Ehrgeizig, akribisch, polarversessen: Mit diesen Charaktereigenschaften lassen sich sowohl der Norweger Roald Amundsen als auch der Deutsche Erich von Drygalski beschreiben – beides Pioniere der Polarforschung, die trotzdem unterschiedlicher kaum sein konnten. Denn während der eine Rekorde jagte, versuchte der andere das große Ganze zu verstehen.

Roald Amundsen (1872–1928) – der Titeljäger
Der Südpolbezwinger Roald Amundsen kannte seit seinem 15. Lebensjahr nur ein Ziel – das Wissen über die Polarregionen der Welt zu erweitern. Mit dem Wort „Wissen“ verband er dabei in erster Linie jedoch geografische Kenntnisse und weniger ein tiefergehendes Verständnis für Natur und Klima der Polarregionen. Wissenschaftliche Beobachtungen überließ der Norweger auf seinen Expeditionen meist Spezialisten, obwohl er bestimmte Messmethoden selbst beherrschte. Vor seiner Expedition in die Nordwestpassage etwa war Amundsen mehrere Monate beim damaligen Experten für Erdmagnetik, dem Deutschen Georg von Neumayer, in die Lehre gegangen. Er wollte lernen, wie man das Magnetfeld der Erde misst. Bei einer Testfahrt für dieselbe Expedition sammelte er außerdem ozeanografische Daten für seinen Mentor Fridtjof Nansen.
Die Wissenschaft aber fesselte ihn nicht. Amundsen interessierte sich vielmehr dafür, welche Techniken und Methoden zum Erfolg seiner Expeditionspläne beitragen konnten. Wie entscheidend Details bei der Planung einer Entdeckungsfahrt sein konnten, hatte Amundsen als Zweiter Offizier auf der „Belgica“-Expedition (1897–1899) in die Antarktis gelernt. Die Mannschaft hatte damals die Vitamin-C-Mangelkrankheit Skorbut überlebt, weil sie, dem Rat des Schiffsarztes Frederick A. Cook folgend, während der Überwinterung frisches Pinguinfleisch gegessen hatte anstelle der gebunkerten Konserven.
Pragmatische Lösungen begeisterten Amundsen. Während seiner Fahrt durch die Nordwestpassage (1903–1906) ließ er sich von Eskimos zeigen, wie sie Iglus bauten und Hunde vor den Schlitten spannten. Er schwärmte von ihrer winddichten Kleidung aus Rentierfell und trug sie fortan selbst. Für seinen Marsch zum Südpol setzte er erfolgreich auf Hundeschlitten und Skier als Fortbewegungsmittel, und für seinenLuftschiffflug Richtung Nordpol ließ er in Berlin einen Sonnenkompass bauen, mit dessen Hilfe der Pilot punktgenau nordwärts navigieren konnte.
Amundsen war ein geborener Anführer und legte auch bei der Auswahl seiner Mannschaft höchste Maßstäbe an. Seine Besatzung war stets durchtrainiert und handverlesen und zählte nur so viele Mitglieder, wie für das Gelingen wirklich notwendig war. Jedermann an Bord hatte mehrere Aufgaben. Auf diese Weise verhinderte Amundsen, dass Langeweile aufkam, und stärkte das Verantwortungsgefühl seines Teams.
Wenn es um seinen Ruf und seine Ehre als Entdecker ging, traf der Expeditionsleiter aber auch Entscheidungen über die Köpfe seiner Begleiter hinweg – so etwa im Jahr 1910, als er den Großteil der Besatzung seines Forschungsschiffs „Fram“ erst einige Zeit nach dem Auslaufen in Oslo darüber informierte, dass er nicht, wie alle Welt glaubte, Richtung Nordpol segeln wolle, sondern stattdessen Kurs Richtung Antarktis nehmen würde, um dort als erster Mensch den Südpol zu erreichen. Nachdem angeblich bereits Frederick A. Cook im Jahr 1908 und Robert Peary im Jahr 1909 am Nordpol gewesen waren – zwei Meldungen, die sich später als falsch herausstellten, weil beide nur in Nordpolnähe gelangten –, wollte Amundsen zumindest den Erfolg im Süden für sich verbuchen. Nur seinen Bruder Leon, der die geschäftliche Seite seiner Expeditionen betreute, den Kapitän Thorvald Nilsen und die beiden Steuermänner hatte er vor der Abreise in das wahre Ziel eingeweiht.
Grenzen überschreiten und als erster Mensch, das Undenkbare zu schaffen, war zeitlebens Amundsens Antrieb. Für diesen Traum verschuldete er sich nicht nur hoch. Er trainierte auch wie ein Besessener, nahm persönliche Einsamkeit in Kauf und verstand es wie kein anderer, seine Projekte medial zu inszenieren. Seine größte Stärke sei sein fester Glaube an sich selbst gewesen, schreiben Historiker. Mit dieser Einstellung erweiterte Roald Amundsen nicht nur das Wissen über die Polarregionen, er ging auch wie seine Vorbilder Nansen und Franklin in die Geschichtsbücher ein.

Erich von Drygalski (1865–1949) – der Datenjäger
Erich von Drygalski konnte dem Medienhype um den Wettlauf zum Südpol nicht viel abgewinnen. „Für die Polarforschung ist es unerheblich, wer als Erster am Pol steht“, kommentierte der Ostpreuße und wissenschaftliche Senkrechtstarter das Rennen zwischen Amundsen und Scott. Drygalski hatte im Jahr 1882 im Alter von 17 Jahren begonnen, Mathematik und Physik zu studieren. Wenig später entdeckte er seine Leidenschaft für die Geografie und das Eis, wanderte acht Wochen lang durch die größten Gletschergebiete der Alpen und schrieb bereits im Alter von 22 Jahren seine Doktorarbeit über die Verformung der Erdkugel durch die Eisbedeckung. Eis war nun zum Leitmotiv seines Lebens geworden. Er wollte die Vereisung der Norddeutschen Tiefebene erklären und dafür die Struktur, Bewegung und Wirkung des Eises verstehen sowie die Bewegung großer Eismassen mathematisch beschreiben. Eine Aufgabe, für deren Lösung er die Gletscherbewegung in der Natur messen wollte, im Idealfall an einem großen Eisschild.
Die größte, nächstgelegene Eismasse war das Grönländische Inlandeis. Die Gesellschaft für Erdkunde in Berlin finanzierte ihm eine Vor- und eine Hauptexpedition (1890, 1892–93) zum Uummannaqfjord am Westrand dieses Eispanzers. Dort errichtete Drygalski nicht nur eine Forschungsstation, in der er und seine zwei Begleiter auf Grönland überwinterten. Er trug dem Team auch ein modern anmutendes Forschungsprogramm auf, dessen umfangreiche Aufgaben die Tage füllten.
Zwölf Monate lang kartierten und vermaßen die Wissenschaftler verschiedene Gletscher der Region. Anhand von Markierungen verfolgte Drygalski das Fließen, Heben und Senken des Eises. Auf Schlittentouren untersuchte er, wie sich das Eis bildete. Gleichzeitig sammelten die Forscher über die gesamte Zeit meteorologische Daten wie Temperatur, Sonnenscheindauer, Luftdruck, Feuchte und Wind, um die Wirkung des Eises auf das Klima zu verstehen. Der Biologe im Team dokumentierte Flora und Fauna, um nachzuvollziehen, wie die Eismassen die Tier- und Pflanzenwelt des Fjordes prägten. Hinzu kamen außerdem erdmagnetische Messungen sowie Versuche zur Schwerkraft. Der gesammelte Datensatz war am Ende so groß, dass Drygalski vier Jahre für seine Auswertung benötigte. Er veröffentlichte die Ergebnisse in zwei Bänden, erweiterte einen grundlegenden Denkansatz zur Eisbewegung und stieg als Professor in die erste Riege der Polarforscher auf.
Aufgrund seiner großen Erfahrung wurde er drei Tage nach seiner Habilitation zum Leiter der ersten deutschen Antarktisexpedition (1901–1903) gewählt. Dass er dabei keine Rekorde für sich verbuchen konnte, enttäuschte zwar den deutschen Kaiser und die Öffentlichkeit, aber die gesammelten wissenschaftlichen Daten waren von allerhöchster Qualität, und Drygalski vergrub sich aufs Neue in die Analyse dieses riesigen Zahlenwerks. Persönliche Angelegenheiten wie beispielsweise seine Familienplanung mussten zurückstehen und konnten erst in Angriff genommen werden, als die Auswertung unter den Wissenschaftlern aufgeteilt war und er sich nur noch um die geografischen und ozeanografischen Ergebnisse kümmern musste. Ein einmal angefangenes Projekt nicht zu vollenden, war für ihn undenkbar. Geradlinig und zielstrebig trug er die Expeditionsergebnisse zusammen und gab sie Stück für Stück heraus – eine Arbeit, die am Ende insgesamt 30 Jahre in Anspruch nahm. Was ihre Wertigkeit betraf, so sollte Roald Amundsen recht behalten. Er hatte noch zu Lebzeiten sinngemäß gesagt: Deutschland habe allen Grund, auf die grundlegenden wissenschaftlichen Ergebnisse der Antarktisexpedition stolz zu sein.