Haifischflossen die männliche Potenz steigert. Dieser Aberglaube wird heute von unseriösen Unternehmen missbraucht und hat zu einer Dezimierung zahlreicher Tierarten beigetragen.

Hightechgeräte spüren vielversprechende Moleküle auf

Mithilfe moderner molekularbiologischer und gentechnischer Methoden kann man heute sehr schnell neue zukunftsträchtige Substanzen im Meer identifizieren. Längst hat man realisiert, dass die Ozeane viele unbekannte bioaktive Stoffe beherbergen, die heilend oder pflegend wirken. In vielen Fällen konnten Wissenschaftler klären, welche Rolle bestimmte Substanzen in den Organismen spielen, beispielsweise in ihrem Immunsystem, und welche biochemischen Prozesse in den Lebewesen ablaufen. Die Forscher gehen davon aus, dass künftig zahlreiche neue bioaktive Substanzen im Meer und in Meeresorganismen entdeckt werden, schließlich ist der Ozean Heimat von Millionen Pflanzen-, Tierarten und Bakterienstämmen. Heute sind bereits rund 10 000 Naturstoffe bekannt, die vor allem in den vergangenen 20 Jahren aus Meeresorganismen isoliert wurden. Erleichtert wurde die Suche durch die Entwicklung neuer technischer Methoden wie etwa der Kernspinresonanzspektroskopie, mit denen sich unbekannte Wirkstoffmoleküle selbst dann identifizieren und analysieren lassen, wenn ein Meeresorganismus nur Spuren davon enthält. Außerdem wird der Meeresboden heutzutage so intensiv erforscht wie nie zuvor. Zum Einsatz kommen unbemannte Tauchroboter, mit denen man sogar in mehrere Tausend Meter Wassertiefe vorstoßen kann, um dort Proben zu nehmen.
Trotz dieser Fortschritte und der enormen Biodiversität (Kapitel 5) des Ozeans sind bisher nur wenige Meereswirkstoffe für den Einsatz in der Klinik zugelassen. Eine neue Substanz muss nämlich nicht nur an Molekülen angreifen, die im Krankheitsprozess eine zentrale Rolle spielen, sie sollte, wenn sie gleichzeitig mit anderen Medikamenten oder der Nahrung eingenommen wird, auch nicht zu riskanten Wechselwirkungen führen. Zudem muss sie großtechnisch herstellbar sein.

Wirkstoffe aus dem Meer – für den Menschen wie geschaffen

Die heute bereits zugelassenen marinen Naturstoffe bestechen in der Regel durch eine besonders gute Wirksamkeit. Sie werden geschätzt, weil sie durch andere Ausgangsstoffe und Zusammensetzungen geprägt sind als die Naturstoffe, die an Land vorkommen: Die spezielle Struktur der Wirkstoffmoleküle und ihre Bestandteile wie etwa die Elemente Brom oder Chlor tragen offensichtlich zur Wirksamkeit bei. Für gewöhnlich kommen die Substanzen nicht in ihrer reinen Form zum Einsatz. Zunächst werden die Moleküle chemisch leicht abgewandelt und auf den menschlichen Stoffwechsel zugeschnitten. Zu den erfolgreichen Meereswirkstoffen, die es bis in die klinische Anwendung geschafft haben oder die vielversprechende Kandidaten sind, gehören folgende Substanzen:

9.2 > Im Europa der Neuzeit wurde das Meer erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts als Heilquelle wiederentdeckt. Zunehmend reisten Menschen, die weitab der Küsten wohnten, zur Erholung an die See – wie hier auf die ostfriesische Insel Norderney. © Haeckel/Ullstein Bild 9.2 > Im Europa der Neuzeit wurde das Meer erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts als Heilquelle wiederentdeckt. Zunehmend reisten Menschen, die weitab der Küsten wohnten, zur Erholung an die See – wie hier auf die ostfriesische Insel Norderney.

Nukleoside

Zu den bekanntesten marinen Naturstoffen, die bereits seit gut 50 Jahren in der Klinik verwendet werden, gehören die aus dem karibischen Schwamm Cryptothetya crypta isolierten ungewöhnlichen Nukleoside Spongouridin und Spongothymidin. Nukleoside sind Bausteine des Erbguts DNA. Bevor sich eine Zelle teilt, wird das Erbgut vervielfältigt. Die Nukleoside werden dabei passgenau in den neuen Erbgutstrang eingebaut. Sie besitzen unter anderem eine Zuckerkomponente, zumeist die Ribose. Die Nukleoside Spongouridin und Spongothymidin hingegen haben einen anderen Zuckerbaustein, die Arabinose. Werden diese körperfremden Nukleoside in die DNA eingebaut, bricht die Erbgutvermehrung, die Nukleinsäuresynthese, ab.
Dieses Prinzip hat man sich früh für die Behandlung von Krebserkrankungen oder Viren zunutze gemacht, denn Tumorzellen sind besonders teilungsfreudig und auch Viren benötigen eine aktive Erbgutsynthese im Zellkern zur Vermehrung. Verabreicht man dem Patienten Substanzen, die die Nukleinsäuresynthese unterbrechen, wird das Tumorwachstum erheblich gestört. So wurden die Schwammnukleoside zu einer tumorhemmenden Substanz, einem Zytostatikum, weiterentwickelt. Bei diesem Wirkstoff handelt es sich um die Substanz Ara-C (Cytarabine®), das als erstes Meeresmedikament von der US-ame­rikanischen Nahrungs- und Arzneimittelbehörde (Food and Drug Administration, FDA) im Jahr 1969 zugelassen wurde. 1976 folgte die Zulassung des Virostatikums Ara-A (Vidarabin®), das die Vermehrung von Viren hemmt und bis heute bei schweren Herpes-simplex-Virusinfektionen angewendet wird.

9.3 > Aus Schwämmen wie dem Elefantenohrschwamm Lanthella basta werden viele medizinisch wirksame Stoffe extrahiert. Dieser Schwamm liefert Substanzen, die das Wachstum von Tumoren hemmen.

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9.4 > In der Koralle Plexaura homomalla konnten Forscher in den 1960er Jahren erstmals Prostaglandin-Hormone nachweisen. Die Koralle kommt in der Karibik und im Westatlantik bis in einer Tiefe von 60 Metern vor.

9.3 > Aus Schwämmen wie dem Elefantenohrschwamm Lanthella basta werden viele medizinisch wirksame Stoffe extrahiert. Dieser Schwamm liefert Substanzen, die das Wachstum von Tumoren hemmen. © J. W. Alker/TopicMedia  
9.4 > In der Koralle Plexaura homomalla konnten Forscher in den 1960er Jahren erstmals Prostaglandin-Hormone nachweisen. Die Koralle kommt in der Karibik und im Westatlantik bis in einer Tiefe von 60 Metern vor. © Humberg/imago

 

Prostaglandine

1969 wurde nachgewiesen, dass die in der Karibik und im Westatlantik weitverbreitete Koralle Plexaura homomalla große Mengen an Prostaglandin-Abkömmlingen enthält. Prostaglandine sind bedeutende von Geweben produzierte Hormone, die lebenswichtige Körperfunktionen wie die Blutgerinnung oder die ausgesprochen komplexen Entzündungsreaktionen steuern. Die Korallen-Prostaglandine von Plexaura homomalla und anderen Spezies wurden intensiv erforscht und lieferten wichtige Erkenntnisse zum Verständnis des menschlichen Prostanglandin-Stoffwechsels. Bislang ist aus dieser Forschung aber noch kein Medikament hervorgegangen.

9.5 > Die Kegelschnecken, wie zum Beispiel die Art Conus textile, leben vor allem in den tropischen Meeresgebieten. Mit einer Harpune injizieren sie Gift in ihre Beute. Wissenschaftlern ist es gelungen, daraus ein Schmerzmittel herzustellen.

9.6 > Moostierchen sind winzige Tiere, die in ast- und blatt-ähnlichen Kolonien leben. Aus dem Moostierchen Bugula neritina stammt der Tumorhemmstoff Bryostatin. Vermutlich wird er von Bakterien auf der Oberfläche der Kolonie synthetisiert.

9.5 > Die Kegelschnecken, wie zum Beispiel die Art Conus textile, leben vor allem in den tropischen Meeresgebieten. Mit einer Harpune injizieren sie Gift in ihre Beute. Wissenschaftlern ist es gelungen, daraus ein Schmerzmittel herzustellen. © Steve Parish/Steve Parish Publishing/Corbis
9.6 > Moostierchen sind winzige Tiere, die in ast- und blatt-ähnlichen Kolonien leben. Aus dem Moostierchen Bugula neritina stammt der Tumorhemmstoff Bryostatin. Vermutlich wird er von Bakterien auf der Oberfläche der Kolonie synthetisiert. © Dean Janiak

Peptide

Erst knapp 30 Jahre nach der Zulassung von Ara-C wurde im Jahre 2005 der nächste Meereswirkstoff für die Anwendung am Menschen freigegeben. Dabei handelt es sich um das Peptid Ziconotid (Prialt®), das aus der Giftdrüse mariner Kegelschnecken (Conus-Arten) isoliert wurde. Peptide sind größere Eiweißbestandteile. Entsprechend besteht das Kegelschneckengift aus einem hochkomplexen Gemisch verschiedener Eiweißbestandteile, den sogenannten Conotoxinen. Diese Conotoxine greifen den Stoffwechsel von Tieren oder Menschen an unterschiedlichen Punkten an: In der Natur lähmen die Toxine Beutetiere, indem sie die Ionenkanäle an der Zellmembran blockieren, kleine Öffnungen, die entscheidend zur Weiterleitung von Nervenimpulsen beitragen.
In der Klinik wird nicht das reine Schneckengift, sondern eine abgewandelte Form des biologischen Giftcocktails zur Behandlung von stärksten chronischen Schmerzen eingesetzt. Das Medikament Ziconotid wirkt, indem es den Einstrom von Ionen in schmerzleitende Nervenzellen blockiert. Dadurch stört es die Übertragung von Schmerzsignalen aus dem Körper über das Rückenmark ins Gehirn. Das Mittel kommt bei Patienten zum Einsatz, deren Schmerzen so stark sind, dass sie sich nicht mehr mit Morphium-verwandten Medikamenten dämpfen lassen. Auch bei einer Morphium-Unverträglichkeit wird es verabreicht.

Alkaloide

Der Wirkstoff Ecteinascidin-743 oder auch Trabectedin gehört zur Klasse der Alkaloide, stickstoffhaltiger organischer Verbindungen, und wird unter dem Handelsnamen Yondelis® vermarktet. Es ist das bisher jüngste Präparat marinen Ursprungs, das eigentlich aus dem Man­teltier Ecteinascidia turbinata, einem einfachen, am Meeresboden lebenden Wasserfiltrierer, gewonnen wurde. Erst 2008 hat man den Wirkstoff als Medikament zugelassen. Ecteinascidin-743 ist ein Alkaloid, das einen komplexen Stoffwechselmechanismus unterbricht, mit dem Krebszellen häufig Resistenzen gegen Arzneimittel entwickeln. Ecteinascidin-743 bindet an das Erbgutmolekül DNA. Dadurch verändert sich die Gestalt der DNA leicht, wodurch der Stoffwechsel der Krebszelle gestört wird. Im Detail geschieht dabei Folgendes: Ecteinasci­din-743 verbindet sich mit dem DNA-Reparatureiweiß TC-ER, koppelt dann an die DNA an und verhindert damit, dass ein für die Krebszelle wichtiges Gen ausgelesen wird, das MDR1-Gen (Multi Drug Resistance, MDR). Dieses Gen enthält den Bauplan für das MDR1-Eiweiß, dessen Funktion darin besteht, Gifte oder körperfremde Stoffe aus Zellen auszuschleusen. Damit wirkt es bei einer Krebstherapie kontraproduktiv, denn es schleust auch die Medikamente aus den Tumorzellen aus. Am Ende kann das zur Resistenzbildung und zum Versagen der Therapie führen. Ecteinascidin-743 aber blockiert die Produktion von MDR1 und verhindert damit das Ausschleusen. Die Wissenschaftler hoffen, dass Ecteinascidin-743 die Wirksamkeit anderer Chemotherapeutika durch die Hemmung der Resistenzbildung verstärken kann. Yondelis® ist bisher zur Therapie von Weichteilsarkomen, seltenen bösartigen Bindegewebs­tumoren, zugelassen.

Andere Krebsmittel aus dem Meer

Weitere marine Anti-Tumor-Wirkstoffe werden derzeit noch in klinischen Studien intensiv geprüft und weiterentwickelt. Dazu zählen das aus dem Moostierchen Bugula neritina gewonnene Bryostatin, das aus dem Dornhai Squalus acanthias isolierte Squalamin-Lactat und das Sorbicillacton, das aus Bakterien stammt, die in Gemeinschaft mit Schwämmen leben. Nicht ganz so vielversprechend erscheinen Substanzen wie das aus der Schnecke Dolabella auricularia isolierte Dolastatin 10 und Dolastatin 15 und deren Abkömmlinge. Klinische Studien zeigen, dass diese beiden Wirkstoffe allein Krebsarten wie Brust- und Bauchspeicheldrüsenkrebs nicht heilen können. Es ist allerdings denkbar, dass sie in Kombination mit anderen Präparaten Wirkung zeigen.
9.7 > Bis heute konnten Wissenschaftler viele Wirkstoffe aus Lebewesen gewinnen, die im Meer oder im Süßwasser leben. Einige Substanzen werden bereits als Medikament eingesetzt.
9.7 > Bis heute  konnten Wissenschaftler viele Wirkstoffe aus Lebewesen gewinnen, die im Meer oder im Süßwasser leben. Einige Substanzen werden bereits als Medikament eingesetzt. © maribus

Zusatzinfo Der Kampf gegen die Anti­bio­tika-Resis­tenz

9.8 > In den äußeren Zellschichten des Nesseltiers Hydra, im Ektoderm, leben zahllose Bakterien. Durch gezieltes Anfärben kann man dieses dichte Miteinander sichtbar  machen. Unter dem Mikroskop erscheinen die Zellkerne von Hydra blau und die Bakterien rot. © Bosch, Foto: Sebastian Fraune 9.8 > In den äußeren Zellschichten des Nesseltiers Hydra, im Ektoderm, leben zahllose Bakterien. Durch gezieltes Anfärben kann man dieses dichte Miteinander sichtbar machen. Unter dem Mikroskop erscheinen die Zellkerne von Hydra blau und die Bakterien rot.

Wie groß ist das Potenzial der Meereswirkstoffe tatsächlich?

Es gibt heute also bereits eine ganze Reihe von Substanzen aus dem Meer, die als Medikament eingesetzt werden. Andere haben das Potenzial, sich künftig als Wirkstoff zu etablieren. Aus diesen Beispielen lassen sich interessante Thesen und Fragen zur Zukunft der marinen Naturstoffforschung ableiten:
1. Das Meer liefert aussichtsreiche Kandidaten für neue Medikamente. Doch die Suche und die Produktion in größerem Maßstab ist schwierig. Einerseits, weil die Lebewesen in den riesigen Ozeanen schwer zu finden sind und oftmals nur in geringer Zahl vorkommen. Andererseits, weil man viele dieser Lebewesen nicht über längere Zeit im Labor halten oder züchten kann. In der Pharmaindus­trie gibt es seit Langem Verfahren, mit denen man im Labor automatisiert Varianten bekannter Wirkstoffe herstellt und auf ihre Eignung als Medikament testet. Bei diesen Hochdurchsatz-Screenings werden in kürzester Zeit ganze Kataloge verwandter Substanzen getestet. Die Substanzen aus dem Meer aber haben häufig so komplizierte Molekülstrukturen, dass sie sich, nachdem ihre Wirksamkeit erwiesen ist, nicht so einfach nachbauen und variieren lassen. Das erschwert die Suche und die Weiterentwicklung mariner Wirkstoffe erheblich. Diese Suche ist zudem ausgesprochen zeitraubend und bedarf teurer Geräte. Für die Industrie ist der Aufwand in der Regel zu groß. Daher wurden die meisten Substanzen aus dem Meer bisher von Forschern an wissenschaftlichen Einrichtungen entdeckt, isoliert und analysiert. Der Sprung in die Industrie ist dann meist schwierig – auch weil die Zusammenarbeit zwischen Industrie und Hochschule aus patentrechtlichen Gründen erschwert wird: Der Forscher möchte seine Erkenntnisse veröffentlichen. Die Industrie aber möchte den Wirkstoff und die Rezeptur des Medikaments aus Angst vor Konkurrenz geheim halten. Zu früh veröffentlichte Fachartikel können außerdem die Anerkennung eines Patents verhindern. Solche Gründe haben die Pharmaindustrie lange davon abgehalten, den Ozean als große und wichtige Ressource für neue Medikamente zu betrachten. Doch in-zwischen gibt es vielversprechende Kooperationen zwischen Industrie und Hochschule wie etwa Ausgründungen von Start-up-Firmen aus dem akademischen Bereich. Solche jungen Unternehmen haben in den vergangenen Jahren wichtige neue Impulse gesetzt. Eine entscheidende Frage für diesen Bereich wird sein, wie sich Fördermaßnahmen zur Etablierung solcher Risikovorhaben in den nächsten Jahren gestalten und wie attraktiv solche individuellen Wege aus der akademischen Forschung vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Gesamtsituation sein können.
2. Nicht immer ist klar, aus welchem Organismus die marinen Wirkstoffe eigentlich stammen. In der Vergangenheit hat man viele Substanzen aus Wirbellosen isoliert. In vielen Fällen aber konnte gezeigt werden, dass sie gar nicht von dem Tier selbst, sondern von Bakterien oder Pilzen produziert werden, die in oder auf ihm leben. Mikroorganismen machen mitunter 40 Prozent der Biomasse von Schwämmen aus, die häufig zusätzlich noch von Mikroalgen besiedelt sind. Dass Mikroorganismen die eigentlichen Wirkstoffproduzenten sind, ist von großer Bedeutung, denn es besteht die Hoffnung, diese im Labor leichter nachzüchten zu können als die höheren Meeresbewohner, auf denen sie siedeln. Zunächst hatte man geglaubt, Schwämme und andere Tiere im großen Stil ernten zu können. Doch schnell wurde klar, dass die Arten dadurch leicht ausgerottet werden könnten. Daher setzte man bald vor allem auf die Bakterienzucht im Labor, was bis heute nur selten gelingt. Doch in einigen Fällen hatten die Wissenschaftler bereits Erfolg. So konnten in kurzer Zeit aus Pilzkulturen, die ursprünglich aus Schwämmen isoliert wurden, größere Mengen des oben erwähnten Wirkstoffs Sorbicillacton gewonnen werden. Dennoch bleibt die Schwierigkeit, dass die Anzucht von unbekannten Bakterien ein langwieriges Verfahren sein kann.
9.10 > Biomoleküle von Wasserorganismen wie das aus dem Polypen Hydra isolierte Hydramacin sind oft komplex gebaut. Das erschwert die Synthese, den Nachbau, im Labor. © maribus (nach Bosch) 9.10 > Biomoleküle von Wasserorganismen wie das aus dem Polypen Hydra isolierte Hydramacin sind oft komplex gebaut. Das erschwert die Synthese, den Nachbau, im Labor.
3. Die Fahndung nach neuen Wirkstoffen wird heute durch kulturunabhängige, genanalytische Methoden er­­leichtert. Damit entfällt die mühevolle und komplizierte Zucht von Bakterien und anderen Organismen in Laborkulturen. Viele Jahrzehnte lang versuchte man außerdem, allein mit aufwendigen chemischen und biochemischen Analysen die Substanzen direkt nachzuweisen. Dank der modernen Genanalysetechnik lässt sich das heute schneller und eleganter lösen. Die modernen Verfahren suchen im Erbgut der Meeresorganismen nach auffälligen Genabschnitten, die den Bauplan für vielversprechende Enzyme enthalten. Solche Enzyme sind die Handwerker des Stoffwechsels, die verschiedenste Substanzen aufbauen. Die Entwicklung solcher DNA-Sequenziertechniken ist in der Wirkstoffforschung die sicherlich größte Veränderung der letzten Jahre. Inzwischen gibt es große Sequenzierprojekte, die innerhalb kurzer Zeit das Erbgut Tausender Meeresorganismen nach interessanten Genabschnitten durchforsten. Ein Beispiel sind die Global-Ocean-Sampling-Expeditionen des US-amerikanischen Craig-Venter-Instituts, das maßgeblich an der Entschlüsselung des menschlichen Genoms zu Beginn dieses Jahrhunderts beteiligt war. Inzwischen fokussiert dieses Institut stärker auf das Meer. Das Ziel ist es, das Erbgut der Meereslebewesen nach ökonomisch interessanten Stoffwechselwegen zu durchsuchen. Ganze Lebensräume können so einer Sequenzanalyse unterzogen werden. Bei derart großen Projekten werden viele Organismen mitsamt ihrem mikrobiologischen Aufwuchs verarbeitet. Die Ergebnisse können also nicht mehr einzelnen Arten zugeordnet werden. Für die Forscher spielt das aber keine Rolle. Ihnen geht es zunächst darum, in kurzer Zeit entscheidende Informationen über die genetische Ausstattung eines kompletten Lebensraums zu erhalten und herauszufinden, ob vor Ort überhaupt interessante Substanzen vorhanden sind. Textende