Als in den 1960er- und 1970er-Jahren immer mehr Transatlantikreisende vom Schiff auf das Flugzeug umstiegen, brauchte die Passagierschifffahrt eine neue Geschäftsidee, mit der sie Menschen zurück auf ihre Schiffe locken könnte. US-amerikanische Reeder setzten auf die Spiel- und Vergnügungssucht ihrer Landsleute. Diese hatte schon Las Vegas groß gemacht. Warum sollten nicht auch Schiffe als Kombination aus Hotel, Bar und Casino funktionieren? Das Konzept ging auf: Blackjack, Poker und die Aussicht, an Bord zollfrei einkaufen zu können, zogen die Menschen in immer größer werdenden Scharen auf das Meer und begründeten mit dem Kreuzfahrttourismus den seit den 1990er-Jahren am stärksten wachsenden Reisesektor weltweit. Nach Angaben des Branchenverbandes CLIA (Cruise Lines International Association, Weltverband der Kreuzfahrtindustrie) stieg die internationale kreuzfahrttouristische Nachfrage im Zeitraum von 1990 bis 2018 von 3,8 Millionen auf 28,5 Millionen Passagiere – die Hälfte davon aus Nordamerika, jeweils ein Viertel aus Europa und der restlichen Welt. Das Wachstum hielt an bis zum Ausbruch der Coronapandemie im Jahr 2020, als die Passagierzahlen auf knapp sieben Millionen fielen.
Zu diesem Zeitpunkt waren nach Angaben des deutschen Umweltbundesamtes weltweit mehr als 500 Kreuzfahrtschiffe im Einsatz, die größten von ihnen mit Platz für mehr als 6000 Passagiere und 2200 Besatzungsmitglieder. Diese schwimmenden Städte verkehren bis heute vor allem in der Karibik und auf dem Mittelmeer. Aber auch auf Nebenstrecken in Asien, Europa und den Polarregionen nahm der Verkehr bis 2020 deutlich zu, sodass Experten mittlerweile von einem globalen Industriezweig sprechen. Im Jahr 2018 beschäftigte die Kreuzfahrtbranche weltweit 1,18 Millionen Mitarbeiter und generierte einen gesamtwirtschaftlichen Mehrwert in Höhe von rund 150 Milliarden US-Dollar.
Ein Großteil der Kreuzfahrteinnahmen fließt in die Kassen dreier Unternehmensgruppen: die Norwegian Cruise Line Holdings, die Royal Caribbean Group sowie die Carnival Corporation & plc. Sie kontrollieren zusammen 77 Prozent des Marktes. Alle drei Unternehmen haben die touristische Wertschöpfungskette inzwischen derart perfektioniert, dass die Küstenorte, welche die Schiffe anlaufen, kaum noch vom Massentourismus profitieren. Die Passagiere verbringen nur kurze Zeit an Land und essen, trinken, shoppen und vergnügen sich größtenteils an Bord, obwohl in den meisten Fällen die Zielstädte oder -nationen im Falle von Inselstaaten den Ausbau der Hafen- und Versorgungsanlagen finanzieren und somit ein Anlegen der Schiffe überhaupt erst ermöglicht haben.
Einzig und allein die Städte, welche als Start- und Zielhafen fungieren, profitieren heutzutage noch in größerem Maß von den Schiffsreisenden, doch auch hier haben die Reedereien mittlerweile Cruise Terminals sowie Taxi- und Buslinien übernommen, welche die Urlauber am Anfang der Reise zum Schiff und am Ende wieder zurück zum Bahnhof oder Flughafen bringen. In der Karibik haben die Reedereien sogar Inseln gekauft, um Landgänge anbieten zu können und gleichzeitig alle damit verbundenen Gewinne abzuschöpfen.
Den Preis für die Expansion der Kreuzfahrtbranche zahlen die Zielorte und vor allem die Umwelt. Zu den schwerwiegendsten Folgen zählen:
Die US-Umweltbehörde EPA schätzte vor einigen Jahren, dass an Bord eines Kreuzfahrtschiffes mit mehr als 3000 Betten pro Tag rund 80 000 Liter Schmutzwasser, eine Tonne Müll, mehr als 640 000 Liter Grauwasser, etwa 24 200 Liter ölverschmutztes Bilgenwasser, mehr als elf Kilogramm Batterien, fluoreszierende Lichter und Medizinabfälle sowie pro Passagier vier Plastikwasserflaschen anfallen. Wenn man vor diesem Hintergrund bedenkt, dass etwa 70 Prozent der von Kreuzfahrtschiffen angelaufenen Häfen in Gebieten mit besonders hoher mariner Artenvielfalt liegen, wird deutlich, wie groß das Schadenspotenzial bei unsachgemäßer Entsorgung dieser Abfälle und Abwässer ist.
Die Branche reagiert mit technischen Neuerungen auf die Umweltschutzvorgaben der IMO sowie auf die viele Kritik von Wissenschaftlern und Umweltschützern. Schadstoffärmere Kraftstoffe (vor allem LNG), Abgasfilter, Abwasseraufbereitungs- und Müllverbrennungsanlagen, der Verzicht auf Einweggeschirr sowie eine Landstromversorgung bei Hafenstopps sollen die Umweltbilanz des Massentourismus auf dem Meer verbessern. Fachleute bezweifeln jedoch, dass sich dieses Geschäft wirklich nachhaltig betreiben lässt. Schlussendlich bringen die Schiffe mittlerweile Abertausende Menschen an Orte, die einem derart großen Besucheransturm in der Regel nicht mehr gewachsen sind. Das gilt nicht nur für kleine Karibikinseln, sondern auch Touristenmetropolen wie Venedig, Barcelona und Palma de Mallorca. Und verliert eine Destination ihre Anziehungskraft, etwa weil die Korallenriffe abgestorben sind oder die Insel im Müll versinkt, zieht die Kreuzfahrtkarawane weiter und sucht sich ein neues, noch unbelastetes Traumziel.
Kritisiert werden häufig auch die Arbeitsbedingungen auf den Schiffen. Die meisten Beschäftigten erhalten nur Kurzfristverträge und arbeiten zum Teil für einen Niedriglohn. Als die Schiffe während der Coronapandemie weltweit festgesetzt wurden, durften zudem viele Beschäftigte nicht in ihre Heimatländer zurückreisen. Sie saßen ohne Lobby und Lohnfortzahlung auf den Schiffen fest.
Inwiefern sich die Branche von dem Passagiereinbruch infolge der Coronapandemie erholen wird, bleibt abzuwarten. Einige Marktkenner sprechen von einem möglichen Ende der goldenen Ära, andere sehen gute Chancen einer Renaissance. Die Entscheidung, ob der Massentourismus auf dem Meer weiterhin eine Zukunft hat, hängt letztlich von einer Millionenkundschaft ab, die sich ihren Traum von einer Seereise erfüllen und nur wenig oder gar nicht darüber nachdenken möchte, welchen sozialen, ökologischen und ökonomischen Fußabdruck der Kreuzfahrttourismus hinterlässt.
Abb. 4.21 > Bis zum Ausbruch der Coronapandemie vermeldete die Kreuzfahrtbranche in jedem Jahr neue Passagierrekorde. Gut die Hälfte der Urlauber kam dabei aus Nordamerika, ein Viertel aus Europa und ein weiteres Viertel aus der restlichen Welt.