Während der Tiefseebergbau noch eine Zukunftsvision ist, fördern viele Staaten seit Jahrzehnten Sand und Kies aus dem Meer. Beide Lockergesteine zählen mittlerweile zu den begehrtesten Rohstoffen der Welt. Sie werden nicht nur für die Herstellung von Beton, Glas und Elektrogeräten wie Computern benötigt, sondern außerdem als Füllsand auf Baustellen und in Häfen, im Küstenschutz für Strandvorspülungen sowie für die Landgewinnung. Der Küstenstadtstaat Singapur beispielsweise hat durch Aufspülungen mit Sand seine Fläche im Zeitraum von 1960 bis 2017 um mehr als 130 Quadratkilometer erweitert – und weitere 56 Quadratkilometer sind bis zum Jahr 2030 geplant. Für diesen Zweck hat das Land in den zurückliegenden 20 Jahren rund 517 Millionen Tonnen Sand und Kies importiert und ist damit zum weltweit größten Sandimporteur aufgestiegen.
„Sand“ ist ein Sammelbegriff für mineralische Rohstoffe mit einem Durchmesser von 0,063 bis zwei Millimetern – ganz egal, aus welchem Mineral die einzelnen Sandkörner bestehen. Kies ist gröber. Seine Korngrößen reichen von zwei bis 63 Millimetern. Der meiste Sand entsteht durch die natürliche Verwitterung von Felsgestein. Einen wichtigen Beitrag leisten aber auch Gletscher, deren Eismassen wie Hobel über Gebirgshänge rutschen, oder aber Bäche und Flüsse, die sich nahezu unbemerkt in die Landschaft fressen und große Mengen Sand davonspülen. Meist vergehen Zehntausende Jahre bis ein Felsbrocken als Sand zerkleinert am Ufer eines Flusses oder im Meer abgelagert wird. Sand entsteht allerdings auch direkt im Meer: Papageifische beispielsweise fressen Korallen und scheiden anschließend die unverdaulichen Überreste der Korallenskelette als Sand wieder aus. Ein ausgewachsenes Tier produziert so bis zu 90 Kilogramm Korallensand pro Jahr. Hinzu kommen unendlich viele Schnecken- und Muschelschalen, die von Strömung, Wellen und Wind zerrieben werden.
Die so entstehenden Sandmengen aber reichen schon lange nicht mehr aus, den Sandbedarf der Menschheit zu decken. Experten des Umweltprogramms der Vereinten Nationen schätzten im Jahr 2014, dass weltweit pro Jahr zwischen 32 und 50 Milliarden Tonnen Sand und Kies verarbeitet werden. Sollte sich dieser Verbrauch fortsetzen, was angesichts der wachsenden Weltbevölkerung und der zunehmenden Verstädterung wahrscheinlich ist, wären die natürlichen Ressourcen an Land, in Flüssen sowie im Meer in weniger als 30 Jahren erschöpft. Die Preise für beide Rohstoffe steigen bereits deutlich, in Deutschland mittlerweile um fünf bis zehn Prozent – pro Jahr.
Wie viel Sand und Kies aus den Weltmeeren entnommen werden, lässt sich nur schwer schätzen, weil die Daten immer noch nicht zentral erfasst und Sandvorkommen in vielen Flussläufen und Küstenbereichen illegal abgebaut werden. Fachleute sprechen vielerorts von einer regelrechten Sand-Mafia. Deren Geschäft wächst, weil die Nachfrage nach dem Material enorm steigt – vor allem in wirtschaftlich aufstrebenden Regionen wie China, Indien und Afrika, in denen viel gebaut wird. Eine Beispielrechnung: Für die Herstellung von Beton braucht man Zement als Bindemittel. Zu einer Tonne Zement müssen sechs bis sieben Tonnen Sand und Kies hinzugegeben werden, um zusammen mit Wasser und Zuschlagstoffen Beton herzustellen. Beton wiederum wird aufgrund des globalen Baubooms in solchen Mengen hergestellt, dass diese ausreichen würden, einmal pro Jahr eine 27 Meter hohe und ebenso breite Mauer um den gesamten Äquator zu ziehen. Rechnet man hier den Sand- und Kiesanteil heraus, wird klar, dass der Verbrauch beider Rohstoffe gigantisch ist.
Bei großen Bauprojekten müssen selbst Wüstenstaaten wie die Vereinigten Arabischen Emirate Sand importieren oder aus dem Meer fördern, denn ihr lokaler Dünen- oder Wüstensand eignet sich nicht für die Betonherstellung. Das liegt daran, dass die Sandkörner aus der Wüste zu rund geschliffen sind. Ihre Oberfläche ist zu glatt, ihre Größe zu einheitlich, als dass Zement und andere Zusatzstoffe daran haften bleiben würden. Sand aus Flüssen oder dem Meer dagegen besitzt eine kantigere Form und eine rauere Oberfläche. Er eignet sich hervorragend als Bausand.
In Großbritannien kommt heutzutage etwa jede fünfte Tonne Sand oder Kies, die in England und Wales zu Beton verarbeitet wird, aus den Küstengewässern des Inselstaates. Dennoch belegte das Land im Jahr 2018 nur Platz zwei auf der Liste der größten europäischen Meeressandproduzenten. An der Spitze standen nach Angaben des für den Nordatlantik zuständigen Internationalen Rats für Meeresforschung (International Council for the Exploration of the Sea, ICES) die Niederlande mit einer Fördermenge von rund 24,6 Millionen Kubikmetern. Dies entspricht, je nach Korngröße, einem Gesamtgewicht von 30 bis 40 Millionen Tonnen. Etwa die Hälfte wurde für Vorspülungen an der Nordseeküste und auf den niederländischen Inseln verwendet. Damit werden in jedem Jahr Sandmassen ausgeglichen, die durch die Herbst- und Winterstürme an der Nordsee fortgespült worden sind. Insgesamt wurden in Europa im Jahr 2018 rund 54,13 Millionen Kubikmeter Sand und Kies aus dem Meer entnommen.
Meeressand und -kies kommen vor allem dann zum Einsatz, wenn es an Land keine geeigneten Vorkommen gibt. Allerdings ist der Abbau von Sand und Kies im Meer in der Regel teurer als der an Land, weshalb weltweit betrachtet meist Lagerstätten an Land oder in Flussläufen bevorzugt werden. Die Auswirkungen auf die jeweilige Umwelt sind enorm. Flussbetten vertiefen sich, wodurch die Fließgeschwindigkeit zunimmt; Uferbereiche werden weggeschwemmt, Brückenpfeiler unterspült. Werden Sandbänke vor der Küste abgebaut, verlieren die dahinter liegenden Gebiete ihre wirksamsten Wellenbrecher. Folglich nehmen Überschwemmungen, Küstenerosion und Sturmschäden zu. Indonesien hat im Zuge des unkontrollierten Sandabbaus im Meer bereits 24 Inseln verloren.
Von biologischen Studien weiß man, dass die Sandförderung auch das Leben am Meeresgrund beeinträchtigt. Allein im Nordatlantik sind mehr als 48 Fischarten auf sandigen Boden als Laichplatz angewiesen, darunter auch beliebte Speisefische wie der Hering. Die Auswirkungen sind allerdings relativ kleinräumig. Schwer wiegt der Eingriff, wenn die abgebaute Sand- oder Kiesfläche die einzige weit und breit ist und abhängigen Arten der Lebensraum verloren geht. Förderlizenzen sollten deshalb erst nach eingehender Prüfung erteilt werden. Flächen, die intensiv für den Sandabbau genutzt wurden, brauchen im Durchschnitt fünf bis zehn Jahre, um vollständig wieder besiedelt zu werden. Abhängig von den lokalen Umweltbedingungen (Seegang und Sedimentbewegung) und den Wassertiefen, in denen abgebaut wurde, kann eine solche Erholungsphase aber auch Jahrzehnte dauern.
Wird in einem Areal nur kurzfristig oder gar einmalig gebaggert, stellen sich die ursprünglichen Verhältnisse im Idealfall nach zwei bis vier Jahren wieder ein. Dabei erholen sich jene Lebensgemeinschaften am schnellsten, die eine hohe Strömung oder starke Gezeiten gewohnt sind. Arten aus ruhigeren Gewässern brauchen in der Regel etwas länger. Sind durch den Sandabbau besonders tiefe Löcher im Meeresboden entstanden, in denen sich anschließend feines Material ablagert, kann es sogar sein, dass sich dort ganz neue Lebensgemeinschaften bilden.
Aus diesen Gründen empfiehlt die Wissenschaft klare Richtlinien für den Abbau von Sand und Kies im Meer. Dazu gehören ein Förderstopp in Regionen und zu Zeiten, in denen wichtige Fischarten laichen; ein regelmäßiger Wechsel der Förderflächen, sodass sich die Bodengemeinschaften immer wieder erholen können, sowie der Erhalt sogenannter Refugienflächen. Diese liegen zwischen den einzelnen Förderarealen und können betroffenen Bodenbewohnern als Rückzugsraum dienen.
Außerdem muss beim Sandabbau im Meer ein Kompromiss gefunden werden zwischen geringem Flächenverbrauch und der Dauer der Erholungsphase. Baut man den Sand an einer Stelle ab und erzeugt dabei ein tiefes Loch, verbraucht dieses zwar wenig Fläche; es bedarf aber auch einer langen Zeit, bis es sich wieder füllt und wieder besiedelt wird. Geht man mit dem Abbau in die Fläche und hobelt nur die oberste Bodenschicht ab, ist viel Fläche betroffen – die Regenerationszeit aber kurz, zumindest in geringen Wassertiefen. In tieferem Wasser braucht der Meeresboden länger, um sich von dem Eingriff zu erholen, denn hier bewegen und verlagern die Wassermassen weniger Sedimente als im Flachwasserbereich.
Abb. 5.16 > Vor der niederländischen Insel Ameland fördert ein Saugbagger Sand vom Grund der Nordsee, mit dem der Inselstrand verbreitert werden soll.