Abb. 3.13 > Ein Forscher zersägt einen frisch gebohrten Eiskern. Dabei trägt der Wissenschaftler Schutzkleidung, um die Eisprobe nicht zu verunreinigen. Die Untersuchungsdaten geben wichtige Aufschlüsse über Klimaänderungen in der Vergangenheit.
Ein Großteil des Wissens über die Klimageschichte der Polarregionen stammt aus sogenannten Eisbohrkernen. Als solche werden zylinderförmige Eisproben mit einem Durchmesser von zehn bis 15 Zentimetern genannt, die Forscher mithilfe eines Hohlbohrers senkrecht aus Gletschern und Eisschilden bohren. Die Eiskerne geben einen chronologischen Einblick in das Klimatagebuch der Polargebiete. Denn jede Schneeschicht, die auf die Eisschilde und Gletscher fällt und sich im Lauf der Zeit zu Firn und Eis verdichtet, besitzt je nach Jahreszeit und Wetterlage eine spezifische Kristallstruktur und besondere chemische Eigenschaften, anhand derer Forscher noch Jahrtausende später auf die klimatischen Ausgangsbedingungen zur Zeit des Niederschlags schließen können. Wenn sich Firn zu Eis verdichtet, werden zudem Luftbläschen mit ihren jeweiligen Anteilen an Treihausgasen eingeschlossen. Gletschereis ist somit das einzige Klimaarchiv, welches Luft über sehr lange Zeiträume konserviert und mit dessen Hilfe sich die chemische Zusammensetzung der globalen Atmosphäre rekonstruieren lässt. Deutliche Spuren im Eis hinterlassen auch Vulkanausbrüche, Meteoriteneinschläge, Wald- oder Steppenbrände. Ihre Aschepartikel wurden einst durch Schnee oder Regen aus der Atmosphäre gewaschen. Im Eiskern bilden diese ehemaligen Schwebstoffe nun Schichten, die sich durch verschiedene Analysemethoden nachweisen lassen. In Ausnahmefällen kann man sie auch mit bloßem Auge erkennen. Anhand dieser Schichten können Wissenschaftler zum Beispiel Eiskerne aus verschiedenen Regionen der Welt genau datieren und sie miteinander vergleichen.
Um im Klimatagebuch des Eises lesen zu können, wird zunächst sein Alter bestimmt. Dazu suchen die Forscher unter anderem nach chemischen Indikatoren, deren Sommer- und Winterkonzentration sich klar voneinander unterscheidet, sodass Jahresschichten identifiziert werden können. Dazu gehören zum Beispiel Natrium- und Ammoniumionen, aber auch Staubpartikel und Kalziumionen. Grönländische Eiskerne weisen oft auch klar erkennbare Schmelzlagen auf. Sie verraten, wann es im Sommer an der Oberfläche des Eisschilds so warm war, dass der Schnee geschmolzen und das Schmelzwasser im Firn versickert und wieder gefroren ist. Der isländische Glaziologe Thorsteinn Thorsteinsson konnte anhand einer solchen dicken Schmelzlage belegen, dass es im Jahr 985 – als Wikinger Erik der Rote nach Grönland fuhr – tatsächlich außergewöhnlich warm war auf der Insel.
Abb. 3.14 > Um Mikrostrukturen im Eis erkennen zu können, durchleuchtet ein hochauflösender Scanner diese Eisprobe.
Für genauere Analysen aber werden die Eiskerne dann im Computertomografen untersucht, ihre elektrische Leitfähigkeit gemessen und kleine Eisproben für chemische Messungen geschmolzen. Dabei generieren die Wissenschaftler folgende Informationen: (1) Von der Isotopenzusammensetzung des Wassers leiten sie die Lufttemperatur zum Zeitpunkt der Niederschläge ab. (2) Die Dicke der Jahresschichten lässt Rückschlüsse auf die Niederschlagsmenge zu. (3) Anhand der in den Luftblasen enthaltenen Treibhausgase können die Forscher die chemische Zusammensetzung der damaligen Atmosphäre rekonstruieren. (4) Im Eis enthaltenes Meersalz, Sulfat und andere Chemikalien markieren Extremereignisse wie Vulkanausbrüche oder Umweltveränderungen, die auf biogeochemische Kreisläufe zurückgehen. Gleichzeitig lassen sie Rückschlüsse auf die damalige Meereisbedeckung, die Einstrahlung der Sonne, die Kraft der Winde und Extremwetterereignisse wie Dürren zu. Die im Bohrloch gemessenen Temperaturen des Eises ermöglichen Erkenntnisse zur Temperaturentwicklung in der Vergangenheit und belegen somit die Theorie der polaren Verstärkung, wonach sich die Temperaturen in den Polarregionen stets in einem größeren Ausmaß verändert haben als im globalen Durchschnitt.
Die so entstandenen Klimazeitreihen aus Eisbohrkernen reichen in der Antarktis 800 000 Jahre zurück, für Grönland sind es 128 000 Jahre. Ihre hohe Auflösung und Detailtiefe ermöglichten elementare Wissensfortschritte. So weiß man dank der Eisbohrkerne, dass die Kohlendioxidkonzentration in der Atmosphäre seit dem 18. Jahrhundert radikal angestiegen ist – damals betrug sie gerade einmal 280 ppm, heute etwa 410 ppm. Die Klimazeitreihe aus der Antarktis zeigt außerdem, dass die Lufttemperatur in der Vergangenheit regelmäßigen Schwankungen unterlag. Diese wurden unter anderem durch wiederkehrende Veränderungen der Erdbahnparameter um die Sonne ausgelöst und haben auf der Erde zu einem Wechsel von Warm- und Kaltzeiten geführt. Ein Vergleich der Eiskerndaten aus der Antarktis und Grönland ergab zudem, dass das Klimageschehen in beiden Hemisphären eng miteinander verbunden ist. Rapide Temperaturanstiege auf der Nordhalbkugel fallen mit dem Beginn der Abkühlung im Süden zusammen und umgekehrt. Dieses Phänomen wird bipolare Wippe genannt. Aktuell suchen Forscher nach neuen Bohrstellen in der Antarktis, an denen sich bis zu 1,5 Millionen Jahre altes Eis bergen ließe. Von ihm versprechen sich die Wissenschaftler noch genauere Einblicke und Antworten auf noch viele ungelöste Fragen zum Klima der Vergangenheit.