Mehr als 75 Jahre sind seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges vergangen. Altlasten dieses Krieges aber beeinträchtigen die Meere und Ozeane noch immer und sind mittlerweile ein ernstzunehmendes Umweltproblem geworden. Bis heute liegen nämlich Millionen Tonnen explosiver und chemischer Kampfmittel aus dem Zweiten und auch aus dem Ersten Weltkrieg am Meeresgrund und rosten vor sich hin.
Ein kleiner Prozentsatz von ihnen stammt aus Kampfhandlungen, für die Seegebiete vermint wurden. Oder rührt von Aktionen her, bei denen abgefeuerte Torpedos, Fliegerbomben oder Luftabwehrgeschosse als Blindgänger in der Tiefe versanken. Der überwiegende Teil der Kampfmittel jedoch wurde bewusst im Meer verklappt – zuerst von der deutschen Wehrmacht, die auf ihrem Rückzug sichergehen wollte, dass die ihr verbliebenen chemischen Kampfstoffe nicht den späteren Siegermächten in die Hände fallen würden. Später, als es darum ging, Deutschland nach dem Kriegsende so schnell wie möglich zu entwaffnen, versenkten die Alliierten dann Schiffsladungen voll Munition in ausgesuchten Versenkungsgebieten der Nord- und Ostsee.
Die Verklappung im Meer galt bis in die 1960er-Jahre hinein als eine sichere und kostengünstige Verfahrensweise, Kampfmittel zu beseitigen. Aus diesem Grund entsorgten britische und US-amerikanische Streitkräfte in den Folgejahren auch eigene veraltete Weltkriegsmunition im Meer. Die Briten wählten dafür Beaufort’s Dyke, einen 250 Meter tiefen Graben zwischen Schottland und Nordirland, in dem Experten über eine Million Tonnen Munition vermuten. Die Amerikaner dagegen verklappten ihre Kampfmittelreste in den Gewässern vor Hawaii, Nova Scotia, Neufundland – und wahrscheinlich noch an so manch anderer Stelle.
Entsprechende Unterlagen im Ausland einzusehen, gelingt Forschenden aufgrund der militärischen Geheimhaltung nur selten. Sie wissen mittlerweile aber, dass es weltweit eine Vielzahl weiterer munitionsbelasteter Gebiete im Meer gibt – im Mittelmeer und Schwarzen Meer ebenso wie an der US-Westküste, im Golf von Mexiko, vor der Ost- und Westküste Australiens sowie rund um Japan. Allein in Munitionsversenkungsgebieten der deutschen Nord- und Ostsee lagern nach bisherigen Erkenntnissen 1,6 Millionen Tonnen Kampfmittel am Meeresgrund.
Ein globales Umweltproblem
Rostende Munition im Meer stellt somit weltweit eine Bedrohung für Mensch und Meeresbewohner dar, denn sie birgt zweierlei Gefahren. Erstens können explosive Kampfmittel noch immer detonieren – beispielsweise, wenn Minen durch Grundnetzfischerei bewegt werden oder Bauarbeiten für Windparks beginnen, ohne dass der Meeresboden zuvor auf Altmunition untersucht wurde.
Die Explosion einer Seemine würde eine Schockwelle auslösen, die sämtliche Meeresbewohner in der näheren Umgebung tötet und auch über weite Distanzen die Blutgefäße und Lungenbläschen von Walen, Robben und anderen Meeressäugern zerfetzt. Taucher und Schiffsbesatzungen wären ebenfalls in großer Gefahr, weshalb in deutschen Gewässern vor jeder Baumaßnahme der Meeresgrund auf Kampfmittel hin untersucht werden muss. Wird Munition gefunden und ist diese transportfähig, wird sie an Bord eines Schiffes gehoben, an Land transportiert und dort vernichtet. Ist eine Hebung aus Sicherheitsgründen ausgeschlossen, wird diese Munition aufwendig behandelt, in einen Hebesack verbracht und in der Ostsee in eines der für Bauarbeiten gesperrten Versenkungsgebiete geschleppt. Eine finale Entsorgung scheidet in diesem Fall aus, weil bislang kein Verfahren existiert, mit dem sich die Kampfmittel umweltfreundlich im Meer entschärfen ließen. In der Nordsee dagegen schleppt man hochexplosive Kampfmittel mitunter auf Sandbänke, die bei Ebbe trockenfallen. Bei Niedrigwasser wird die Munition dann gesprengt, ohne großen Schaden im Meer anzurichten.
Die zweite Umweltgefahr ist chemischer Natur. Sowohl explosive als auch chemische Kampfmittel enthalten verschiedene Komponenten, die durch den zunehmenden Zerfall der metallenen Munitionshüllen immer stärker mit Meerwasser in Kontakt kommen, sich darin lösen und von den Strömungen überall im Meer verteilt werden. Der in Sprengstoff enthaltene Explosivstoff Trinitrotoluol (TNT) beispielsweise zerfällt dabei in bis zu 50 verschiedene Umwandlungsprodukte, auch Metaboliten genannt. Die zwei am häufigsten auftretenden TNT-Metaboliten sind wie der Ausgangsstoff nachweislich krebserregend und konnten bereits in Muscheln und in den Organen von Fischen aus Versenkungsgebieten der Ostsee nachgewiesen werden. Das Fischfleisch war dagegen kaum belastet.
Als Forschende aus Kiel im Jahr 2018 in verschiedenen Regionen der deutschen Ostsee Wasserproben nahmen und diese untersuchten, fanden sie in jeder der circa 1000 Proben Spuren von TNT oder seinen Metaboliten, denn der Stoff wird im Meer zunächst umgebaut und nur äußerst langsam vollständig abgebaut. Welche langfristigen Auswirkungen die sprengstofftypischen Verbindungen auf die Lebensgemeinschaften der Nord- und Ostsee haben und ab welcher Konzentration sie nachweislich Schaden anrichten, untersuchen die Forschenden derzeit in verschiedenen Projekten. Auffallend hohe TNT-Konzentrationen im Wasser konnten sie bislang nur direkt in den Versenkungsgebieten nachweisen.
Chemische Kampfmittel wurden sowohl in Fässern als auch in Form von Bomben und Granaten versenkt. Meist enthielten sie Nervengifte wie Tabun und Phosgen oder das hautschädigende Senfgas. Tabun und Phosgen werden im Meerwasser verhältnismäßig schnell abgebaut.
Das flüssige Senfgas dagegen durchläuft den sogenannten Kokosnuss-Effekt. Dabei bildet es eine harte Kruste und verkapselt sich im Innern. Finden Fischer durch Zufall eine solche Senfgas-Nuss in ihrem Netzen und kommen sie mit deren flüssigen Kern in Berührung, verursacht die krebserregende Chemikalie auch heute noch so schwere Verätzungen der Haut wie vor mehr als 100 Jahren.
Die Zeit drängt: Lösungsansätze aus der Wissenschaft
Je länger die Kampfmittel im Meer liegen, desto stärker rosten die Munitionshüllen. Gleichzeitig werden die Objekte immer schwerer zu handhaben – und mehr und mehr Inhaltsstoffe lösen sich im Wasser. Wissenschaftler fordern aufgrund dieser zunehmenden Umweltrisiken den Aufbau langfristiger Beobachtungsprogramme für die Munitionsberge in den Versenkungsgebieten. Dazu gehören:
- die wissenschaftliche Auswertung historischer Aufzeichnungen zu Kampfhandlungen und zur Munitionsverklappung (Wo könnte Munition liegen?);
- die vollständige Kartierung der bekannten munitionsbelasteten Gebiete (Wie viel Munition lagert am Meeresboden?);
- regelmäßige Kontrollen der chemischen Belastung des Meeres und seiner Lebensgemeinschaften (Welche Chemikalien treten in welchen Mengen aus?);
- Begleitstudien zu den Auswirkungen von Stürmen, Meeresströmungen, Temperatur, Salz- und Sauerstoffgehalt auf die Munition (mechanische Abriebprozesse, Hüllenzerfall, Verlagerung, Bedeckung durch Sedimente etc.);
- die Entwicklung neuer Methoden zur sicheren Entsorgung der Kampfmittel.
Die Forschenden haben in den zurückliegenden Jahren mehrere Verfahren zur Kartierung des Meeresbodens genutzt und verfeinert. Durch die Kombination von Fotoaufnahmen, Fächerecholot- und Magnetik-Kartierungen können die Wissenschaftler mittlerweile beeindruckend hochauflösende Aufnahmen vom Meeresgrund erstellen, auf denen Minen, Waffenkisten oder Torpedos gut von Steinen oder anderen natürlichen Objekten zu unterscheiden sind. Ähnliche Fortschritte gibt es bei der Entwicklung schneller Analysemethoden. Mithilfe mobiler Massenspektrometer können die Wissenschaftler TNT und andere sprengstofftypische Verbindungen inzwischen im Meer detektieren.
Im nächsten Schritt wollen deutsche Experten und ihre vielen Partner ein technisches Verfahren zur sicheren und umweltschonenden Entsorgung der munitionsbelasteten Gebiete direkt auf See entwickeln. Die Idee lautet, die Munition zu heben und auf einen Ponton zu verladen. Dort würden Roboter die Munitionshülsen aufschneiden und alle chemischen Inhaltsstoffe entfernen. Das Altmetall könnte anschließend recycelt werden; die Chemikalien würde man thermisch behandeln. Bis zum Jahr 2025 wollen die Wissenschaftler den ersten Prototyp einer solchen Anlage gebaut und getestet haben.
Alle relevanten Daten aus der internationalen Forschung zur Altmunition im Meer werden Wissenschaftler in Kürze in einem kartengestützten Web-Informationsportal namens AmuCad.org zur Verfügung stellen. Das System nutzt künstliche Intelligenz und andere Datenanalyseverfahren, um Regionen mit besonderem Risikopotenzial zu identifizieren. Anhand eines Ampelsystems sollen Entscheidungsträger künftig besser erkennen können, in welchen Meeresgebieten der Munitionszerfall besonders schnell voranschreitet, aber auch, welche munitionsreichen Gebiete immer intensiver vom Menschen genutzt werden. In beiden Fällen wäre es ratsam, Beobachtungsprogramme zu installieren und Kampfmittelräumungen vorzubereiten.
Abb. 6.19 > Schrotthalde Ozean: Munitionslagerstätten im Meer sind ein globales Problem. Vor allem frühere Kriegsparteien wie die USA, Japan, Großbritannien und Australien haben alte Bestände im Ozean versenkt und kämpfen nun mit den Folgen.