Anspruch und Wirklichkeit des Meeresmanagements
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WOR 7 Lebensgarant Ozean – nachhaltig nutzen, wirksam schützen | 2021

Der Ozean: Krisenschauplatz und Teil der Lösung

Der Ozean: Krisenschauplatz und Teil der Lösung - Abb. 8.22 © Brandon Cole

Der Ozean: Krisenschauplatz und Teil der Lösung

> Infolge von Klimawandel, Überfischung, Lebensraumzerstörung, Artensterben, Überdüngung, Verschmutzung, Verkehr und vielen anderen Stressfaktoren ist der Ozean heute in einem zunehmend schlechteren Zustand. Dabei benötigt die Welt ein intaktes, leistungsfähiges Meer dringender denn je. Eine drastische Reduktion der Belastungen muss ab sofort oberste Priorität haben. Wie dieses Ziel jedoch erreicht werden kann, ist strittig – ebenso wie die Frage, ob die Menschheit momentan wirklich Willens genug ist, die notwendigen Veränderungen anzustoßen.

In den Fokus gerückt

Die gute Nachricht zuerst: Der Ozean ist seit der Jahrtausendwende auf die politische Agenda gerückt – und mit ihm ein Bewusstsein auch unter Staatsoberhäuptern, dass es um den Zustand der Weltmeere viel schlechter steht, als es lange Zeit angenommen wurde. Sie werden wärmer, höher, artenärmer und stürmischer. Sie versauern zunehmend, verlieren mehr und mehr Sauerstoff, werden in vielen Regionen maßlos überfischt und schlucken täglich tonnenweise Gift und Müll. Im Jahr 2020 trat auf mehr als 80 Prozent der Meeresfläche mindestens eine Hitzewelle auf. Die Meere, so viel steht zum Anfang der UN-Ozeandekade fest, sind Schauplatz nicht nur einer, sondern gleich dreier globaler Umweltkrisen, die allesamt allein der Mensch zu verantworten hat – die Klimakrise, die Artenvielfaltskrise und die weltweite Verschmutzungskrise.
Die Auswirkungen dieser Umweltkrisen sind ungleich verteilt. Insbesondere die Veränderungen durch den Klimawandel treffen rund um den Globus arme Bevölkerungsgruppen am härtesten, weil sie keine oder nur wenige Anpassungsmöglichkeiten haben – so zum Beispiel Kleinstfischer, die in ihren kleinen Booten den abwandernden Fischschwärmen nicht folgen können, oder aber Familien, die von der Landwirtschaft in unmittelbarer Meeresnähe leben und denen der steigende Meeres­spiegel zunehmend das Land und damit die Existenzgrundlage raubt.
8.19 > Diese Wärmebildaufnahme einer Muschelbank im kanadischen Vancouver zeigt, dass sich die Tiere während der extremen Hitzewelle im Sommer 2021 auf bis zu 50 Grad Celsius aufheizten.
Abb. 8.19 Chris Harley/University of ­British Columbia
Unbestritten ist zudem, dass gesellschaftliche Probleme wie Armut, Hunger und soziale Ungerechtigkeit die Krisensituation verstärken. Wer einzig und allein vom Meer lebt, hat keine andere Wahl, als auch dem letzten Fisch nachzustellen. Inwiefern Meeresschutzmaßnahmen und Programme zur nachhaltigen Meeresnutzung Wirkung entfalten, hängt deshalb auch immer davon ab, in welchem Maß sie die Bedürfnisse der vor Ort betroffenen Menschen mit berücksichtigen.
Der Ozean bietet gleichzeitig aber auch Lösungen – angefangen von seinem riesigen Potenzial für Windenergie und nachhaltige Fischerei und Aquakultur bis hin zu den großen Mengen Kohlendioxid, die sich durch eine Wiederherstellung von Mangrovenwäldern und Seegraswiesen sowie durch eine gezielte Großalgenzucht zusätzlich binden und speichern ließen. Voraussetzung ist allerdings ein grundlegender Paradigmenwechsel im Umgang mit dem Meer. Anstatt ausschließlich darauf abzuzielen, dem Meer eine maximale Menge an Fisch, Meeresfrüchten, Erdöl, Gas, Sand, Erzen und anderen Ressourcen zu entnehmen, muss sich die Menschheit fragen, wie sich Meeresschutz, nachhaltige Nutzung und eine faire und gerechte Teilhabe an den Schätzen der Meere miteinander vereinbaren und zeitgleich umsetzen lassen.
8.20 > Tote Muscheln bedecken einen Strandabschnitt in Vancouver, Kanada. Unter normalen Bedingungen ertragen die Felsküstenbewohner für kurze Zeit Temperaturen von 35 Grad Celsius. Rekordwerten von 45 bis 50 Grad Celsius im Sommer 2021 aber konnten die Meeres­lebewesen nichts mehr entgegensetzen. Sie starben in Massen.
Abb. 8.20 Chris Harley/University of British Columbia
Abb. 8.22 © Brandon Cole

8.22 > Gesunde Seegraswiesen und Mangrovenwälder, wie es sie unter anderem in Kuba noch gibt, sind Hotspots der marinen Artenvielfalt. Hier ruht sich ein Spitzkrokodil (Crocodylus acutus) direkt neben einer Roten Mangrove (Rhizophora mangle) auf einem Bett aus Seegräsern aus.
Die Experten des Ocean Panel schlagen dafür ein Fundament aus fünf Bausteinen vor:
  1. Wann immer künftig Entscheidungen zum Meer getroffen werden, müssen diese auf Daten und wissenschaftlichen Erkenntnissen basieren. Dazu braucht es offen zugängliche Datenbanken und Technologien, mit denen Umweltparameter gemessen, Prozesse simuliert, Akteure verfolgt, Entwicklungen vorhergesagt, Managementmaßnahmen überwacht und Daten schließlich geteilt werden können. Im kleinen Rahmen werden einige dieser Technologien schon genutzt: Ein Computermodell namens POSEIDON etwa erlaubt es Fachleuten, die Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Fischereimanagementmaßnahmen, der Fischfangflotte und den Ökosystemen des Ozeans zu simulieren und auf diese Weise alternative Ideen zu vergleichen. Neu ist auch das Marine-Manager-Informationsportal der Meeresschutzorganisation Global Fishing Watch. Es stellt nahezu in Echtzeit Daten zu wichtigen Meeresparametern, zu Zonengrenzen sowie zu menschlichen Aktivitäten (zum Beispiel Fischerei, Bergbau, Tourismus) in Meeresschutzgebieten zur Verfügung und soll so Gebietsverwaltern und interessierten Nutzern die Kontrolle und den Schutz der entsprechenden Regionen erleichtern. Vorerst bietet dieses Portal nur Einblick in fünf ausgewählte Meeresschutzgebiete; spätestens 2024 aber soll es weltweit funktionieren.
  2. Die Meeresraumplanung sollte sich an konkreten Zielen ausrichten – und über Sektorengrenzen hinweg erfolgen. Angesichts der vielen Wechsel­wirkungen zwischen den einzelnen Sektoren der Meereswirtschaft bedarf es neuer, koordinierter Nutzungsansätze – etwa durch ein integriertes, ökosys­tembasiertes Management und eine wissenschaftsbasierte Raumplanung für alle Meeresgebiete. Erfolg winkt jedoch nur dann, wenn es zum einen gelingt, einen Ausgleich zwischen den Interessen der unterschiedlichen Nutzergruppen zu finden. Daher müssen diese auch alle an den Planungen beteiligt werden. Zum anderen wird vorausgesetzt, dass das Meer nur in jenem Maß genutzt wird, wie es dessen Lebens­gemeinschaften nicht schadet, und die einheimische Bevölkerung faire Zugangs- und Nutzungsrechte erhält. Darunter fallen auch exklusive Fischereirechte für lokale Fischergemeinschaften.
  3. Es muss mehr Geld in Methoden zur nachhaltigen Meeresnutzung investiert werden. Bislang steht gerade einmal ein Viertel der Gelder zur Verfügung, die es bedarf, um wichtige zerstörte Lebensräume des ­Ozeans wiederherzustellen. Die Regierungen sind außerdem gefordert, neue Arten einer nachhaltigen Meeresnutzung durch Subventionen zu unterstützen. Diese wären auch problemlos finanzierbar, wenn schädliche Subventionen für die industrielle Fischerei oder für die Förderung von Erdöl und Erdgas im Meer gestrichen oder umgeleitet würden. Richtig eingesetzt, versprechen Investitionen in die Gesundheit des Meeres langfristig nämlich hohe finanzielle Gewinne.
  4. Der Eintrag von Müll und Schadstoffen von Land muss gestoppt werden, indem insbesondere die große Menge an Müll durch kluges Recycling und alternative Verpackungsmaterialien minimiert wird und in allen Wirtschaftssektoren eine Kreislaufwirtschaft eingeführt wird. In der Landwirtschaft sollten zudem zielführende Umweltschutzauflagen eingeführt und umgesetzt werden.
  5. Die vielen Leistungen der Meere müssen sich in allen Wirtschaftsbilanzen und in Produktpreisen widerspiegeln, um den tatsächlichen Wert und die Bedeutung des Ozeans klarer herauszustellen. Bei herkömmlichen Verfahren zur Berechnung der Wirtschaftskraft eines Landes (etwa beim Bruttoinlandsprodukt) wird ignoriert, welche Schäden die verschiedenen Industrien anrichten oder in welchem Maße ihre Aktivitäten den Klimawandel beschleunigen. Diese Aussage gilt bislang auch für Berechnungen zur Stärke der Meereswirtschaft und führt dazu, dass wenig nachhaltige Aktivitäten wie die industrielle Fischerei als gewinnbringend wahrgenommen, beibehalten und vielerorts sogar subventioniert werden. Um die von der Meereswirtschaft verursachten Schäden und den Nutzen des Ozeans realistisch bilanzieren zu können, bedarf es neuer Berechnungskriterien und -verfahren. Diese zu entwickeln, ist eine gemeinsame Aufgabe der Regierungen und ihrer Behörden für Sta­tistik.
Unter dem Stichwort Meeresschutz verstehen die Experten des Ocean Panel dabei nicht mehr automatisch, dass der Mensch das Meer in bestimmten Regionen vollends in Ruhe lassen soll. Gemeint ist stattdessen ein schonender Umgang, der die Artenvielfalt des Meeres und wichtige Lebensräume erhält, die Widerstandskraft der marinen Lebensgemeinschaften stärkt und ihre dezimierten Be- stände wieder anwachsen lässt – ein Ansatz, der mittlerweile von vielen Befürwortern einer expandierenden Meereswirtschaft propagiert wird.
8.21 > Investitionen in nachhaltige Formen der Meeresnutzung zahlen sich langfris­tig aus. Experten prognostizieren solide Kosten-Nutzen-Verhältnisse und stattliche Gewinne innerhalb von drei Jahrzehnten.
Abb. 8.21 nach Stuchtey et al., 2020

Der Dreifachnutzen echter Meeresschutzgebiete

Eine neue Studie, veröffentlicht im März 2021, zeigt jedoch, dass auch radikaler Meeresschutz – das heißt die Erweiterung besonders stark geschützter Meeresregionen – bei der Bewältigung der Klima- und Artenvielfaltskrise helfen kann. Wer sich mit diesem Thema ausein­andersetzt, muss jedoch wissen, dass mit dem Begriff „Meeresschutzgebiet“ (Marine Protected Area, MPA) durchaus unterschiedliche Schutzstandards gemeint sein können. Die Weltnaturschutzunion (International Union for the Conservation of Nature, IUCN) definiert sechs verschiedene Meeresschutzgebietstypen: Angefangen von den am strengsten regulierten MPAs, in denen alle Aktivitäten verboten sind, bei denen Lebensraum zerstört oder aber Organismen beziehungsweise Material dem Meer entnommen wird – dazu gehören Fischerei und Bergbau ebenso wie die Erdöl- und Erdgasförderung –, bis hin zu Gebieten, in denen die nachhaltige Nutzung natürlicher Ressourcen erlaubt ist.
8.23 > Große Fischereinationen zahlen mittlerweile hohe Subventionen, um ihre Flotten fernab der Heimat auf Fischfang gehen zu lassen und somit das Überfischungsrisiko in eigenen Gewässern zu minimieren. Neuesten Berechnungen zufolge gaben die zehn größten Subventionsgeber im Jahr 2018 rund 15,4 Milliarden US-Dollar dafür aus.
Abb. 8.23 nach oceana.org/toi
Im Juni 2021 galten 7,7 Prozent der globalen Meeresfläche offiziell als Meeresschutzgebiete – ein Gebiet, so groß wie Nordamerika. Tatsächlich umgesetzt und implementiert aber waren zum Beispiel hohe Fischereischutzstandards lediglich auf 2,7 Prozent der weltweiten Meeresfläche. In Europa sind nach Angaben der Umweltschutzorganisation Oceana sogar in 96 Prozent der ausgewiesenen Natura-2000-Meeresschutzgebiete Aktivitäten erlaubt, die dem Meer und seinen Lebensgemeinschaften schaden. Solche Gebiete werden in Umweltschutzkreisen daher nur noch als „paper parks“ – als Schutzgebiete auf Papier – bezeichnet, weil sie in der Realität nur wenig bis keinen Schutz bieten. Ein Beispiel aus dem Oceana-Bericht: In mehr als 500 europäischen Natura-2000-Gebieten, die explizit zum Schutz der Meeresbodenfauna ausgewiesen wurden, ist nichtsdestotrotz Fischerei mit Fangmethoden erlaubt, die genau diese Lebensgemeinschaften zerstören.
Doch selbst wenn man die mangelnde Schutzwirkung vieler Meeresschutzgebiete außer Acht lässt, reichen ihre Zahl, Größe und Vernetzung nach Expertenansicht bei Weitem nicht aus, um den vielen Meeresbewohnern langfristig genügend Lebensraum zu bieten und ihnen zu ermöglichen, sich an den Klimawandel anzupassen. Darunter wird in erster Linie die Abwanderung in weiter polwärts gelegene Lebensräume verstanden, wo die Organismen dann noch jene Lebensbedingungen vorfinden, die sie aus ihrer alten Heimat gewohnt waren. Schutzkorri­dore zwischen den alten und neuen Lebensräumen werden benötigt, um den Tieren und Pflanzen die Besiedlung neuer Gebiete zu erleichtern.
In der angesprochenen neuen Studie vom März 2021 untersuchte ein internationales Wissenschaftlerteam deshalb, welche Meeresgebiete streng unter Schutz gestellt werden müssten, um maximale Ergebnisse für den Artenschutz, die Fischerei und den Klimaschutz zu erzielen. Bei Letzterem ging es vor allem um die Frage, in welchen Regionen keine Grundschleppnetzfischerei mehr stattfinden darf. Durch sie werden nämlich am Meeresboden eingelagerte Kohlenstoffreserven gestört und ihre Zersetzung durch Mikroorganismen angekurbelt. Dieser Prozess wiederum führt langfristig zur erneuten Freisetzung von 15 bis 20 Prozent jenes Kohlendioxids, den der Ozean zuvor der Atmosphäre entnommen und in den Sedimenten am Meeresboden eingeschlossen hatte. Die weltweite Grundschleppnetzfischerei verursacht auf diese Weise in etwa genauso hohe Treibhausgasemissionen, wie in der Landwirtschaft durch die Summe der Bodenveränderungen freigesetzt werden.
8.24 > Als die Meeresschutzorganisation Oceana im Jahr 2018 rund 3450 europäische Meeresschutzgebiete auf ihre Schutzstandards hin überprüfte, stellte sie fest, dass in mehr als 70 Prozent der Gebiete mindestens eine von insgesamt 13 umweltschädlichen Aktivitäten gestattet war – darunter störende Eingriffe wie Aquakultur, Fischerei, Öl- und Gasförderung, Schiffsverkehr, das Verlegen von Unterseekabeln und -pipelines oder aber der Bau von Windparks.
Abb. 8.24 nach Perry et al., 2020
Im ersten Schritt berechneten die Forschenden, wie viel Meeresfläche streng geschützt werden müsste, wenn die Menschheit jeweils nur eines der drei Ziele (Artenschutz, sichere Fischereierträge, Schutz der Kohlenstoff­lager am Meeresboden) priorisieren würde:
  1. Die Artenvielfalt würde 90 Prozent des maximal möglichen Nutzens erfahren, wenn rund 21 Prozent des Ozeans vor menschlichen Eingriffen bewahrt würden. Dafür müssten 43 Prozent der nationalen Gewässer (Ausschließliche Wirtschaftszonen, AWZ) und sechs Prozent der Hohen See unter strengen Schutz gestellt werden. Vor allem für gefährdete und vom Aussterben bedrohte Arten würde dies bedeuten, dass ihre Lebensräume in einem weitaus größeren Umfang geschützt wären. Stehen bislang bis zu 1,5 Prozent der notwen­digen Flächen unter Schutz, wären es nach der Erweiterung bis zu 87 Prozent.
  2. Die Fischereierträge würden um bis zu 5,9 Millionen Tonnen steigen, wenn 28 Prozent der Meeresfläche geschützt würden. Das Schutzgebot müsste auch bei dieser Zielstellung in erster Linie für die AWZ gelten, in denen bislang 96 Prozent aller Wildfänge gemacht werden.
  3. Um 90 Prozent der bislang von Grundschleppnetz­fischerei betroffenen Kohlenstofflager am Meeresboden effektiv zu schützen, müsste diese auf 3,6 Prozent der Meeresfläche verboten werden; abermals vor allem innerhalb der AWZ, weil dort die meisten Schleppnetzfischer unterwegs sind. Die möglichen Auswirkungen eines Tiefseebergbaus auf die Treib­hausgasemissionen des Ozeans konnten die Forscher in ihren Berechnungen noch nicht berücksichtigen, weil noch unbekannt ist, wie sich dieser Industriezweig entwickeln wird.
8.25 > Palau führt seit Januar 2020 die Weltranglis­te der Länder mit dem größten Anteil geschützter Meeresflächen an. Das Land hat 78 Prozent seiner Ausschließlichen Wirtschaftszone – eine Fläche größer als der US-Bundesstaat Kalifornien – unter strengen Schutz gestellt. Das heißt, Fischerei und jede Form der Rohstoffförderung sind verboten.
Abb. 8.25 nach The Marine Protection Atlas (Stand Juli 2021)
Deutlich schwieriger wird die Auswahl der Schutzgebiete, wenn alle drei Ziele gleichzeitig angegangen werden sollen, denn mancherorts können Zielstellungen unvereinbar sein. Maßnahmen zum Schutz der Artenvielfalt können zum Beispiel verhindern, dass in einer bestimmten Region überhaupt gefischt werden darf.
Die Ergebnisse der Berechnungen verdeutlichen ­dennoch, welche Rolle der Ozean bei der Bewältigung der aktuellen Krisen spielen könnte: Würde der Mensch 45 Prozent der Meeresfläche gezielt unter strengen Schutz stellen, könnten 71 Prozent des möglichen Nutzens für die Artenvielfalt, 92 Prozent des möglichen Nutzens für die Fischerei und 29 Prozent des möglichen Nutzens für den Schutz der Kohlenstofflagerstätten erzielt werden. Dazu bedarf es allerdings enger internationaler Absprachen, einer gezielten Auswahl der zu schützenden Meeresregio­nen und finanzieller Kompensationen für jene Länder, die große Teile ihrer artenreichen Küstengewässer für Fischerei und Rohstoffausbeutung schließen würden und demzufolge nicht mehr daran verdienen könnten. Ein koordiniertes Netzwerk von Meeresschutzgebieten könnte somit als wirksames Instrument für mehr Klima- und Artenschutz dienen und würde zudem dazu beitragen, dass sich Fischbestände erholen und das Meer wieder mehr Nahrung für den Menschen produziert, so die Ansicht der Wissenschaftler.
Der Weltbiodiversitätsrat und der Weltklimarat unterstützen diesen Ansatz. In einem neuen Workshopbericht zu den Wechselwirkungen zwischen Biodiversität und Klimawandel geben sie den benötigten Anteil naturbelassener Flächen mit 30 bis 50 Prozent an.

Nauru-Abkommen
Die acht Mitgliedstaaten des Nauru-Abkommens sind Kiribati, Nauru, die Marshallinseln, die Salomoninseln, Palau, Papua-Neuguinea, Tuvalu und Tokelau sowie die Vereinigten Staaten von Mikronesien. In ihren Hoheitsgewässern wird unter anderem die Hälfte der weltweit gehandelten Echten Bonitos gefangen, der am häufigsten gefischten Thunfischart der Welt.

Wenn Ausbeutung die Ausnahme wäre

Umweltschützer denken diese wissenschaftlichen Empfehlungen noch ein ganzes Stück weiter. Auf der Monaco Ocean Week 2021, einem inzwischen auf regelmäßiger Basis stattfindenden politischen Diskussionsforum für Meeresbelange, stellte eine Gruppe neue, alternative Denkansätze vor.
Wenn die Ausweisung, Umsetzung und das Management von Meeresschutzgebieten so langwierig und schwierig sei, so ihr Vorschlag, wäre es vielleicht sinnvoller, das gesamte Meer unter Schutz zu stellen und nur noch jene Gebiete auszuweisen, in denen die Ausbeutung des Meeres oder aber seine Nutzung als Schifffahrtsweg noch erlaubt sind. Die Entnahme von Organismen und Material aus dem Meer wäre demzufolge nicht mehr die Regel, sondern die Ausnahme, und Fischerei-, Bergbau- und Schifffahrtsunternehmen müssten entsprechende Lizenzen beantragen.
Ein solcher Schritt hätte zur Folge, dass alle, die fischen, Rohstoffe fördern oder Schiffe auf große Fahrt schicken wollen, in einem Antragsverfahren nachweisen müssten, dass ihre Aktivitäten weder der marinen Artenvielfalt noch dem Lebensraum Meer an sich Schaden zufügen – oder aber sich der Umweltfußabdruck dieses Vorhabens in akzeptablen Grenzen hielte. Die Herangehensweise würde sich demzufolge komplett umkehren und den Schutz der Meere als Ausgangspunkt definieren und nicht deren Ausbeutung. Sie hätte zur Folge, dass in der Debatte um ein nachhaltiges Meeresmanagement nun plötzlich Unternehmen um Gehör und Beachtung streiten müssten und nicht mehr die Meeresschutzorganisationen. Es ließe sich auch leichter diskutieren, welche Formen der Fischerei und anderer Meeresnutzung akzeptabel sind und welche nicht. Außerdem wäre durchsetzbar, dass vor jeder industriellen Meeresnutzung eine Umweltverträglichkeitsprüfung durchgeführt würde und deren Ergebnisse anschließend auch wirklich zählten.
Nach Auffassung der Umweltschützer bieten die aktuellen UN-Verhandlungen zum dritten Umsetzungsübereinkommen zum Schutz und Erhalt der Biodiversität in Meeresgebieten außerhalb nationaler Hoheit (BBNJ-Abkommen) eine realistische Chance, auszuloten, wie sich ein solcher Denkansatz in der Praxis umsetzen ließe – wenn auch erst einmal nur auf Hoher See. Industrievertreter und Regierungen werden ihn vermutlich von vornherein ablehnen, weil eine solche Herangehensweise die Meeresnutzung beschränken würde. Angesichts der aktuellen Krisensituation der Erde ist die Menschheit aber gezwungen, nach wirklich neuen Ideen zu suchen – oder, wie es der Weltklimarat und der Weltbiodiversitätsrat in ihrer gemeinsamen Analyse sagen: Eine nachhaltige Entwicklung für Mensch und Natur wird nur dann erreichbar sein, wenn die Menschheit ihre Wirtschafts-, Sozial- und Regierungssys­teme grundlegend reformiert und neu ausrichtet. Gefragt seien demnach Maßnahmen in einem Umfang, wie sie die Menschheit nie zuvor in ihrer Geschichte unternommen habe. Die Idee, dem Schutzgedanken beim globalen Meeresmanagement die oberste Priorität einzuräumen, würde durchaus in den Rahmen einer reformierten und neu orientierten Ocean Governance passen.
8.26 > Verzweifelte Futtersuche: Ein Florida-Manati (Trichechus manatus latirostris) sucht in den Gewässern Floridas unter einem dicken Algenteppich nach fressbaren Seegräsern. Die Algen breiten sich aus, weil Floridas Flüsse immer mehr Dünger und ungeklärte Abwässer in das Meer tragen. Allein in den ersten fünf Monaten 2021 verhungerten 761 Manatis in Florida – das entspricht zehn Prozent der Gesamtpopulation.
Abb. 8.26 Jason Gulley

Oberstes Ziel: die Renaturierung des Meeres

Die Menschheit ist heute mehr denn je auf einen gesunden, produktiven Weltozean angewiesen. Dieser aber befindet sich an einem Scheideweg: Während der Nutzungsdruck des Menschen stetig steigt, nimmt die Vielfalt des Lebens im Meer und damit die Palette der Ozeanleis­tungen kontinuierlich ab. Nach Angaben einiger Wissenschaftler sind bereits ein Drittel bis die Hälfte der empfindlichen marinen Lebensräume zerstört, darunter Korallenriffe, Salzmarschen, Mangroven. Große Küstenbereiche leiden unter einer zunehmenden Schadstoffbelas­tung, unter Überdüngung, Sauerstoffarmut und Hitzestress. Die Zahl der vom Aussterben bedrohten Meeresarten steigt. Experten des IUCN haben bislang die Bestandszahlen von mehr als 14 000 Meeresarten begutachtet. Für rund elf Prozent der Arten – also für mehr als 1500 – besteht ein erhöhtes Aussterberisiko. Das heißt, sie wurden als gefährdet, stark gefährdet oder als vom Aussterben bedroht eingestuft.
Um diese Entwicklungen umzukehren, bedarf es zum einen eines Wiederaufbaus von Lebensräumen mit Schlüsselfunktionen für das Meer. Dazu gehören in erster Linie Mangroven, Seegraswiesen, Salzwiesen, Korallenriffe, Kelpwälder und Muschelbänke. Die Zahl entsprechender Restaurationsprojekte steigt weltweit, dennoch reicht ihr Umfang bei Weitem nicht aus, um global Wirkung zu zeigen. Zum anderen gilt es, den menschengemachten Druck auf das Meer zu minimieren. Höchste Priorität haben dabei eine drastische Reduktion der Treibhausgasemissio­nen sowie eine Neuausrichtung der weltweiten Fischerei auf tatsächlich nachhaltige Fang- und Bewirtschaftungsmethoden. Gelingt beides, wären nach Expertenansicht die Voraussetzungen gegeben, dass sich das Leben in den Meeren in den kommenden drei Jahrzehnten wieder erholt.
8.27 und 8.28 > Die Küstenzonen der Meere gehören zu den am stärksten vom Menschen veränderten Lebensräumen der Erde. Experten des Umweltprogramms der Vereinten Nationen führen im Projekt „Ocean + Habitats“ Buch, in welchem Ausmaß Korallenriffe, Mangroven, Salzmarschen und andere elementar wichtige Küstenökosysteme bedroht sind.
Abb. 8.27, 8.28 nach UNEP-WCMC, 2021. Ocean+Habitats, abgerufen im Juli 2021, habitats.oceanplus.org
Abb. 8.29 nach UNEP-WCMC, 2021. Ocean+Habitats, abgerufen im Juli 2021, habitats.oceanplus.org

8.29 > Hunderte Küstenlebewesen werden mittlerweile auf der Roten Liste der gefährdeten Arten geführt. Diese wissenschaftliche Bewertung hilft Verantwortlichen vor Ort zu entscheiden, für welche Arten die Lebensbedingungen am dringendsten verbessert werden müssen.
Die Fachleute sind sich aber auch einig: Es gibt nicht nur die eine Lösung, um dem Ozean zu alter Stärke zu verhelfen. Ganz im Gegenteil. Erfolge werden sich erst dann einstellen, wenn mithilfe einer Vielzahl koordinierter sowie auf die lokalen Bedingungen abgestimmter Maßnahmen:
  1. Lebensräume erhalten und wiederhergestellt werden,
  2. gefährdete Arten geschützt und gesunde Bestände nachhaltig genutzt werden,
  3. Verschmutzungsursachen effektiv bekämpft werden und
  4. der Klimawandel durch die drastische Reduktion menschengemachter Treibhausgasemissionen begrenzt wird.
Dass sich Schutz, Zusammenarbeit und die Wiederherstellung mariner Lebensräume auszahlen, zeigen diverse Beispiele an vielen Orten. Seit die kommerzielle Jagd auf Bartenwale weltweit verboten ist, erholen sich die Populationen der Buckel- und Blauwale. In Vietnam wächst die Fläche der Mangrovenwälder in jenen Küstenregionen, wo die lokale Bevölkerung über deren Nutzung mitentscheiden darf. In Bangladesch konnten Wissenschaftler zeigen, dass neu errichtete Muschelbänke dahinterliegende Salzmarschen bis zu 100 Prozent vor der zerstörerischen Kraft der Wellen schützen und die Küste auf diese Weise stabilisierten.
8.30 > Fischerei und die Jagd auf Wale und andere Meeressäuger waren die ersten Aktivitäten, mit denen der Mensch die Meere stark unter Druck setzte. Schutzabkommen und technologische Fortschritte haben seitdem zumindest den Jagddruck reduziert. Im Zuge der wirtschaftlichen Entwicklung aber sind mit dem Klimawandel und der Meeresverschmutzung zwei neue existenzgefährdende Krisenherde dazugekommen.
Abb. 8.30 nach Duarte et al., 2020

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Im niedersächsischen Teil des Nationalparks Wattenmeer werden auf der Sandbank Kachelotplate von Jahr zu Jahr mehr Kegelrobbenjunge geboren, gerade weil die Robben in dem Nationalpark ausreichend Nahrung und Ruhe finden. Zählten Mitarbeitende im Jahr 2010 noch 40 Jungtiere, erreichte die Geburtenrate im Jahr 2020 einen neuen Rekordstand von 372 Neugeborenen.
Wie nachhaltige Fischerei aussehen kann, zeigen acht kleine Inselstaaten im Westpazifik. Innerhalb von 40 Jahren entwickelten die Mitgliedsnationen des sogenannten Nauru-Abkommens ein gemeinsames Regelwerk, mit dem sie die Thunfischfischerei in ihren nationalen Gewässern mittlerweile erfolgreich und gewinnbringend kontrollieren. Im Mittelpunkt steht dabei eine festgelegte Zahl an Fangtagen für ausländische Fangschiffe, die in einem Bieterverfahren versteigert werden. Zuvor aber führen die Inselstaaten genaue Analysen durch, wie es um die Thunfischbestände steht und wie viele Tonnen Fisch entnommen werden dürfen, ohne die Populationen zu gefährden. Diese Menge wird dann in Fangtage umgerechnet und in das Bieterverfahren eingebracht. Gleichzeitig setzt der Staatenverbund strenge Auflagen durch. Fangschiffe, die Ringwadennetze einsetzen, müssen ­Beobachter an Bord haben, die unter anderem sicherstellen, dass weder Delfine noch Walhaie gefangen werden. Verboten ist zudem der Einsatz verankerter oder aber frei treibender Plattformen, die Thunfische, Marline und andere begehrte Speisefische anlocken und ihren Fang so erleichtern.

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Auf diese Weise gelingt es dem Inselstaatenverbund seit rund zehn Jahren, seine Thunfischbestände vor einer Überfischung durch die großen Fangflotten aus Europa, China, den USA, Japan und Thailand zu schützen und Fischereilizenzeinnahmen von jährlich bis zu 500 Millionen US-Dollar zu generieren. Früher, als noch jeder Mitgliedstaat seine Fischereilizenzen eigenständig vergab, flossen weniger als fünf Prozent des Verkaufswertes der Thunfische in die Staatskasse des Herkunftslandes. Seitdem das Bieterverfahren in Kraft getreten ist, ist dieser Anteil zum Beispiel beim Echten Bonito (Katsuwonus pelamis) auf 25 Prozent gestiegen.
Die vielen lokalen Erfolge zeigen: Werkzeuge und Wissen für ein nachhaltiges Meeresmanagement gibt es mittlerweile in einem ausreichenden Maß. Jetzt gilt es, beides anzuwenden, alle gesellschaftlichen Akteure an diesem Prozess zu beteiligen, die erforderlichen Gelder bereitzustellen sowie das Meer stets im Einklang mit dem Klima und den Menschen zu betrachten. Den Ozean zu schützen, seine Artenvielfalt zu stärken und seine Dienstleistungen nachhaltig zu nutzen, das ist aktiver Klimaschutz. Entsprechende Meeresschutzmaßnahmen aber dürfen zu keinem Zeitpunkt als Ausrede dafür dienen, dass an anderer Stelle emissionsintensive Aktivitäten beibehalten werden. Textende